Kapitel
21

B ei meiner Rückkehr finde ich Hades in einem der geheimen Zimmer, einem mit Staffeleien und strengem Farbgeruch. Er ist so in die Arbeit an einem Gemälde versunken, dass er mein Eintreten gar nicht bemerkt.

Ich zögere, nehme mir einen oder zwei Momente, um unbeobachtet sein konzentriertes Gesicht zu betrachten, wie er die Lippen schürzt, seine starke Hand, die den Pinsel hält und sich so leicht und präzise bewegt. Sein Gesicht ist markant im Profil. Ich hatte nie den Wunsch zu malen, aber plötzlich sehe ich den Reiz – wenn ich diesen Moment einfangen könnte, würde ich es tun.

Ich kann nicht glauben, dass ich Angst vor dem hatte, was er versteckt, und es dann das hier war. Ich fürchtete verborgene Grausamkeit und fand stattdessen Sanftmut.

Ich könnte ihm jahrelang dabei zusehen – diese Stille und die Intensität fesseln mich. Ich fühle mich wie ein Planet, der in einer festen Umlaufbahn gefangen ist.

Zögernd nähere ich mich, ohne mir dessen überhaupt bewusst zu werden.

»Hey«, bringe ich heraus und frage mich, wann Reden zu anstrengend geworden ist.

Hades fährt zusammen, und ohne dass er es merkt, spritzt er sich Farbe auf die Wange.

»Oh, hallo«, sagt er und beeilt sich, alles wegzulegen.

»Ich wollte nicht stören«, sage ich. »Ich kann gehen.«

»Nein, nein, ich … nun, ich wollte gerade sagen, dass ich beim Malen lieber allein bin, aber ich glaube, ich konnte nie etwas anderes ausprobieren. Es könnte nett sein, dabei Gesellschaft zu haben.« Er lächelt fast verlegen und es ist zu viel. Ich bin so an sein dreistes Grinsen gewöhnt. Bei diesem schüchternen Hades, der über Dinge redet, die ihm wirklich wichtig sind, schlägt mein Herz Purzelbäume.

Bevor ich richtig merke, was ich tue, stehe ich vor ihm und wische ihm mit dem Daumen die Farbe von der Wange.

Sofort packt er mein Handgelenk und sieht mich finster an. »Fass mich nicht –«, fängt er an, dann unterbricht er die, wie ich jetzt begreife, instinktive Reaktion.

»Du hattest da Farbe«, erkläre ich und wedele mit den Fingern vor seiner Nase herum, um ihm das Gelb auf meinem Daumen zu zeigen, und vielleicht, um ihn davon abzulenken, wie rot ich geworden bin.

»Oh.« Er hält meine Hand eine Sekunde zu lang, bevor er wieder loslässt. »Entschuldige.«

Will er mich berühren? Hat er deshalb gezögert?

»Ich muss dich etwas fragen«, sage ich schnell, bevor ich völlig vergesse, warum ich eigentlich gekommen bin.

»Ja?« Er zieht eine Augenbraue hoch, und, bei den Moiren, ich stehe immer noch zu dicht vor ihm. Keine Ahnung, wie ich von ihm abrücken soll, ohne dass es total offensichtlich ist.

Ich wische mir die Farbe am Kleid ab und Hades fragende Augenbraue senkt sich erneut zu einem finsteren Blick.

»Ist es nicht schlimm genug, dass du meine Vorhänge trägst, ohne sie auch noch mit Farbe zu beschmieren?«, fragt er.

Die Frage überrascht mich so sehr, dass ich kurz auflache.

»Ich muss dir mitteilen, dass es eigentlich deine Bettlaken sind. Und was kümmert es dich? Bist du jetzt auch ein Schneider?«, frage ich.

Er denkt darüber nach und sein Blick wandert über meinen Körper. Ich weiß, er sieht sich nur das Kleid an, aber könnte das bitte jemand meinem Herzen erklären? Es pocht so schnell und ups  –

Nein.

Definitiv nicht.

Bestimmt ist das normal. Bestimmt würde jede nach Luft ringen, wenn ein Mann sie so ansähe. Vor allem einer, der so unbestreitbar attraktiv ist. Bestimmt würde auch jede seine Berührung an ihrem Handgelenk noch spüren. Und bestimmt könnte keine den Blick abwenden, wenn sie ihn so malen sähe. Das bedeutet überhaupt nichts. Es darf nichts bedeuten. Die ganze Situation ist schon ohne … das kompliziert genug.

Ich wappne mich. Nein. Weil es nicht geht. Und selbst wenn es etwas bedeutet – was es nicht tut! –, werde ich es an diesen dunklen Ort in mir verdrängen, an den ich alle meine unerwünschten Gefühle stopfe, bis sie sich verflüchtigen. Ich werde mich gefühllos machen für diesen Mann.

»Schneidern habe ich nie ausprobiert«, sagt Hades, völlig ahnungslos, welch entsetzliche Richtung meine Gedanken eingeschlagen haben. »Zweifellos würde ich es besser hinkriegen als du. Ich habe schon mit Stoffen gearbeitet, wenn auch nie mit Bettlaken und Leinen.«

»Ich würde es sicher überleben, wenn du andere Stoffe nimmst«, scherze ich, und einen Moment lang denke ich, ich könnte es schaffen, mich erfolgreich aus meiner Gedankenspirale zu winden.

Aber dann sagt er: »Ich müsste ein paar Maße nehmen.« Und ich denke an seine Hände auf meinem Körper, während er das tut. Mir wird schwindelig, als würde das Zimmer in Schieflage geraten; als wären meine Knie weich. Er sieht mir in die Augen, flammende Intensität und ein Hauch von Verlangen, und ich bin mir sicher, dass er dasselbe denkt.

Ich springe zurück und vergesse, dass eine Staffelei mit einer noch feuchten Leinwand hinter mir steht. Ich fluche und versuche, das zusammenklappende Gestell festzuhalten, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, und dieselben Instinkte, die mich haben zurückweichen lassen, bringen mich jetzt dazu, die Hand nach Hades auszustrecken, der nicht aufhört, zu lachen. Ich schaffe es, seine Hand zu verfehlen und direkt nach seinem Gewand zu greifen.

Er packt meine Schultern und richtet mich auf.

»Es tut mir so leid. Ist es –«

»Komplett ruiniert? Definitiv. Aber keine Sorge – das war es wirklich wert.« Er deutet auf mein mit noch mehr Farbe beschmiertes Kleid und auf mich, die ich wahrscheinlich völlig fassungslos aussehe.

Ich lasse seinen Umhang los. »Du bist ein Arsch.«

Seine Hand liegt noch auf meiner Schulter, und es ist mir viel bewusster, als es sollte.

»Und du bist unglaublich ungeschickt. Wissen die Bewerber das?«, witzelt er. »So kriegst du nie einen Ehemann.«

Ich schaffe es, keine Miene zu verziehen, aber mein ganzer Körper ist plötzlich so angespannt, ich könnte beim leichtesten Lufthauch zerbrechen.

Als ich Hades wieder ansehe, betrachtet er mich vorsichtig.

»Deine Mutter sagt auch solche Dinge, oder?«

»Das kannst du überhaupt nicht wissen.«

»Nein, aber langsam glaube ich, ich weiß es doch.« Er hat den Kiefer so fest zusammengebissen, dass ich die angespannten Muskeln in seinem Hals sehe. Ich habe Angst davor, was ich vielleicht tun könnte, wenn ich ihn eine Sekunde länger ansehe.

»Ich …«

»Ich wollte nicht neugierig sein.«

Ich schüttele den Kopf. »Ich bin nicht sicher, ob ich es selbst genug verstehe. Sie ist eine gute Mutter.«

»Vielleicht«, sagt er. »Solange du eine gute Tochter bist.«

Mir stockt der Atem. Das ist es, oder? Dieses Gefühl, das ich ständig habe, hat gar nichts mit meiner Mutter zu tun, sondern damit, dass nichts, was ich tue, jemals gut genug ist und ich einfach nicht die Person bin, die ich ihrer Meinung nach sein soll. Ich kann mich noch so unglücklich machen, indem ich tue, was sie sagt, es ist ihr trotzdem nicht recht.

»Wenn ich eine gute Tochter wäre, wäre ich nicht hier«, entgegne ich. Und eigentlich meine ich das gar nicht – ich habe langsam das Gefühl, mir wäre schon immer vorherbestimmt gewesen, herzukommen – aber ich kann nur so das schlechte Gewissen ausdrücken, das an mir nagt, ein schlechtes Gewissen, das nicht auf logische Argumente und das Gefühl von Zugehörigkeit hören will.

»Persephone –«

»Können wir das lassen?«, unterbreche ich ihn. Ich wünschte, wir könnten zu dem verwirrenden Chaos der Sehnsüchte zurückkehren, weil selbst das immer noch besser ist. »Später vielleicht«, füge ich hinzu, als er aussieht, als würde er etwas einwenden wollen. »Ich hab jetzt nicht die Energie dafür. Außerdem bin ich voller Farbe und muss mich umziehen.«

»Wag es ja nicht«, sagt er. »Ich habe sehr hart an diesem Gemälde gearbeitet. Wenn du es tragen musst, damit es überlebt, dann sei es so.«

Ich lächle nur, weil ich zu schätzen weiß, dass er mich das Thema wechseln lässt. »Wenn du mir keine Kleider machen willst, sag es einfach. Du musst mich nicht als Ausrede deine Kunst tragen lassen.«

Er lacht. »War der Gedanke, ich könnte Kleider für dich entwerfen, so schrecklich, dass du gleich in ein Gemälde springen musstest, um verschont zu bleiben?«

»Würdest du mir denn wirklich etwas nähen?«

»Ich mag Herausforderungen.« Als er mich anblickt, sehe ich das in seinen Augen. »Würdest du mich dafür verurteilen?«

»Natürlich nicht«, sage ich. »Aber ist es das wert? Du weißt, ich ruiniere sowieso jedes Kleidungsstück im Garten.« Und ich werde nicht lange hier sein, um sie zu tragen. Die unausgesprochenen Worte hängen bedeutungsschwer zwischen uns, also fahre ich eilig fort. »Aber wenn du Lust hast, dann mach. Du bist offensichtlich talentiert.«

»Offensichtlich?« Sein dreistes Grinsen ist wieder da, und ich verspüre den plötzlichen Drang, meine Lippen auf seine zu drücken, damit es verschwindet.

Was bei allem Heiligen stimmt nicht mit mir? Meine Mondblutung steht noch nicht an, wobei mein Zyklus hier unten vielleicht durcheinander ist. Habe ich mir in letzter Zeit den Kopf gestoßen? Vielleicht hat mich jemand verhext? Aber ich glaube nicht, dass Hades so was täte, außerdem würde es sicher gegen seinen Schwur bei Styx verstoßen.

Ich kneife die Augen zusammen, als ich ihn aufmerksam betrachte und nach Anzeichen dafür suche, dass er weiß, was für Gedanken sich in meinem Kopf drehen.

Nichts.

»Warum hältst du alles versteckt?«, frage ich stattdessen.

»Was meinst du damit?«

»Warum sind die Gänge so kahl, obwohl du so viele Dinge hast, um sie zu dekorieren?«, erkläre ich.

»Tja.« Er kratzt sich im Nacken, und die Bewegung ist so beiläufig, er kann eigentlich nicht wissen, dass ich praktisch all meine Selbstbeherrschung brauche, um ihm nicht um den Hals zu fallen. »Normalerweise gehen hier ständig Mitglieder des Hofs ein und aus. Sie könnten fragen, woher das alles kommt.«

Ich weiß wirklich wenig über Hades’ Hofstaat. Ich hatte so viele dringendere Sorgen, als ich hier ankam, dass ich ihn komplett aus meinen Gedanken verbannte, sobald er ihn weggeschickt hatte. Aber jetzt denke ich darüber nach. Vater würde seinen Hof niemals für ein paar Wochen wegschicken. Es könnte seinen Einfluss auf die Leute schwächen, ihnen die Gelegenheit geben, eine Rebellion zu planen. Aber Hades hat es getan, ohne auch nur darüber nachzudenken.

»Wo sind sie? Ich habe nur die Menschen und Styx gesehen.«

»Ich bin nicht der Einzige mit einer Abneigung gegen menschliche Erinnerungen«, sagte Hades. »Wegen der Sterblichen und der Styx gilt dies als die weniger beliebte Seite der Unterwelt. Sie wohnen auf der anderen Seite des Acheron.« Der Fluss der Schmerzen, der auf der anderen Seite der Asphodeloswiese fließt. Auf diesem Weg reisen die Seelen in die Unterwelt, also habe ich den Bereich eher gemieden. »Ich kann mir vorstellen, dass sie die freie Zeit genießen.«

Aber das kann nicht ewig so weitergehen. Hades wird sie wiedereinberufen, wenn ich schließlich fort bin.

Wenigstens ist er dann nicht allein.

»Es tut mir leid, dass du sie wegen mir alle wegschicken musstest.«

»Oh, ich bin wirklich unglaublich traurig deswegen. Keine Arbeitsgruppen zur neuesten Krankheit, die die Versorgungskette beeinträchtigt, keine Ausschüsse über nachhaltige Seelensammlung, ich muss ihr Gezänk nicht mehr schlichten … Eine Reihe von nervigen Gottheiten gegen die Göttin der Blumen?«, scherzt er. »Ein ganz schlechter Tausch.«

Ich schüttele den Kopf. »Du bist albern.«

»Schmeichelt dir ein anderer Mann so sehr, dass du nicht damit umgehen kannst? Hat ein anderer um deine Hand angehalten?«

»Nicht das schon wieder.«

»Bitte, sei mein. Schmücke meinen Palast für immer mit deiner Anwesenheit –«

Ich lache, aber mein Herz galoppiert. »Tja, wenn du nicht so ein Blödmann gewesen wärst, als ich angekommen bin …«

Er legt sich die Hand aufs Herz und versucht, gequält auszusehen. »Was war ich nur für ein Narr –«

»Du siehst aus, als hättest du Verstopfung.«

»Hey, ich versuche, dich zu verführen!«

»Gib dir mehr Mühe.« Ich drehe mich weg. Ich glaube nicht, dass ich rot geworden bin, aber ich gehe lieber auf Nummer sicher. »Götter, ich kann mich nicht erinnern, dass du je so gute Laune hattest.«

Er zuckt die Achseln, und da ist wieder die Zurückhaltung, die ich bei ihm mit Ernst verbinde. »Natürlich war es eine Enttäuschung, dass du meinen Antrag abgelehnt hast, aber insgesamt waren die letzten Tage schön.« Er zögert. »Du weißt schon … dass ich mich nicht verstecken musste.«

Ich nicke. Das kann ich absolut verstehen. »Ja, na ja, meine Mutter habe ich sicher nie so herumkommandiert.« Wir sind wieder auf gefährlichem Boden, also rede ich schnell weiter. »Eigentlich wollte ich mit dir über deine Gemälde reden.«

»Ach ja?«

»Ich bin noch dabei, das richtig auszuarbeiten, also …«

»Wenn es leicht wäre, die Hölle zu gestalten, hätte Zeus sicher längst einen geringeren Gott darauf angesetzt und die Lorbeeren eingeheimst.«

»Stimmt. Jedenfalls habe ich mit ein paar Menschen gesprochen, und sie beschreiben Dinge, die ich nie gesehen habe: Berge so hoch, dass sie fast an den Olymp heranreichen, große Seen, deren Ende nicht mit bloßem Auge zu erkennen ist, Wälder und Dörfer und Städte und Wasserfälle und Schnee, der so hell ist, dass er blendet.« Eine Sehnsucht kriecht in meine Stimme, und ich merke es erst, als meine Kehle eng wird.

»Du könntest in den See der Fünf Flüsse blicken.«

»Das ist nicht dasselbe. Und, na ja, ich habe die Blumen für das Paradies fertig, aber alles andere? Ich habe keine Ahnung. Ich kann es mir nicht einmal vorstellen. Ich bin keine Künstlerin, und mir wurde aufgetragen, das Paradies zu entwerfen.«

»Nun, eigentlich hast du es dir selbst aufgetragen«, betont Hades.

Da ich ihn bitte, etwas für mich zu tun, kann ich auf seine spitze Bemerkung nicht mit anderen spitzen Bemerkungen antworten, also ignoriere ich seinen Kommentar.

»Machst du es? Nur einen groben Entwurf, ein paar gemalte Ideen?«

»Was weiß ich schon über das Paradies der Menschen?«, sagt er ablehnend.

So leicht lasse ich ihn nicht davonkommen. »Ich habe deine Kunstwerke gesehen. Ich glaube, du weißt sehr viel mehr über das Paradies, als du preisgibst. Wie hättest du sonst die ganzen Jahre durchgehalten?«

Seine Schultern erstarren, und ich fürchte, ich bin zu weit gegangen.

»Meinetwegen«, lenkt er endlich ein und nickt knapp. »Wenn du mich entschuldigst, werde ich mich zurückziehen und dein Paradies in Angriff nehmen.«