Kapitel
27

I ch heule fast die ganze Nacht in mein Kissen, kriege kaum Luft und wünschte, Kyane wäre da oder sogar meine Mutter, um mich zu trösten. Aber dann denke ich daran, was meine Mutter sagen würde: »O mein Schatz, junge Herzen sind so leicht gewonnen – und so leicht gebrochen. Deshalb suche ich deinen Ehemann aus – um dich vor alldem zu bewahren. Kopf hoch, das nächste Mal überlässt du gleich alles mir.«

Und dann heule ich noch mehr, weil sie vielleicht recht hat. Vielleicht hätte ich nie meinen Gefühlen vertrauen dürfen. Weil ich so verletzt bin und auch noch so viel getrunken hab, denke ich sogar, dass es mir jetzt nicht so schlecht gehen würde, wenn ich nie in die Unterwelt gekommen wäre.

Am nächsten Morgen tut mir der Hals weh und ich hab verquollene Augen.

Ich denke darüber nach, im Bett zu bleiben, aber mein Mund ist so trocken wie noch nie, und das Bedürfnis einen Eimer Wasser in mich reinzuschütten treibt mich ins Esszimmer.

Hades ist schon da.

War irgendwie klar.

Allein bei seinem Anblick hämmert mein Herz erneut, vor allem vor Scham und Angst, dass er noch wütend ist, aber – und ich hasse es, das zuzugeben – zum Teil wegen der erregenden Erinnerung an seine Lippen.

Hat er den Kuss überhaupt erwidert? Ich erinnere mich nicht. Hätte ich das überhaupt gemerkt? Ich habe schließlich nicht viel Erfahrung, nach der ich gehen könnte.

»Guten Morgen«, begrüßt er mich. »Wie fühlst du dich?«

Ich starre ihn an. Das war’s? Ich heule die ganze Nacht, denke, ich hätte unsere Freundschaft zerstört, und spiele im Kopf tausend Mal seine wütende Zurückweisung ab, und er kommt mir mit einer so banalen Begrüßung?

»Wir haben viel getrunken«, fügt er erklärend hinzu.

»Ja«, sage ich und taste nach meinem Stuhl. »Mir geht’s ganz okay. Und dir?«

»Ging mir schon besser.« Er nimmt sein Wasserglas. »Persephone, wir müssen über gestern Nacht reden.«

»Nein, müssen wir nicht«, sage ich, schnappe mir irgendetwas von dem Essen auf dem Tisch und erwische schon wieder die Granatapfelkerne. Diese dämlichen Granatäpfel. »Es tut mir leid. Es kommt nicht wieder vor. Mehr gibt es nicht zu sagen.«

»In Ordnung.«

Bei der ruhigen Sanftmut in seiner Stimme blicke ich auf. Irgendwas an ihm stimmt nicht. Er redet, als hätte er es eingeübt. Ich frage mich, ob ich doch nicht die Einzige war, die die halbe Nacht wach gelegen hat.

»Als wir beschlossen haben, zu heiraten, und die Verlobung so schnell bekannt gegeben haben, haben wir nie wirklich darüber geredet, was das in der Realität bedeutet. Ich weiß, dass wir uns in der Öffentlichkeit verstellen, und ich weiß, du denkst, ich tue dir einen Gefallen, aber so ist es nicht. Ich brauche keine Gegenleistung. Du musst nicht … musst mir nicht gefällig sein oder so. Du schuldest mir nichts. Die Olympier zu verärgern und dich zu beschützen ist mir Belohnung genug.«

Ich zögere, habe keine Ahnung, was ich sagen soll. Na ja, fast keine. Aber »Du Idiot, deshalb habe ich dich gar nicht geküsst!« scheint im Moment nicht die beste Antwort.

Ich sehe noch vor mir, wie er sich von mir gelöst hat – nein, wie er vor mir zurückgewichen ist.

Wie hektisch er aufgestanden ist.

Er konnte seine wütenden Worte nicht schnell genug aussprechen.

Er will mich nicht auf diese Weise.

Kein Problem.

Und jetzt bietet er mir einen Ausweg an, damit es nicht mehr so peinlich ist.

Ich nicke. »Verstanden.«

Hades seufzt. »Gut.«

Er nimmt sich etwas zu essen und wir schweigen eine Weile.

»Und?«, fragt er dann.

»Und was?«

»Beleidige mich oder irgendwas. Diese Stille ist komisch«, sagt er.

Ich grinse, obwohl ich mich noch etwas wacklig fühle. »Nun, wir haben gestern festgestellt, dass es als Flirten zählt, wenn ich dich beleidige, und unter den gegebenen Umständen wäre das wohl kaum angemessen.«

Er lässt die Schultern sinken, als er sich endlich entspannt, ein zögerliches Lächeln auf den Lippen. »Ich glaube, das mit dem Beleidigen gehört einfach zu uns.«

Ich weiß nicht, was ich von diesem Tag erwartet habe, aber jedenfalls nicht diese erbarmungslose Hochzeitsplanerei.

»Hat deine Mutter dich nicht seit deiner Geburt darauf vorbereitet?«, stöhnt Hades mit dem Kopf in den Händen, als Sturm uns erneut bittet, eine Wahl zwischen zwei identisch aussehenden Stoffen zu treffen.

»Machst du so was nicht den ganzen Tag?«, kontere ich.

»Das hier ist keine Kunst.« Er sieht mich an, als hätte er jeden Lebenswillen verloren. »Das ist Verwaltung.«

»Okay.« Ich stehe auf. »Das genügt.«

»Persephone, wir heiraten in fünf Tagen.«

»Ja, und ich muss mich um die Blumen kümmern«, sage ich und drehe mich zu Sturm um. »Hast du Spaß daran?«

»Dreimal darfst du raten.« Sie sieht mich wütend an, die Stoffproben fest in ihren unberührbaren Händen.

»Hab ich mir gedacht. Du kannst gehen.«

Ich kann ihre Erleichterung fast spüren. Sie ist weg, bevor ich meine Meinung ändern kann.

»Persephone«, protestiert Hades.

Ich schüttele den Kopf. »Glaub mir, die meisten Leute, mit denen ich aufgewachsen bin, würden das hier lieben. Ganz bestimmt werden sich ein paar der Sterblichen darum reißen. Ich sorg dafür, dass die alles organisieren.«

Hades zögert. »Ich bin mir nicht sicher, ob das zum Besten ist.«

»Wir werden es prüfen«, sage ich. »Und du bekommst schon noch die Gelegenheit deinen Sinn für übertriebene Dramatik einzubringen.«

Er schnaubt spöttisch. »Entschuldige bitte, hattest du gerade den Nerv, mich dramatisch zu nennen?«

»Schatz«, sage ich, »es gibt eine Gottheit des Dramas, und ich bin mir ziemlich sicher, sie kann dir nicht das Wasser reichen. Ich bin dramatisch, stimmt, aber du auch.«

Er unterdrückt ein Lächeln. »Vielleicht.«

»Also … ich gehe raus, weil ich es hier nicht aushalte und nützlicher bin, wenn ich die Blumen aussuche. Und du kannst das Geschirr für das Festmahl töpfern oder wonach dir sonst der Sinn steht«, schlage ich vor.

Hades’ Lächeln ist so klein und verlegen wie immer, wenn es um seine Kunst geht. All diese Hobbys, die er geschworen hat, geheim zu halten, wegen denen er sich isoliert.

»Ach ja, und ich wollte dich fragen, ob du vorhast, mir ein Hochzeitskleid zu nähen?«

»Nein«, sagt er schnell. »Ich glaube, das ist keine gute Idee.«

»Ich dachte, du liebst Herausforderungen«, necke ich ihn.

Er nimmt die Stoffmuster auf, die wir verglichen haben, und reibt sie aneinander, als wollte er ihre Qualität beurteilen. »Ich denke einfach, dass es komisch wäre«, sagt er, ohne mich anzusehen. »Als würde ich dich so kleiden, wie ich dich sehen will. Als würde ich entscheiden, wie du für mich aussehen sollst.«

Mein Herz klopft bei dem Gedanken, dass er eine Meinung dazu hat. Dass er vielleicht fantasiert, wie ich aussehen könnte …

Ich bringe wieder dieses Grinsen zustande, auf das er mich gestern erst hingewiesen hat. »Wie sehr gehen denn deine Hochzeitsfantasien mit dir durch? Wenn ich entweder in einer Kampftunika oder in Reizwäsche vor dir stehe, gehst du vielleicht zu weit.«

Er lacht. »Das hatte ich noch gar nicht in Betracht gezogen.« Er sieht mich an, sein schiefes Lächeln ist wieder da. »Wobei …«

Ich schlage ihm auf den Arm. »Benimm dich. Es ist ein Kleid, Hades. Du hast schon mal welche gemacht.«

»Es ist ein Hochzeits kleid.«

»Mach es, bitte«, sage ich und schlinge mir die Arme um den Oberkörper. Ich weiß nicht, warum es mir wichtig ist, aber das ist es. »Ich … will nichts von jemand anderem tragen, wenn ich dich heirate.«

Er runzelt die Stirn, aber er nickt. »Meinetwegen.«

»Danke«, sage ich. »Wenn du mich jetzt entschuldigst, ich muss die Blumendeko planen.«

Ich gehe schnell, bevor er doch noch kneift.

Die Aussicht auf meine Hochzeit sorgt bei meinen sterblichen Freundinnen für ziemliche Aufregung, allerdings eher wegen des Spektakels der Götter, die in die Unterwelt herabsteigen – und der Gelegenheit, mich mit den Gefühlen aufzuziehen, die ich vielleicht doch für Hades empfinde –, nicht weil ihnen solche Veranstaltungen wirklich gefallen würden. Larissa meint, in ihrer Heimatstadt hätte der Schwerpunkt bei einer Hochzeit immer auf dem Festmahl gelegen und sie würde gern mit dem Menü helfen. Damaris, die Bäuerin, grinst durchtrieben und sagt, das Wichtigste sei die Gästeliste, weil die Qualität der Geschenke davon abhänge. Und Cora, die frühere Prinzessin von Theben, zieht angewidert die Nase kraus, bevor sie das Thema wechselt und fragt, ob ich Geister ausfindig machen könne, weil sie eine Dichterin aus Lesbos sucht.

Also gehe ich, damit sie noch andere Seelen um Hilfe bitten können, und finde mich an Styx’ Ufer wieder.

»Hallo?«, rufe ich, unsicher, wie ich sie finden soll. Es ist ein langer Fluss.

»Was?«, sagt Styx in einem jammervollen Ton und erscheint sofort vor mir. Sie hat dunkle Ringe unter den Augen – wobei sie ohnehin irgendwie dunkel ist. Ihre hohen Wangenknochen und die langen Wimpern werfen Schatten auf ihr Gesicht. Ihre Haut ist etwas angegraut, und ihre Augen sind so schwarz, dass man die Pupille nicht sieht.

»Was ist los?«, frage ich sie.

»Wahrscheinlich mein Blutalkohol«, stöhnt sie. »Habe ich gestern Abend Pallas geküsst?«

»Ich hab nichts gesehen«, sage ich und erstarre innerlich. Das ist zu nah an dem, worüber ich mit ihr reden will.

»Muss wohl bei der After-Party gewesen sein. Oder war es Thanatos?« Sie drückt sich die Hand an die Stirn.

»Du erinnerst dich nicht mehr, ob der Typ, den du geküsst hast, Flügel hatte?«

»Das ist nicht hilfreich.«

»Also … ich habe Hades geküsst.«

»Was?« Sie sieht mich mit großen Augen an.

»Ja, aber freu dich nicht zu früh. Er war nicht gerade begeistert.« Ich erzähle ihr alles.

»Okay, erstens hat Hades jahrelang seinen Weinkeller vor mir geheim gehalten, und seine magischen Nachfüllfähigkeiten sogar bis jetzt? Dieser Arsch.« Sie zieht eine Grimasse. »Erinnere mich, noch mal darauf zurückzukommen, wenn mir beim Aussprechen des Wortes ›Wein‹ nicht schlecht wird. Zweitens hat diese Reaktion überhaupt nichts zu bedeuten. Du kannst ihn nicht einfach küssen, wenn ihr betrunken seid, und dann erwarten, dass er dir seine Liebe gesteht.«

»Es hat durchaus etwas zu bedeuten. Und zwar, dass er nur mit mir befreundet sein will und nicht mehr«, sage ich fest. »Das ist okay. Das ist absolut okay. Ich habe keine Zeit, deswegen traurig zu sein.«

»Es ist in Ordnung, wegen unerwiderter Gefühle traurig zu sein«, sagt sie.

»Nicht, wenn man die Person, für die man besagte Gefühle empfindet, in fünf Tagen heiratet und Sterbliche suchen muss, die die Hochzeit planen.«

»Ich finde es wirklich nicht gut, wie du deine Emotionen ignorierst, nur weil du beschäftigt bist.«

Ich zucke die Achseln. »Ja, okay, versprochen, wenn ich erst verheiratet bin, krieg ich einen vernünftigen Heulkrampf.«

Sie zieht mich in ihre Arme. »Worum soll ich mich kümmern? Ich übernehme Brautjungfernaufgaben oder was auch immer – ich sollte wohl helfen.«

Gemeinsam finden wir ein paar Leute. Eine Kreterin erzählt, dass sie fünf Töchter verheiratet und die Stadt nach jeder Hochzeit noch jahrelang davon geredet hat. Sie ist so organisiert, dass es meine kühnsten Erwartungen übertrifft, und teilt allen Aufgaben zu. Da ist ein junger Mann aus Kos mit einem fantastischen Blick für Beleuchtung und eine alte Frau mit einem Sinn für Glamour.

Aber am Ende genügt es trotzdem nicht.

Hades und ich brauchen nicht nur eine Hochzeit. Wir brauchen die Hochzeit.

Hier geht es nicht nur darum, Zeus zu ärgern. Hades wurde von Kronos ausgewählt. Durch die Heirat mit ihm lehne ich die Anträge von vier von zwölf Ratsmitgliedern ab. Zeus, der König der Götter und Herrscher des Olymps, und Poseidon, König des Meeres, sind bereits verheiratet. Dies ist die letzte königliche Hochzeit, die man unter den Göttern sehen wird.

Ich wusste von Anfang an, dass wir beide dramatisch sind, aber wie sich herausstellt, sind wir noch dramatischer, als ich dachte. Hades brüllt herum, dass alles mit Schädeln und Zerberus und anderen Symbolen seines Reichs geschmückt werden soll.

»Was sagtest du noch gleich über mich, Schatz? Irgendwas mit einem Hund, der sein Territorium markiert?«, frage ich trocken.

»Möchtest du ein Kleid aus Sackleinen tragen?«, erwidert er und überblickt aufgeregt den Innenhof des Palasts, in dem wir heiraten werden.

Unter den Bouquets, die ich binde, sind einige meiner besten Arbeiten. Aus der Entfernung stechen Asphodelos und Styx aus den Sträußen heraus, aber aus der Nähe glänzen tausend winzige Blüten in allen Regenbogenfarben wie Öltropfen. Ich lasse den ganzen Innenhof erblühen, bedecke die Wände mit Efeu, lasse Bäume wachsen, die Schatten spenden.

Hades macht gläserne Kronleuchter, komplizierte Tafelaufsätze und riesige Marmorstatuen. Letztgenannte behänge ich mit Girlanden.

Und bei dem hektischen Gerenne von einer Aufgabe zur nächsten ist der erste Tag der Hochzeit plötzlich da.