D er zweite Tag der Hochzeit, der Gamos, ist am wichtigsten. Erstens ist es der Tag der eigentlichen Zeremonie. Und, noch viel wichtiger, es ist der Tag, an dem die Götter der anderen Höfe anreisen.
Der Morgen beginnt damit, dass Sturm mir eine dampfende Tasse Minztee auf mein Zimmer bringt. Ich werde fasten, bis Hades und ich bei der Zeremonie in den Apfel beißen.
Das hat auch etwas Gutes, mir ist nämlich schon ohne Essen schlecht.
Gar nicht mal so sehr, weil ich heute heirate.
Sondern weil ich heute meine Eltern sehe.
Hermes sagt, Zeus war damit einverstanden, es als seine Idee auszugeben. Offensichtlich ist er durch den Olymp stolziert und hat sich darüber ins Fäustchen gelacht, wie er Demeter manipuliert hat, um Hades meine Hand zu sichern. Und wenn ihm das irgendjemand glauben soll, wird Zeus heute bei der Feier sein.
Und Mutter … ich weiß nicht, was sie tun wird. Hades’ Ermordung planen? Ihrem Unwillen mit einer Szene Luft machen? Wird sie schreien und herumbrüllen, da ihre Magie wegen der Wintersonnenwende beschränkt ist? Es klingt nicht wirklich nach ihr. Aber ich würde es ihr zutrauen.
Als ich die Tasse ausgetrunken habe, frage ich mich, ob ein Orakel die Blätter der Minze auch so lesen könnte wie die von schwarzem Tee. Wenn ja, blicke ich nicht hoffnungsvoll in die Zukunft.
Ich starre immer noch in die Tasse, als unerwartet meine sterblichen Gefährtinnen hereinplatzen.
Larissa zieht mich an sich und fragt, wie ich mich fühle, wickelt sich mein noch langes Haar um einen Finger und nickt anerkennend. Damaris fragt, wo mein Kleid ist, und ist unglaublich erleichtert, als ich ihr sage, dass Hades sich darum gekümmert hat. Und als die Angst vor dem, was vor mir liegt – mehr Leute und Götter, als ich je im Leben gesehen habe –, mich fast überwältigt, lenkt Cora mich mit einer ausgelassenen Geschichte über die Dichterin ab, die sie endlich finden konnte. Wir lächeln alle wissend, als sie jedes Mal errötet, wenn sie ihren Namen sagt.
Styx kommt eine Stunde später, hält sich an einem Kelch mit Nektar fest und wirft den Sterblichen, die unentwegt plappern, wütende Blicke zu. Ich liebe das Geschnatter; es fühlt sich an wie zu Hause, wo nie nur eine oder zwei Nymphen da waren, sondern zwanzig oder dreißig. Aber Styx sagt, vor zwölf ist es ihr einfach zu viel.
Sturm kommt mit Kosmetik und betrachtet finster die Toilettenartikel, die schon auf dem Bett herumliegen. Ich erwarte, dass sie verschwindet, sobald sie alles übergeben hat – sie bleibt nie lang –, aber sie steht an der Wand herum. Bald machen sie und Styx abfällige Bemerkungen über die ganze Sache, und dass Hades nicht solchen Aufwand betreiben würde, um vor den Göttern gut auszusehen. Sie verstehen nicht, dass es eher eine Rüstung ist oder eine Verkleidung.
Aber die Sterblichen schon. Sie schleppen mich in die Bäder, übergießen mich mit Rosenwasser, massieren mir Hibiskusschaum und Freesienseife in die Haare. Nachdem das Wasser seine wundersame Wirkung getan hat und ich so rein bin, wie die Erfinder dieser Zeremonie beabsichtigt hatten, reibt Damaris mir die Haare mit Olivenöl ein, damit sie glänzen, Larissa bestäubt meine Haut mit Muschelschalenpulver, damit sie schimmert, und Cora besprüht mich mit Lilien- und Gardenienduft. Sturm reicht Styx die Blumen, damit sie sie mir in die Locken stecken kann, allerdings schummelt sie viel zu viele von den Styx-Blüten hinein und schmollt jedes Mal, wenn ich ihr sage, dass sie auch andere nehmen soll.
Es ist nicht wie mit Kyane und den Nymphen, aber es ist okay.
Und als ich in mein Zimmer zurückgehe, wartet ein Kleid auf mich.
Meine Begleiterinnen erstarren bei dem Anblick.
Ich hatte keine Ahnung, dass Spitze so weich sein kann, dass ein Stoff so leicht aussehen kann wie Frost auf Gras, selbst wenn er nur achtlos aufs Bett geworfen wurde. Ich halte das Kleid hoch, und es entfaltet sich wie herabfließendes Wasser – flüssiges Silber, das schimmernd das Licht einfängt.
»Persephone«, haucht Cora. »Ich war eine richtige Prinzessin und selbst ich … Bei den Moiren.«
»Wo hat er das herbekommen?«, fragt Damaris. Sturm sieht sie argwöhnisch an, bereit, sie in einen verborgenen Winkel des Reichs zu entführen, falls sie es sich zusammenreimt. »Gibt es eine Göttin der Mode, von der uns Sterblichen niemand etwas gesagt hat? Ich hätte ihr alles geopfert für eine solche Arbeit.«
Selbst Styx hat große Augen bekommen. Wahrscheinlich ist es etwas anderes, von Hades’ Talent zu wissen, als es selbst zu sehen.
Obwohl es vorher schon schön war, ist es nichts verglichen damit, wie es sich dem weichen Kuss einer Sommerbrise gleich auf meine Haut legt. Hades hat einen Stoff verwendet, den ich nie zuvor gesehen habe – er ist so locker gewebt, er wäre durchsichtig, wäre keine Spitze darübergelegt. Der Rock dreht sich. Er ist so kunstvoll geschnitten, schmiegt sich an meinen Körper und wirbelt um meine Füße. So viel Bewegungsfreiheit, die Mutter mir niemals gegeben hätte. Anstelle von Ärmeln hat Hades Perlen so dicht aneinandergestickt, dass sie Kappen über den Schultern formen, und der Saum ist mit spiralförmigen Mustern bestickt.
Ich denke daran, wie er sagte, an Stickerei habe er nie besondere Freude gehabt, und werde rot.
Ich danke den Sterblichen und sage ihnen, ich würde ihnen bei der ersten Gelegenheit alles erzählen. Ich hatte sie zur Zeremonie eingeladen, aber beim Gedanken an die vielen Götter sind sie blass geworden und haben sich höflich entschuldigt.
Styx sagt, sie müsse sich selbst langsam fertig machen, weil sie für Pallas oder Thanatos oder wen auch immer sie geküsst hat, heiß aussehen will.
»Sturm«, frage ich, als alle fort sind. »Wo ist Hades?«
Sie schüttelt den Kopf. »Zuletzt habe ich ihn vor Stunden gesehen, als er mich gebeten hat, deine Sterblichen und die Flussgöttin zu holen.«
»Er hat dich gebeten, das zu tun?« Ein Lächeln schleicht über mein Gesicht, und ich lasse es zu – heute ist alles erlaubt, was nach »errötender Braut« aussieht.
»Ja, er vertraut mir sehr viele wichtige Aufgaben an.« Sie bleibt noch für ein letztes Augenrollen, bevor sie geht, um die Gedecke zu überprüfen. Ich suche Hades.
Er ist in einem seiner Ateliers, umgeben von breiten Bahnen von metallisch glänzendem Stoff. Ich kann sehen, welche Mühe er in das Kleid gesteckt hat, um das ich ihn gebeten habe.
»Danke«, sage ich. »Es ist perfekt.«
Er dreht sich um, und ich bin mir nicht sicher, was ich erwartet habe – vielleicht noch mal so einen Schock wie am Abend unserer Verlobungsbekanntmachung, als er mich auf der Treppe erblickte.
Stattdessen erstarren seine Gesichtszüge und nach einem Moment schluckt er.
»Ich dachte, ich soll dich vor der Zeremonie eigentlich nicht sehen«, sagt er.
»Warum«, frage ich und runzele die Stirn.
»Es ist Tradition.«
Ich zucke die Achseln. »Nie davon gehört. Jedenfalls sagst du ja dauernd, ich mache dir nicht genügend Komplimente, deshalb solltest du dir das wahrscheinlich aufschreiben. Das ist das unglaublichste Kleid, Hades! Meine Freundinnen konnten kaum an sich halten. Wie kannst du nur so talentiert sein?«
Hades zuckt die Achseln, aber seine Augen leuchten – tiefe braune Seen, die schimmern wie Wasser in der Sonne.
»Es ist nicht schwer, wenn man die richtige Muse hat.«
»Ahh! Du übst schon, ja?«, ziehe ich ihn auf.
Er blinzelt und eine Sekunde später sehe ich ein träges Grinsen in seinem Gesicht. »Willst du damit andeuten, dass ich Übung brauche?«
»Um mein Niveau zu erreichen? Absolut«, sage ich, aber mein Grinsen verblasst, als ich sehe, woran er arbeitet. »Ist das …«
Ich bin mir nicht sicher, warum ich es erst jetzt sehe. Die Blumen ziehen an mir, fast schreien sie in meinem Kopf, dass ich hinsehen soll.
»Dein Schleier, ja«, sagt er.
Die Anakalypteria, wenn der Schleier gehoben wird, sind der wichtigste Teil der Hochzeitszeremonie.
Hades hat jede einzelne Lücke in der Spitze des Schleiers mit Blumen gefüllt, sodass kaum Stoff zu sehen ist. Ich werde von Kopf bis Fuß mit Blumen bedeckt sein, und ich lache, als ich sehe, welche es sind: Gänseblümchen, Freesien und Gardenien. Reinheit . Genau die Blumen, die ich Kyane nannte, als sie mich fragte, welche ich pflücken wollte, bevor ich in die Unterwelt gesprungen bin. Was für ein wunderbarer Zufall und zugleich so eine herrliche Provokation: eine heimliche Anspielung auf die Tatsache, dass ich die ganze Zeit freiwillig hier bin.
»Sie sind von zu Hause«, sage ich ruhig und hebe sanft eine Ecke des Schleiers an. In den Blumen summt Sizilien, die Wiesen, über die ich gelaufen bin, der Boden, in dem ich gegraben habe.
»Nun, ja.« Hades kratzt sich am Nacken und blickt zu etwas auf der anderen Seite des Zimmers. »Ich konnte deine Freundinnen nicht zu dir bringen. Also habe ich ihnen eine Nachricht zukommen lassen und sie haben dir den Schleier gemacht.«
»Du … die Nymphen haben ihn gemacht?« Ich sehe ihn an, als würde ich ihn zum ersten Mal sehen, als er verlegen dasteht und bloß nicht zugibt, wie viel Gedanken er sich gemacht hat. Mir bricht das Herz, weil ich ihn nicht an mich ziehen kann, ihm nicht zeigen kann, wie viel es mir bedeutet.
Er liebt mich nicht auf diese Weise, und in solchen Momenten wünschte ich, er würde aufhören, sich so zu verhalten, als täte er es.
Stattdessen denke ich an meine Freundinnen, an die Liebe, die sie in diesen Schleier eingenäht haben.
»Es war nicht ganz leicht, sie zu überzeugen«, sagt Hades. »Ich habe Kyane eine Nachricht geschickt. Offensichtlich dachte sie, ich hätte dich entführt, also war sie zuerst nicht besonders glücklich.«
»Wie hast du sie überredet?«
Hades grinst. »Ich war einfach so charmant wie immer.« Als ich skeptisch eine Augenbraue hochziehe, lacht er. »Mir hätten sie vielleicht nicht geglaubt, meine Liebe, aber sie kennen dich ziemlich gut. Ich habe ihnen ein, zwei Geschichten erzählt, wie du in mein Reich gestürmt bist, es mit Blumen bedeckt und Veränderungen gefordert hast. Am Ende wussten sie, dass ich mir das nicht ausgedacht hatte.«
Vielleicht habe ich noch nie so breit gelächelt. »Ich kann es nicht glauben. Ich danke dir so sehr.«
»Nun, die Hochzeit sollte der glücklichste Tag deines Lebens sein«, sagt er. »Wenn du schon nicht den Bräutigam bekommst, den du verdienst, dann wenigstens das richtige Kleid.«
»Du willst nur noch mehr Komplimente hören und das geht gar nicht. Du weißt genau, dass ich deine Gesellschaft ganz erträglich finde«, scherze ich, und Hades täuscht einen verletzten Blick vor.
»Da ist noch was: Kyane hat verlangt, dass du sie besuchst, sobald du kannst.«
»Perfekt. Das hatte ich sowieso vor.«
Hades nickt. »Ich mache mich besser auch fertig. Die Gäste überqueren sicher schon den Acheron.«
»Okay«, sage ich. »Ich denke, wir sehen uns, wenn wir heiraten.«
Hades strahlt. »Bis gleich, meine künftige Königin.«
Der Schleier ist schwer durch das Gewicht der Blumen, aber ich fühle mich umhüllt von der Liebe, mit der sie eingeflochten wurden. Kyane ist hier bei mir, und ich weiß, sie wird irgendwo an ihrem Fluss an mich denken. Die Nymphen reden bestimmt gerade über mich und spekulieren kichernd, ob ich glücklich bin.
Es reicht beinahe, dass ich den nächsten Schritt nach vorn gehe, aber ich spüre die Götter hinter den Türen, und das Kribbeln im Nacken sagt mir, dass ich besser weglaufen sollte.
Dann bin ich plötzlich ruhig.
Alles ist gut. Ich bin in Sicherheit.
Aber Hades nicht. Er ist hinter diesen Türen und mein Vater auch.
Und wenn ich Hades nicht heirate, wird Vater ihm unaussprechliche Dinge antun. Seine Drohung, ihn in Stücke zu reißen, ist keine Übertreibung. Er hat schon viel Schlimmeres getan. Ich wäre nicht überrascht, von tiefen Gruben in allen vier Himmelsrichtungen zu erfahren, nur geschaffen, um Hades’ Einzelteile hineinzuwerfen.
Meine Finger krallen sich um meinen Strauß und mit Zorn in den Adern gehe ich den nächsten Schritt nach vorn.
Es sollte hier eigentlich um Begehren gehen. Um Liebe. Es sollte eine freie Entscheidung sein.
Aber Hochzeiten sind Verkaufsvorgänge. Es geht dabei nur um Kontrolle. Ich kann nicht die Einzige sein, für die der Gedanke immer schon ein Albtraum war.
Also heirate ich diesen Mann.
Ich begehre ihn. Ich liebe ihn. Ich habe mich für ihn entschieden.
Ich liebe dieses Reich. Und ich habe mich für diese Leute entschieden.
Aber das ist egal.
Denn am meisten begehre ich Macht.
Also gehe ich wieder einen Schritt nach vorn.
Ich werde Hades heiraten und mir nehmen, was mir zusteht. Ich werde die Toten belohnen und bestrafen, aber mehr noch werde ich eine Inspiration sein und sie das Fürchten lehren, bis die Sterblichen an der Oberfläche es endlich merken. Das kann Generationen dauern, aber die Menschen werden meinen Vater nicht länger lieben oder fürchten – sie werden über ihn lachen, ihn verachten wegen seiner mangelnden Selbstbeherrschung. Sie werden sich von den Göttern abwenden und ihre eigenen Wege finden.
Und all das wegen mir .
Ich gehe noch einen Schritt.
Mit der Zeit wird man meinen Namen mehr verehren als den meines Vaters und die Sterblichen werden vor allem anderen die Freiheit schätzen.
Und wahrscheinlich wird es trotzdem immer Leute geben, die anderen das Leben schwer machen.
Aber ich werde immer hier sein, um diesen anderen Zuflucht zu gewähren, und mich entschuldigen, dass ich es nicht früher schon konnte.
Ich gehe noch einen Schritt.
Dann schnippe ich mit den Fingern und die Türen öffnen sich.
Der Innenhof hat sich in ein Paradies verwandelt. Fast will ich mir für das Jenseits der Menschen Notizen machen. Meine Blumen glühen wie Fackeln, ihre Macht pulsiert, umgibt die Gäste, um sie daran zu erinnern, wer ich bin. Und bald werden sie entdecken, dass ich so viel mehr bin.
Trotz der Blumen in meinem Schleier kann ich perfekt sehen. Aber sie sehen mich nicht.
Also starre ich auf dem Weg zum Altar alle dreist an, so viele Götter, die ich seit Jahren nicht gesehen habe. Die Mitglieder meines Hofstaats sind leicht zu erkennen zwischen den Göttern des Olymps. Sie lächeln stolz, genießen es, die Oberhand zu haben, und sehen die Olympier, die unsicher und schief lächelnd herumstehen, von der Seite an.
Ich gehe an Aphrodite vorbei, die mich wütend von oben bis unten ansieht. Sie flüstert Hephaistos etwas zu, zweifellos soll er herausfinden, woher mein Kleid stammt.
Ares blickt mürrisch drein – genau die Sorte Mann, vor der ich geflohen bin. Wenn ich noch ein weiteres Zeichen dafür brauchte, mich richtig entschieden zu haben, dann hat der Gott des Krieges es mir gerade gegeben.
Hestia und Hermes lächeln Seite an Seite, Hestia warm und Hermes mit der verschmitzten Freude darüber, als Einziger den Witz zu verstehen.
Dionysos hält sich wie im Theater die Brille vor die Augen. Ich frage mich, ob der Gott des Schauspiels spürt, wie viele Vorstellungen ich schon gegeben habe – und wie er mich in der größten Rolle meines Lebens findet.
Apollon sieht sich unter den Gästen um und sucht wahrscheinlich nach Nymphen statt nach Brautjungfern. Artemis steht neben ihm und spielt verlegen mit einer silbernen Haarklammer in Form eines Blatts, die raffinierter aussähe, wenn nicht ein echtes Blatt danebenhinge.
Athenes Blick ist eisern und kalt wie der Schild an ihrer Seite.
Jetzt werden meine Schritte entschlossener.
Denn dort ist Poseidon, seine Augen ein aufgewühlter Ozean und absolut unlesbar. Ist er wütend, dass Hades sich genommen hat, was er selbst nicht kriegen konnte? Oder freut er sich, dass Zeus die Kontrolle verloren hat?
Hera lächelt heiter, verkörpert die anmutige Harmonie, die sie von einer Hochzeit erwartet.
Und Vater …
Zeus kriegt es ziemlich gut hin, erfreut auszusehen. Er hat die Hände auf dem Rücken verschränkt und betrachtet die Szenerie. Sein Kiefer ist allerdings zu angespannt, die Muskeln seiner Arme zu verkrampft.
Ich grinse und versuche nicht einmal, es zu unterdrücken, weil der Schleier mich perfekt verhüllt.
Allein Zeus zu verärgern wäre die ganze Heirat schon wert.
Neben ihm ist nur ein leerer Platz. Mein Herz macht einen Sprung. Wo ist sie? Ich reiße mich zusammen, so gut ich kann, um nicht in der Menge nach ihr zu suchen. Ich spüre Panik, als wäre ich wieder ein Kind, das sich im Wald verlaufen hat und nach seiner Mutter schreit.
Weil sie nicht hier ist.
Sie ist nicht hier.
Ich habe mir so vieles vorgestellt, so viele schreckliche Streitereien – wie sie Hades anschreit oder mich wegschleift, ohne auf meine Proteste zu hören. Aber gar kein Streit ist so viel schlimmer. Wie kann sie nicht hier sein? Ich will ihr die Wahrheit sagen, ihr zeigen, was ich mit dieser Welt gemacht habe, ihr Hades vorstellen und erzählen, was er alles für mich getan hat. Aber sie ist nicht gekommen. Meine Mutter ist nicht zu meiner Hochzeit gekommen.
Ich gehe weiter. Der Letzte, dem ich mich zuwende, ist Hades.
Fast stolpere ich.
Es ist nicht nur, dass er großartig aussieht, denn natürlich tut er das; seine dunkle Haut strahlt, die Augen leuchten, die Wangenknochen und der Kiefer sind aus etwas Härterem als Marmor gemeißelt. Es ist nicht sein weißes Gewand, das so perfekt geschnitten ist und alles betont, was mir am meisten an ihm gefällt – die kräftigen Schultern, die muskulösen Oberschenkel und die schmalen Hüften. Es ist nicht einmal die Krone, die auf seinem Kopf ruht, das Licht einfängt und mich anzieht, oder der Rauch, der in Wellen von ihm ausgeht, oder die Dunkelheit, die sich an seine Haut schmiegt, übersteigerter als je zuvor, sodass er der Kreatur aus einem Albtraum gleicht.
Es ist sein Blick, das Lächeln, das nicht sichtbar ist und doch seine Lippen umspielt. Wie gebannt er aussieht. Wie gefangen ich mich in seinem Blick fühle.
Mein Herz schlägt so stark und ruhig. Aus dem Augenwinkel sehe ich Aphrodite, die Göttin der Liebe, wie sie abrupt den Kopf hebt und ihre Augen weitet, und ich frage mich, ob sie die Gefühle spürt, die mich durchströmen.
Hinter Hades erheben sich drei Frauen, alle unscheinbar und nur durch ihr Alter zu unterscheiden. Die Moiren. Das Haar der jüngsten ist lang und nicht geschnitten. Sie ist fast noch ein Mädchen, aber etwas an ihr wirkt trotzdem alt. Die mittlere erinnert mich an Mutter, obwohl sie ihr überhaupt nicht ähnlich sieht. Wieder überfällt mich der Gedanke, dass meine Mutter nicht hier ist, um dies zu sehen. Neben der letzten der Moiren würde Hekate jung wirken. Ihre Augen, weiß durch grauen Star, sehen direkt zu mir.
Ich spüre ihre Macht. Sie ziehen alle Blicke an. Hades und ich neigen die Köpfe und die Anwesenden beugen das Knie.
Zeus verbeugt sich – ruckartig und steif.
Es ist klar, dass sich selbst Könige vor dem Schicksal verbeugen müssen, aber ich genieße den Anblick trotzdem.
Ich nehme meinen Platz an Hades’ Seite ein und die Götter um mich herum verschmelzen mit dem Hintergrund. Es sind keine Individuen mehr, sondern ein entferntes Publikum. Ich sehe nur ihn.
Der Wunsch, ihn wirklich und echt zu heiraten, trifft mich so heftig, es ist eher ein Schmerz als eine Sehnsucht. Der Gedanke erschreckt mich nicht so, wie er sollte; es ist nur eine weitere Welle der Traurigkeit, die in mir pulsiert. Ich wusste, dass ich ihn mag, und ich wusste, dass ich mehr will. Aber es wäre so typisch für mich, erst zu merken, wie sehr, wenn ich neben ihm stehe und ihn heirate.
Hades lächelt leicht, nickt sittsam wie ein erfreuter Monarch. Aber sein Blick? Solches Glück erstrahlt in seinen Augen! Jeder kann sehen, dass er wirklich glücklich ist.
Ich gebe mich geschlagen. Ich kann nicht besser lügen als er. Diese Vorstellung übertrifft wirklich alles.
Klotho, die jüngste Moira, tritt vor. Sie trägt ein weißes Kleid von der Art, wie es für mich ab jetzt nicht länger schicklich ist.
Das ist mir ziemlich egal. Ich habe sie sowieso immer nur schmutzig gemacht.
»König Hades.« Ihre Stimme hallt klar wie eine Glocke durch den Innenhof. »Du darfst den Schleier der Braut heben.«
Mein Atem stockt. Es ist so weit. Ich dachte, es würde mehr Vorlauf geben, mehr Zeremonie.
Hades nimmt das Ende des Spitzenschleiers. Seine Finger berühren meine und tausend Schauder überlaufen meine Haut. Von so vielen Leuten umringt zu sein, macht jeden Blick und jede Geste irgendwie bedeutungsvoll.
Seine Hände zittern, als er den Schleier hebt.
Ich setze einen bewundernden Gesichtsausdruck auf, entschlossen, nichts von der Angst oder dem Kummer preiszugeben, die ich empfinde.
Der Schleier fällt zurück und alle um uns herum schnappen nach Luft.
»Sie ist wunderschön …«
»Bei den Moiren …«
»Aber ihr Haar – sie hat es nicht geschnitten …«
Das Getuschel greift nach mir, aber ich ignoriere es. Ich sehe Hades in die Augen, bevor ich den Kopf hebe oder er seinen senkt, genau wie wir es geplant haben – ein perfektes Zögern, das angespannte Knistern in der Luft und dann der Moment, in dem sich unsere Lippen berühren. Alles auf die Sekunde genau geplant, um die Rufe hervorzulocken, die um uns herum ertönen.
Ich bewege meine Lippen methodisch an seinen. Ja, seine Lippen sind weich, und so gern würde ich mich dem, was wir tun, ganz hingeben. Aber es geht nicht.
Das könnte ich ihm nicht antun – einen Kuss auszunutzen, der für die Zeremonie notwendig ist, um mir einen Kuss vorzustellen, der etwas bedeutet. Ich denke an den Kuss am See, in den ich all meine Gefühle gelegt habe. Jetzt konzentriere ich mich auf die Täuschung, die murmelnden Götter und darauf, den Kopf so zu neigen, dass alle es sehen. Innerlich ist da nichts.
Aber dann füllt sein Atem meine Lungen, und ich löse mich von ihm, die unerwartete Intimität reißt an den Ketten, mit denen ich meine Gefühle gefesselt habe.
Hades blinzelt verwirrt, und ich zwinge mich, zu lächeln, senke den Kopf, als würde ich mich schämen, während die Menge jubelt.
Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwer sein würde, das vorzutäuschen. Müsste es nicht leicht sein, etwas zu spielen, wenn man gar nicht spielt? Aber ich habe mich in so viele Schichten der Täuschung gehüllt, dass alles Wahre erstickt ist.
Die mittlere Moira, Lachesis, tritt vor, als Klotho wieder mit dem Hintergrund verschmilzt. Lachesis hält einen Apfel in den ausgestreckten Händen. Er hat etwas Böses an sich, wie er so rot in den Händen des Schicksals leuchtet. Etwas, das mich zögern lässt, ihn ihr abzunehmen. Normalerweise nimmt der Mann ihn zuerst – Hades und ich waren uns einig über diese so einfache kleine Rebellion.
Ich schnappe mir den Apfel, bevor ich es mir anders überlegen kann, beiße in die knackige Frucht und spüre die Säure auf der Zunge, bevor ich das erste Raunen höre.
Dann halte ich Hades den Apfel hin. Er lächelt sein amüsiertes, spöttisches Lächeln und beißt nicht in die andere Seite des Apfels, wie es Brauch ist, sondern direkt neben mir. Seine Lippen berühren die Schale, wo meine gerade waren.
Ich kriege weiche Knie.
Mir ist nicht ganz klar, warum ich wegen dieser winzigen Kleinigkeit Schmetterlinge im Bauch habe, während unser Kuss zwar nicht nichts, aber doch fast nichts in der Richtung bewirkte. Aber so ist es nun mal.
Und ich bin nicht die Einzige. Die Musen fächeln sich in der Menge Luft zu.
Wenn ich schon einen Schein-Ehemann haben muss, ist es sicher von Vorteil, dass er so attraktiv ist.
Die Krone tut auch nicht weh.
Er gibt Lachesis den Apfel zurück und sie steckt ihn in eine Tasche. Ich will gar nicht wissen, für was für Beschwörungen er benutzt werden wird.
Zuletzt tritt Atropos, die dritte Moira, vor, eine Loutrophore in den runzligen Händen. Wasser schwappt bei jedem Schritt in dem Gefäß.
Hades nimmt meine Hand und wir knien vor ihr. Ich spüre den kalten Stein durch den dünnen Stoff meines Kleids und mir tun die Knie weh.
Ich erschrecke, als das Wasser mich trifft. Mein Schleier wird feucht, und ein paar Tropfen bleiben in meinen Haaren hängen, aber es wird nicht viel verschüttet, bevor der dünne Strahl zu Hades weiterwandert. Sein weißes Gewand wird durchsichtig, wo es nass wird – ein Schlüsselbein drückt sich durch, Muskelstränge auf seinem Bauch, die ich nachzeichnen will.
Plötzlich kommt kein Wasser mehr und wir stehen auf.
Atropos tritt zu ihren Schwestern zurück.
Mein Herz klopft, und ich sehe Hades an, unsere Hände sind noch verschränkt, mit der anderen Hand halte ich den Strauß, als wäre es das Einzige auf der Welt, was Sinn ergibt.
Es ist vorbei. Wir sind verheiratet.
Schnell gewinne ich die Fassung zurück. »Ehemann.« Ich grinse und kann den Blick nicht von den Wassertropfen abwenden, die in seinen Wimpern hängen.
Hades zieht mich an sich. »Ehefrau.« Er sagt das mit solcher Freude, ich kann mir plötzlich nicht mehr vorstellen, dass man es auch anders sagen kann.
Um uns herum bricht Jubel aus.