K ette sofort meine Frau los, sonst hast du die ganze Hölle gegen dich«, knurrt Hades, seine Augen sind komplett schwarz, der Rauch, der von ihm ausgeht, formt sich zu spitzen Dornen.
Mutter wendet sich von mir ab und zittert. »Bitte, Zeus, das ist keine Lösung. Sie kann uns besuchen. Es wird funktionieren.«
Ich drehe mich zu meinem Vater um, der mich mit einem Hass betrachtet, den er wahrscheinlich nicht einmal für die Titanen empfindet.
»Athene!«, schreit er, und die Göttin kommt hereingerannt. Sie muss alles mit angesehen und gewartet haben, dass er sie ruft. Ich erinnere mich an meine Hochzeit, wie sie die Entscheidung lobte, gleichzeitig mit den Männern zu essen, und auch, dass ich mir die Haare nicht abgeschnitten habe. Ich weiß noch, wie sie uns früher auf Mutters Insel besucht hat. Sie wollte mich immer Dinge lehren, die Mutter nicht wichtig fand. »Auch Mädchen sollten schlau sein dürfen« , sagte sie. Die meisten Frauen haben mir beigebracht, Männern aus dem Weg zu gehen, aber Athene hat mir gezeigt, wie man sich wehrt. Sie war immer eine meiner Lieblingsgöttinnen, aber sie ist Weisheit und Krieg auf dem Posten der Beraterin des Königs. Und sie wird alles tun, um ihre Position zu behalten.
Es ist egal, ob sie mir helfen will. Sie wird’s nicht tun. Nicht wenn sie in Zeus’ Gunst steigt, wenn sie sich auf seine Seite stellt.
Ist das seine Masche? Er gibt auserwählten Frauen Macht und sagt dann: »Seht doch, welche Möglichkeiten ihr habt.« Sind wir alle zu sehr damit beschäftigt, uns um die wenigen Posten zu streiten, statt uns gegenseitig zu helfen?
Athene sieht mich nicht einmal an, sie verbeugt sich nur vor meinem Vater.
»Ja, mein König?«
»Nahrung aus der Unterwelt. Was bewirkt sie?«
Ich bin angespannt. Ich weiß, was sie bewirkt, aber sie muss mehr wissen. Und wenn es irgendwo ein Schlupfloch gibt?
Die Wachen, die mich festhalten, lockern ihren Griff ein wenig, als klar wird, dass ich nicht versuche zu fliehen.
»Sie bindet einen an die Unterwelt«, erklärt Athene. »Sterbliche Seelen könnten sich nicht mehr dort wegbewegen.«
»Und unsere?«
»Wir würden eine Anziehung verspüren, der wir nicht widerstehen können. Wahrscheinlich könnte jemand mit Gewalt herausgeholt werden, aber diese Magie ist uralt und ein Teil des Gewebes, an das unsere Mächte geknüpft sind. Würde man an diesem Faden ziehen, würde die Substanz selbst sich auflösen, die uns alle erhält. Niemand würde lange göttlich bleiben – unsere Macht, unsere Unsterblichkeit würde uns entgleiten. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob wir als schwache sterbliche Hüllen überleben würden. Ich glaube, wenn uns diese Art der Macht entrissen wird, könnte es uns vernichten.«
Vater schleudert seinen Blitz auf mich, und ich bin zu verdattert, um auch nur zu schreien. Er saust an meinem Ohr vorbei, versengt meine Haare und kracht in die Wand hinter mir, wo ich Marmor bröckeln und herunterrieseln höre.
»Gut.« Er zeigt die Zähne. »Lasst sie los.«
Ich erwarte irgendeinen grandiosen Schlusssatz – eine Drohung, nicht aus der Reihe zu tanzen, ihn nicht noch einmal zu provozieren. Aber er stolziert einfach aus dem Raum, besiegt und nicht bereit, es zuzugeben.
Athene senkt den Kopf und schenkt mir ein winziges Lächeln, bevor auch sie geht.
Falls es einen Weg gibt, ungeschehen zu machen, was ich getan habe, es umzukehren, dann behält sie es für sich. Sie hat mir geholfen.
Ist das der Anfang? Winzige Taten, wo sie uns möglich sind?
Die Hekatoncheiren nehmen ihre Ketten und hauen ab, sobald Hades sie wütend ansieht. Ich reibe mir die Handgelenke und denke, dass es vielleicht sogar für den Olymp Hoffnung gibt, als meine Mutter sich vor mich stellt.
Wir sehen uns an.
»Ich glaube, wir müssen reden«, sagt sie.
Hades streicht mir über den Arm und ich drücke seine Hand. Ich weiß zu schätzen, dass er mich unterstützen will, aber das muss ich allein regeln.
»Wir treffen uns wieder hier«, sage ich zu ihm.
Mutter führt mich in den Innenhof. Er ist am selben Ort wie in meinem und Hades’ Palast, ist aber nicht so schön. Es gibt keine Blumen, weil der Boden aus wirbelnden Wolken besteht. Stattdessen haben sie Marmorbänke und singende Musen.
Wir setzen uns auf eine Bank und Mutter dreht sich zu mir um.
»Ich will nicht, dass du mich hasst«, sagt sie.
»Du hast so viele Menschen sterben lassen.« Ich kann es immer noch nicht glauben. »Nur damit ich meiner eigenen Schuld nicht ins Auge sehen muss? Komm schon, Mutter, du weißt, dass das –«
»Es war nicht nur das«, sagt sie und sieht sich im Hof um, bevor sie den Kopf schüttelt. »Die Wachen werden mich wohl hinausbegleiten, sobald Zeus sich daran erinnert, dass er mich verbannt hat.«
»Das tut mir leid«, sage ich. Vielleicht hat er sie verbannt, weil sie über die Ursache der Hungersnot gelogen hat, aber schon als sie mich suchte, habe ich gesehen, wie er die Geduld mit ihr verlor.
»Das muss es nicht«, winkt sie ab. »Es werden höchstens ein paar Jahre. Er kann mich nicht aus dem Rat werfen, ohne den anderen zu erklären, wie du alle hereingelegt hast. Wahrscheinlich wird er behaupten, Hades habe dich dazu verleitet, die Kerne zu essen. Dass bloß keiner glaubt, du würdest deine eigenen Entscheidungen treffen.«
Ich schlucke. »Wie meine Flucht in die Hölle.«
Mutter nickt. »Er hat auch dafür gesorgt, dass Hestia nicht in den Rat aufgenommen wird, und ihr Xenia weggenommen. Du hast bewiesen, welche Macht darin steckt, und er kann es einfach nicht ertragen, wenn jemand anders so etwas besitzt. Als die Sterblichen anfingen, ihn Zeus Xenios zu nennen, meinte Hestia, ihr sei egal, zu wem die Macht gehöre, solange es den Leuten Sicherheit gäbe, aber ich glaube, sie wollte nur ihr Gesicht wahren.« Mutter atmet ein und sieht mich mit einem solchen Ernst an, ich bin wie gelähmt. »Wenn alle an deine Macht glauben, wird er umso mehr nach einem Weg suchen, sie dir zu nehmen. Also lass ihn besser seine Lügen darüber verbreiten, wie alles gekommen ist.«
Ich beiße die Zähne zusammen. Ich wollte mich nicht mehr hinter Lügen verstecken.
Aber es ist okay, ich muss nicht mit Vater streiten – weil ich ihn schon auf andere, hinterlistigere Arten bekämpfe.
Mutter seufzt. »Ich muss dir noch etwas gestehen, Persephone. Ich habe dir die Tatsache, dass deine Macht die Hungersnot verursacht, nicht nur wegen deines Gewissens vorenthalten. Dein Vater hat immer nur versucht, dir Macht zu nehmen – das macht er mit allen, die er als potenzielle Bedrohung wahrnimmt, wie Hestias Fall beweist. Manche Götter tun sich hervor und dürfen das, weil sie ihm Zugeständnisse machen, aber du wolltest immer nur Macht für dich selbst. Das macht ihm große Angst. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass er sich selbst darin wiedererkennt. Er weiß ja, wie er an seine Krone gekommen ist. Solange er dachte, ich sei für all die Toten verantwortlich, ist er nicht dahintergekommen, dass du es warst. Allein was du in der Unterwelt erreicht hast, wäre zu viel für ihn. Ich weiß einfach nicht, was er getan hätte, wenn ihm klar geworden wäre, dass du auch auf die Erde Einfluss hast. Und solange du das wahre Ausmaß deiner Macht noch nicht verstanden hattest, dachte ich, auch er würde es nicht herausfinden.«
Ich brauche einen Moment, um das Gewicht ihrer Worte auf mich wirken zu lassen. Natürlich war das der Grund. Sie hat immer nur versucht, mich zu schützen.
Ich wende den Blick ab.
»Du musst damit aufhören«, sage ich. »Ich liebe dich, wirklich, aber bitte hör auf, mich beschützen zu wollen.«
»Das kann ich nicht, mein Kind.«
»Begreifst du es denn nicht? Nicht nur Vater hat mir jedes bisschen Macht abgesprochen. Du hast mein ganzes Leben versucht, mich in diese Schublade zu pressen und … Ich habe das Gefühl, die Welt würde untergehen, wenn ich dich enttäusche. Ich habe schon ein schlechtes Gewissen, wenn ich nur etwas denke, das du nicht gutheißen würdest, als wäre deine Liebe davon abhängig, dass ich –«
»Ich werde dich immer lieben«, sagt sie wild.
»Das weiß ich, vom Verstand her – aber mein Gefühl ?« Ich schüttele den Kopf. »Ich habe die ganze Ewigkeit, und ich bin mir nicht sicher, ob ich jemals verstehe, was ich dir gegenüber empfinde. Aber deine Erwartungen tun mir weh.«
Sie nimmt meine Hand, und ich lasse es zu, weil ich sogar jetzt ein schlechtes Gewissen habe, das alles zu sagen, und weil sie so traurig aussieht.
»Du kannst dich nicht an viel aus deiner Kindheit erinnern, oder?«
Diese Frage habe ich nicht erwartet.
»Was? Was hat das damit zu tun?«
»Deine erste Erinnerung, Persephone. Welche ist das?«
Ich denke nach. »Meine Amphidromia.«
Sie nickt und wischt sich eine Träne ab. »Das habe ich mir gedacht. Wahrscheinlich ist das mein Werk.« Sie atmet tief durch. »Davor, als nur wir zwei auf der Insel waren, habe ich … Es gab keine Schublade, in die ich dich stecken wollte. Ich habe dir immer nur gesagt, dass du alles tun und alles sein könntest, dass du deinen Platz in der Welt schon finden würdest. Und dann kam deine Amphidromia, und mir wurde klar, dass ich ein Mädchen aufzog, dessen Vater ihm niemals erlauben würde so zu leben, wie es wollte. Ich dachte, ich mache es dir leichter, wenn ich dafür sorge, dass du nur noch das Leben willst, das dir offensteht. Ich liebe dich bedingungslos, aber … es tut mir so leid, dass ich dir dieses Gefühl nicht mehr gegeben habe. Das wollte ich nicht. Ich … Vor deiner Amphidromia habe ich immer gesagt, du könntest die ganze Welt haben, wenn du wolltest.«
Meine Augen weiten sich. »Und genau darum habe ich gebeten.«
Und Vater hat mich zum Schweigen gebracht. Er hat klargemacht, dass die Worte meiner Mutter eine Lüge waren und er nie zulassen würde, dass ich etwas Derartiges bekomme.
Aber vielleicht war der Schaden schon angerichtet. Ich habe niemals aufgehört, die Welt zu wollen.
Ich ziehe meine Mutter in eine Umarmung und halte sie fest. Es gibt noch so viel, was wir aufarbeiten müssen, aber ich denke, das kriegen wir hin.
»Ich habe sechs Monate auf der Erde«, sage ich. »Lass uns weiterreden. Und ich glaube, du solltest dich mal mit Hekate unterhalten.« Ich lache. »Ihr habt mehr gemeinsam, als ich dachte. Sie will sich in Eleusis mit mir treffen.«
»Warum?«
Vielleicht ein langfristiger Plan. Nicht so, wie Hekate es will, aber ich bin sicher, ich kann sie zu etwas anderem überreden – vereinte Macht. Macht, die eines Tages vielleicht genügt, um die Welt meines Vaters ohne Krieg zu vernichten.
Aber das ist nur eine Fantasie.
»Das werden wir sehen«, sage ich. »Du kommst also?«
Sie nickt. Und dann, wahrscheinlich aus Gewohnheit, sagt sie: »Du hast Granatapfelsaft auf dem Kleid. Du weißt, dass das Flecken gibt?«
Nachdem ich mich von meiner Mutter verabschiedet habe, gehe ich ins Megaron zurück, und Hades rennt auf mich zu, sobald ich durch die Tür komme. Er nimmt meine Hände, untersucht meine Handgelenke und streicht mir das Haar aus dem Gesicht, um nach Wunden zu suchen.
»Bist du verletzt? Die Ketten oder der Blitz, haben sie –«
»Es geht mir gut.«
»Deine Mutter?«
»Auch sie hat mir keinen Schaden zugefügt.« Er sieht aus, als würde er das weniger glauben, und ich drücke seine Hand. »Es geht mir gut, versprochen. Und ich glaube, Mutter und ich werden uns vertragen.«
Er nickt und sieht sich misstrauisch um. Im Moment sind keine anderen Götter da, aber das kann sich jeden Moment ändern.
»Lass uns vom Olymp verschwinden.«
»Unbedingt. Ich kann diese Wolken nicht ertragen.«
»Dir fehlt Erde?«
»Ja, und ich weiß genau, wo ich hinwill.«
Ich muss warten, bis wir durch die Tore des Olymps gegangen sind und meine Füße wieder Gras berühren. Blumen umringen uns. Dann verschwinden sie und wir stehen auf einer vertrockneten Wiese mit braunen Asphodelosstängeln.
»Das ist …«
»Der Platz, von wo ich dich gerufen habe.«
»Sizilien?«
»Sizilien.«
Die Wiese bauscht sich um mich herum auf, als die Blumen wieder zum Leben erwachen. Ich spüre das Echo, wie das Leben nicht nur auf diese Insel zurückfließt, sondern auf die ganze Erde. Ich könnte hierbleiben, und die Welt würde sich erholen, die Kreise dehnen sich über das Meer zu den Ländern dahinter aus. Das Leben ist wieder da.
Die Nymphen werden nicht glücklich sein, dass ihre Pflanzen gestorben sind. Aber sie sind nicht hier. Die Wiese ist leer. Bestimmt sind sie bei den Dryaden, den Baumnymphen am Rand der Wiese. Oder sie amüsieren sich mit irgendwelchen Sterblichen, was sie immer wollten. Seit ich weg bin und die Schutzzauber auch, haben sich vielleicht welche hierherverirrt. Ich hoffe, sie sind glücklich, egal wo sie gerade sind.
Ich setze mich auf den Boden, der sich für mich geöffnet hat, wo das Loch entstanden ist und ich gesprungen bin.
»Natürlich, warum sollte ich auch Stühle erwarten?« Hades schüttelt den Kopf, als er sich zu mir setzt. Die Dunkelheit, die ihn umgibt, zieht sich zurück, bis nur noch ein feiner Dunst über seiner Haut liegt.
»Du wirst es überleben«, sage ich und nehme seine Hand. »Und bestimmt willst du lieber reden, als dir den Rest der Insel angucken.«
»Du hast dich an die Unterwelt gebunden.«
Ich zucke die Achseln. »Nur für sechs Monate im Jahr.«
»Das heißt, du sitzt den Rest deines Lebens für die Hälfte jedes Jahres in der Unterwelt fest.«
»Klar, dich hab ich für alle Ewigkeit geheiratet, aber mich an die Unterwelt zu binden, war echter Einsatz.«
»Persephone.« Seine Stimme zittert, als könnte sie sich jeden Moment überschlagen. »Das ist etwas anderes. Selbst mir steht frei, die Unterwelt zu verlassen, wenn ich will, aber du wirst dort gefangen sein. Das … Du hast deine Freiheit geopfert.«
»Die Unterwelt ist meine Freiheit.«
»Ich will, dass du dich entscheidest, zu bleiben, nicht dass du dort gefangen bist.«
»Und ich habe mich entschieden, dort gefangen zu sein. Bitte, Hades, wir haben es geschafft. Wir können uns jetzt freuen.«
»Wirklich?«
»Wir haben gewonnen.«
»Es fühlt sich nicht an wie ein Sieg.«
»Weil wir nichts zu trinken haben?«
»Abgesehen davon, dass du deine Freiheit geopfert hast, wirst du mich gleich für sechs Monate verlassen. Du wirst für den Rest unseres Lebens das halbe Jahr fort sein.«
Seine Worte treffen mich ins Herz. Aber wenn ich das nicht als einen Sieg betrachte, nicht das Gute darin sehe, wird es mich fertigmachen. Als ich jetzt rede, versuche ich mich selbst genauso zu überzeugen wie ihn.
»Wir sind Götter. Was ist schon eine Trennung von sechs Monaten im Jahr? Wir haben die Ewigkeit.«
»Wie haben die halbe Ewigkeit.«
Ich streiche mit den Fingern über sein Gesicht, will ihn trösten, will ihn berühren, solange ich noch kann. Er legt seine Hand auf meine und hält sie fest.
»Ich liebe dich, Hades.« Meine Stimme bricht. »Und ich liebe auch die Hölle. Und Blumen. Und diese Insel. Und die Nymphen.«
»Ich nehme an, dass diese Liste noch länger wird.«
»O ja.«
»Gut, Styx wäre nämlich fuchsteufelswild, wenn sie nicht draufstünde.«
Ich stutze und muss lachen, und plötzlich ist klar, dass alles gut werden wird.
Wie könnte es nicht? So wie wir miteinander umgehen – eine peinliche Erklärung, gefolgt von einem furchtbaren Versuch, witzig zu sein; wie wir immer wissen, was der andere hören muss, wie wir uns gerade genug aneinander anlehnen, um zu wissen, dass wir nicht allein sind – das können sie uns nicht nehmen. Und eine zeitweilige Trennung kann das auch nicht.
»Noch wütender, als sie sowieso schon sein wird, weil ich mich nicht verabschiedet habe?«
»Moiren, ich muss dem Hof erzählen, was passiert ist.«
»Alles wird gut, Hades.«
»Ohne dich? Zweifelhaft.«
»Wir haben schon größere Probleme gelöst als sechs Monate getrennt sein.«
»Ich weiß. Aber trotzdem.«
»Ich wollte immer die Welt sehen«, sage ich. Noch kann ich es nicht fühlen. In diesem Moment will ich nur getröstet werden. Aber wenn morgen früh die Sonne aufgeht, werde ich wissen wollen, was hinter dem Horizont liegt. Und ich werde es endlich herausfinden können.
»Ich weiß.« Er seufzt. »Ich weiß, dass das gut ist. Du kannst die Welt erkunden, was du schon immer wolltest. Und nebenbei darfst du auch noch über die Hölle herrschen. Aber ich muss in der Unterwelt bleiben. Ich kann nicht mit dir durch diese Welt wandern – ich würde in fremdes Hoheitsgebiet eindringen.«
»Ich würde dich nicht einmal mitnehmen, wenn du könntest. Du würdest es hassen. Wer sollte auch sonst unser Zuhause regieren?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob die Hölle ohne dich dieser Welt mit dir vorzuziehen ist.«
»Ich werde die Welt erforschen, und du wirst Kunstwerke schaffen, und die Zeit wird wie im Flug vergehen.«
»Du nimmst das so gut auf.«
»Ich nehme es auf die einzig mögliche Art auf. Ich bin gleichzeitig am Boden zerstört und euphorisch, aber weißt du, was ich nicht bin? Besorgt. Ich liebe dich. Mehr gibt es nicht zu sagen. Sechs Monate Trennung werden das nicht ändern.«
»Sechs Monate, Persephone. Du wirst mich nicht einmal besuchen können – und ich werde das sicher auch nicht tun. Zeus könnte einen offenen Krieg anfangen, wenn er mich auf der Erde sieht.«
Ruckartig drehe ich mich zu ihm um – ich hatte das nicht einmal in Betracht gezogen, bis er es gesagt hat. »Genau«, sage ich. »Zeus dürfte dich auf keinen Fall sehen .«
Bei jemand anderem müsste ich deutlicher werden. Aber nicht bei Hades – mein kluger, genialer Mann, der an meiner Seite bleiben kann – weil Zeus ihm einen Gegenstand geschenkt hat, als er noch ein Kind war, einen Helm, der dafür gedacht war, im Krieg unsichtbar den Feind zu belauschen. Und jetzt kann er ihn für die Liebe benutzen. Er kann auf die Erde kommen, wenn ich hier bin, und schweigend meine Hand nehmen. Und obwohl wir nichts sagen können, weil die Olympier es bemerken würden, wenn ich eine unsichtbare Präsenz begrüße, so werden wir doch wissen, dass wir nicht allein sind. Wir werden nicht miteinander reden und uns nicht umarmen können, nicht auf die Art zusammen sein, nach der wir uns sehnen – aber wir werden ein wenig zusammen sein, und das könnte die ganze Sache erträglicher machen.
Hades’ Augen weiten sich, als er es begreift, und endlich lächelt er über unseren Erfolg.
Er pflückt einen Asphodeloszweig und steckt ihn mir hinters Ohr. »Du bist das Beste, was mir je passiert ist.«
»Das ist Zerberus gegenüber nicht fair.«
Er lacht. »Stimmt. Abgesehen von meinem Hund.«
»Nun, ganz ohne Hund muss ich dasselbe sagen. Ich hätte nicht einmal für möglich gehalten, dass jemand wie du existiert. Ich bin so froh, dass ich in die Hölle geflohen bin und dich getroffen habe – und dass du das alles für mich getan hast. Bitte kümmere dich um das Jenseits. Wir haben viel Arbeit hineingesteckt.«
»Das werde ich«, verspricht er. »Persephone … ich danke dir. Danke, dass du einfach in die Unterwelt gekommen bist und Xenia verlangt hast und dich geweigert hast, zu gehen –«
»Das klingt jetzt nicht sehr dankbar, Schatz.«
»Ich gebe mir gerade Mühe, einen dramatischen und tiefgründigen Abschied hinzulegen.«
»Abschied?«, wiederhole ich, als ich aufstehe und ihn mit auf die Füße ziehe. »Äh, nein. Ich fürchte, die Nymphen werden so lange herummeckern, bis sie dich endlich kennenlernen. Du kommst jetzt erst mal mit.«
Er denkt nach. »Zeus wird wenigstens einen Tag schmollen. Er wird nicht einmal bemerken, dass ich hier bin.«
»Eben. Also kannst du meine Familie kennenlernen.«
Er scheint langsam zu begreifen, was das wirklich bedeutet, und seine Augen weiten sich. »Äh, ehrlich gesagt, könnte Zeus mich jeden Moment zerschmettern.«
»Hades.«
»Was? Das ist Furcht einflößend.«
»Du bist der König der Hölle und hast Angst vor einer Handvoll Nymphen?«
»Ja.«
»Gut, dann bist du vorbereitet.«
»Weißt du, wie viel Hin und Her nötig war, um die Nymphen zu überreden, deinen Brautschleier zu machen? Wir werden sechs Monate lang nicht richtig zusammen sein und ich soll so leiden wie bei diesem ersten Mal?«
»Hör auf zu jammern.«
»Warum musste ich mich auch in dich verlieben? Warum konnte ich nicht bei meinen Gemälden und Wandteppichen bleiben!«
»Jemand hat mir mal gesagt, es sei unglaublich leicht, mich zu lieben.« Ich drehe mich zu ihm um, lege ihm die Arme um den Hals und küsse ihn. Wenn ich Luft küsse, würde es den Olympiern wahrscheinlich auffallen – auch wenn sie es vielleicht nach ihren Maßstäben für eine vergleichsweise harmlose Neigung halten würden. Der Helm kann mir eine Bestärkung und Beruhigung bringen, aber nicht das hier. Sechs Monate, ohne ihn zu berühren, fühlt sich eindeutig unmöglich an.
Hades seufzt, als ich ihn loslasse. »Na gut. Du hast mich überzeugt, dass du den Ärger wert bist.«
Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Ganz bestimmt? Es wird nämlich ziemlich viel Ärger werden.«
»Wenn du mich weiter überzeugen willst, bin ich dafür durchaus empfänglich.«
»Dessen bin ich mir sicher, aber so leicht lass ich dich nicht davonkommen.«
»Sechs Monate getrennt«, murmelt er. »Du wirst für den Rest der Ewigkeit jedes einzelne Jahr weggehen müssen.«
»Und ich werde jedes einzelne Jahr zurückkommen.«
Ich hake mich bei ihm unter. Seine Schritte sind schwer, als wir zu meinem früheren Zuhause marschieren, und Hades seufzt, lässt langsam den Gedanken zu, dass dies kein Ende, sondern ein Anfang ist. Weil jede Blume auf unserem Weg erblüht, wüsste ich nicht, was es anderes sein kann.
Als ich zuletzt auf dieser Wiese war, bin ich um mein Leben gerannt. Ich wusste nicht, was ich suchte, und habe definitiv nicht gesucht, was ich gefunden habe: ein Zuhause, ein Ziel. Mich selbst.
Jetzt, mit einer Krone auf dem Kopf und Hades an meiner Seite, ist die Zukunft eine Wiese, die ich erblühen lasse. Ich habe jetzt Macht und noch so viel mehr. Ich habe zwei Reiche, durch die ich wandern kann, mehr Macht, die ich finden muss, und eine Botschaft: all die Geschichten über ein Leben nach dem Tod, all das Geflüster gegen den Olymp.
Es ist nur der Anfang.
Ich werde Götter entthronen.
Ich werde Chaos stiften.