Mittwoch, 25. Juni
Die Zauberblumen stehen im Hexenhäuschen auf der Fensterbank, bewacht von Rupert. Milli hält sich tapfer auf ihrem dünnen Stiel. Zur Sicherheit habe ich ihn mit einem roten Faden am Bleistift festgebunden. Mit der hübschen, roten Schleife sieht Milli so schön aus.
Die Eichhörnchenpflanze hat gestern leider ein paar Triebe und sogar zwei Blütenpuschel verloren. Im Müllsack vom Hausmeister!!! So ein Banause! Aber sie lebt und klammert sich an allem fest, was ihr in die Quere kommt.
An diesem Mittwoch stürmten Anni und ich in der Schule direkt zu Frau Nissen ins Sekretariat.
»Wir wissen jetzt, wo das Zirkuszelt ist!«, rief ich.
Anni ergänzte: »Und die Popcornmaschine.«
»Aha!«, machte Frau Nissen und schob die lilafarbene Brille in ihre roten Locken.
»Du musst bei den Pimpanellis anrufen. Die Zirkusfamilie wohnt auf dem großen Hof beim Flughafen. Da wo die Ponys und Ziegen grasen.«
Frau Nissen zog die Augenbrauen bis unter ihre Stirnlocken. Sie glaubte uns nicht, das sah ich genau. Jetzt klingelte das Telefon auf Frau Nissens Schreibtisch.
»Ab in den Unterricht mit euch«, sagte sie schnell. »Wir brauchen kein Zirkuszelt. Die Lehrerschaft hat gestern beschlossen, dass die Aufführung am Freitag in der Turnhalle stattfinden wird. Da ist genug Platz. Auch für die Akrobaten. Und mit ein paar Luftballons wird es richtig festlich. Wir hatten mit Herrn Kleins Unfall nun schon genug Aufregung!«
Sie wedelte mit der Hand, um uns aus ihrem Sekretariat zu scheuchen. Dann flötete sie mit lieblicher Stimme in den Telefonhörer: »Sekretariat, Nissen am Apparat, was kann ich für Sie tun?«
Ein riesengroßer Wutbär bäumte sich in meinem Bauch auf. Anni zog mich am Arm aus dem Zimmer.
»Tilda«, raunte sie mir im Schulflur ins Ohr. »Du musst dich überhaupt nicht aufregen. Sobald Herr Klein die Bärenstarkessenz bekommen hat, wird er sich um alles kümmern.«
»Hoffentlich«, raunte ich zurück. »Eine Zaubershow in der Turnhalle ist ja wohl einfach nur doof. Und so viele Luftballons kann Frau Nissen überhaupt nicht aufblasen, damit es einigermaßen nach Zirkuszelt aussieht.«
Die Tür zum Besprechungszimmer stand offen. Die anderen Zauberlehrlinge saßen schon am runden Tisch.
Frau Kluge rauschte an uns vorbei in die Zauberwerkstatt. »Annemarie, Matilda! Auf jetzt«, rief sie uns zu. »Wir beginnen!«
Sofie wuchtete einen schwarzen Zauberkasten auf den Besprechungstisch. »Papa hat mich mit dem Zauberkasten in die Schule gefahren. Sonst hätte Tante Vroni das niemals erlaubt«, erzählte Sofie. »Und in seiner Mittagspause muss er mich auch wieder von der Schule abholen.«
»Kann die Tante kein Auto fahren?«, fragte Ferdinand.
»Doch, schon«, erklärte Sofie, »aber weil ihr alles an ihrem Körper weh tut, verlässt sie das Haus überhaupt nicht. Vor allem wegen ihrer müden Beine sitzt sie nur auf dem Sofa rum. Und ich soll immer schön bei ihr sitzen. Damit mir nichts passiert!«
Sofie zog eine Grimasse. Sie tat mir so, so leid. Was war ich froh, dass ich nicht so eine Tante hatte. Und dass Mama nicht in Kur musste.
Aber dann schubste ich alle trüben Gedanken aus meinem Kopf. Denn Sofie öffnete ihren großen Zauberkasten und zeigte uns ganz viel Zauberei: Kartentricks und Würfeltricks und Sachen-verschwinden-lassen-Tricks.
Frau Kluge flitzte immer wieder ins Lehrerzimmer. Und ins Sekretariat. »Es ist bis Samstag noch so viel zu organisieren«, rief sie immer wieder. Und war verschwunden.
Wir Zauberlehrlinge brauchten Frau Kluge sowieso nicht. Weil wir Sofie hatten, die beste Zauberlehrerin aller Zeiten. Neben Herrn Klein, natürlich. Und wir gaben uns wirklich Mühe.
»Puh«, stöhnte Rana, die mit Tom an einem kniffeligen Kartentrick arbeitete. »Das bekommen wir niemals bis Samstag hin.«
»Ist ja wohl klar«, sagte Sofie mit strengem Blick. »Wir müssen jetzt üben wie die Verrückten.«
Und das machten wir auch. Unermüdlich. Immer wieder. Bis zur großen Pause. Da sagte ich zu meinen Zauberkollegen: »Wir treffen uns in fünf Minuten auf dem Schulhof. Hinten in der Ecke. Bei den Büschen. Wir brauchen eure Hilfe in Sachen Herrn Klein. Aber kein Wort zu niemandem!«
»Also, was ist jetzt?«, fragte Tom wenig später.
Die Zaubergruppe saß im Kreis in der hintersten Ecke des Schulhofes. Hier waren wir ungestört. Anni und ich erzählten den anderen von unserem gestrigen Besuch bei Herrn Klein.
»Wenn wir die Zaubershow hinbekommen wollen, müssen jetzt alle helfen«, sagte ich zum Abschluss.
Anni ergänzte: »Vor allem, wenn wir unsere Zaubershow im Zirkuszelt aufführen wollen!«
Rana riss die Augen auf. »Wie denn?«, fragte sie.
»Herr Klein muss wieder auf die Beine kommen«, erklärte ich. »Er braucht Kraft. Zum Beispiel durch leckeres Essen.«
»Eine Kraftbrühe«, ergänzte Anni.
Der stille Sedan aus der Weltklasse sagte: »Meine Mama kocht lecker.«
Und das stimmte. Bei Schulfesten brachte Sedans Mutter immer die leckersten Gerichte mit. Die ich noch nie zuvor gesehen oder gegessen hatte. Und man musste sich immer schnell was auf den Teller laden, weil die Schüsseln ruck, zuck leer waren.
Anni fragte: »Und kann deine Mama was für Herrn Klein kochen? Damit er wieder auf die Beine kommt?«
Sedan nickte heftig. »Mama kocht viel. Das reicht auch für Herrn Klein.«
»Prima!«, sagte ich, und viele Glückskäfer wuselten durch meinen Bauch.
Nur Sofie guckte traurig. »Tante Vroni erlaubt mir niemals, zu Herrn Klein zu fahren. Ich bin raus!«
Ich sagte: »Wir sind auch nicht dabei. Anni und ich müssen heute was total Wichtiges erledigen!« Und das stimmte. Schließlich mussten wir die Essenz herstellen. Wenn das mal nicht wichtig war! Aber das konnte ich den anderen schlecht erzählen.
Tom schlug vor: »Dann treffen Sedan, Ferdinand und ich uns mit den Rädern hier an der Schule und fahren zu Herrn Klein.«
Stimmt, die Viertklässler hatten ja alle schon den Fahrradführerschein. Die Glücklichen!
»Und du, Rana?«, fragte ich die einzige Drittklässlerin außer Anni und mir. »Du hast ja keinen Führerschein.«
»Ich darf überall mit dem Rad hinfahren«, erklärte sie. »Ich komme mit.«
Und da war fürs Erste alles geklärt.
Heute klappte tatsächlich alles wie am Schnürchen. Zuerst jedenfalls. Die Zaubertruppe konnte bei Schulschluss ein paar Tricks ganz passabel. Und Frau Kluge gab uns sogar einigermaßen gute Tipps, unsere Bewegungen noch zauberhafter hinzubekommen.
Nach dem Mittagessen klingelte Anni.
Ich raunte ihr zu: »Komm mit in die Küche.«
Dort zog ich unsere Süßkramschublade auf. Da sind nur süße Sachen drin: Kekse, Schokolade oder Gummibärchen. Und eigentlich müssen wir immer unsere Eltern fragen, wenn wir uns etwas aus der Schublade nehmen wollen.
»Papa hat neulich Pralinen von Tante Ilse bekommen«, erzählte ich Anni. »Weil er ihr Fahrrad repariert hat. So Schokokugeln eignen sich doch wohl prima für die Bärenstarkessenz.«
Das fand Anni auch. Ich packte die rote Schachtel in meinen Rucksack.
Und dann galoppierten Anni und ich los. Aus dem Haus und die Scheffelstraße entlang. Durch den Garten von Oma und Opa und über die Strickleiter. Durch den Dschungel bis in Herrn Bovists Küche. Ganz schön aus der Puste waren wir da. Lange Pause konnte wir aber nicht machen. Weil Rupert Hunger hatte. Und weil die Zauberblumen auf der Fensterbank durstig waren. Und weil Kalli wieder alles vollgeköttelt hatte.
»Hier sind schon ein paar Kalliböhnchen mit den Teppichhaaren vermanscht. Die bekomme ich gar nicht richtig weg!«, bemerkte Anni mit gerümpfter Nase.
»Kalli braucht eine andere Unterkunft«, stellte ich fest. »Sonst ist Herr Bovist sauer. Bald stinkt der ganze schöne Teppich.«
Aber zuerst mussten wir uns um die Bärenstarkpralinen kümmern.
Kalli höppelte glitzernd auf der blumigen Lichtung herum, während Anni, Rupert und ich uns in das kleine Arbeitszimmer quetschten.
»Am besten ist wohl«, sagte ich, »wenn wir zuerst im Zauberbuch nachschauen. Vielleicht gibt es ein Grundrezept für alle Zauberblumenessenzen.«
Also zogen wir das lederne Buch aus der Tischschublade und wuchteten es gemeinsam auf die Tischplatte. Ich spürte ein Kribbeln, das von den Füßen durch meinen ganzen Körper bis in meinen Kopf wuselte. Wie kleine Ameisen.
»Hoffentlich ist Herr Bovist nicht allzu sauer«, raunte ich und schlug den großen Buchdeckel auf.
»Es ist ein Notfall!«, sagte Anni und steckte ihre Nase schnüffelnd zwischen die vergilbten, welligen Buchseiten. »Ich liiieeebe diesen müffeligen Geruch.«
Das konnte ich jetzt überhaupt nicht verstehen. Aber gut.
Seite um Seite blätterten wir um. Es dauerte eine halbe Ewigkeit.
»Keine Spur von einem Essenzrezept«, murrte Anni irgendwann.
»Mist, Mist, Mist!«, fluchte ich. »Wir brauchen den Zauber. Für Herrn Klein. Und für Tante Vroni!«
Wir waren auf der letzten beschriebenen Seite angekommen. Die Zeichnung der Unsichtbarkeitsblume leuchtete uns in den schönsten Blautönen entgegen. Kein Essenzrezept weit und breit.
»Dann muss Herr Klein eben doch an der Bärenstarkblüte riechen«, sagte Anni.
»Das bringt nichts«, antwortete ich. »Dann ist Herr Klein vielleicht eine Stunde topfit. Der Zauber hält nicht lange genug.«
»Puh«, machte Anni. »Dann durchsuchen wir eben das Arbeitszimmer. Und das Labor. Irgendwo muss es eine Anweisung geben.«
Und das machten wir auch. Ich las alle Buchrücken im Regal. Aber auf keinem stand irgendetwas mit Essenzen. Anni stöberte in allen Schreibtischschubladen. Nichts.
»Sapperlot«, fluchte Anni und zog sich die Ringelmütze vom verschwitzen Kopf.
»Wir machen im Labor weiter«, beschloss ich. Und das war eine richtig prima Idee. Denn dort schaute ich als allererstes in die winzig kleine Schublade des winzig kleinen Tischleins unter dem winzig kleinen Fensterchen. Ein blaues Heft lag da. Unbeschriftet. Doch als ich es vorsichtig herausnahm und aufschlug, konnte ich mein Glück kaum fassen.
»Das ist es, Anni!«, rief ich und küsste das Heft. So froh war ich! »Hier steht: Die Herstellung einer Essenz bedarf einiger Übung.«
»Na prima«, sagte Anni. »Zeit zum Üben haben wir aber nicht.«
Wir setzten uns auf die Treppenstufe des Arbeitshäuschens. Kallis Geschirr glitzerte in der Sonne. Eine gelbe Blüte verschwand gerade im mümmelnden Maul. Rupert legte sich zu ihm und gähnte.
»Weißt du, Tilda«, sagte Anni, »jetzt haben wir doch Zauberblumenunterricht. Zwar ohne Lehrer, aber in der Schule arbeiten wir ja auch oft so. Mit einem Lernzirkel. Oder einer Lerntheke. Da muss man sich die Sachen erlesen und ausprobieren!«
»Stimmt!«, antwortete ich. »Und jetzt beginnt unsere erste Stunde zum Thema Essenz.«
Ich schlug das Heft auf. Da war ewig viel Schnörkelschrift. Kaum zu entziffern war die. Aber dann kamen Zeichnungen. Da war ein kugelrundes Gefäß. Es hatte nur eine seitliche, erbsenkleine Öffnung. Und es schien aus Glas zu sein. Denn in dem Gefäß war eine Flüssigkeit eingezeichnet.
»Das ist ein Kolben«, las ich. »100 Milliliter reinstes Wasser sollen eingefüllt werden. Und ein Esslöffel Zitronensaft. Und eine Prise Pfeffer.«
Aha.
Anni sagte: »Und hier steht, dass man die Blütenblätter der Zauberblume in einem Mörser zerstoßen soll. Und dann auch in dieses Kolbendings wirft.«
Wir blätterten weiter. Auf dem nächsten Bild sah man unter dem Glaskolben eine Flamme. Und die Flüssigkeit oben im Gefäß zeigte viele Blubberblasen.
»Die Suppe muss kochen«, sagte Anni.
»Stimmt!«, meinte ich. Aber was sollte der Schlauch, der da nun seitlich aus der kleinen Kolbenöffnung schaute?
Anni las laut vor: »D-e-s-t-i-l-l-a-t-i-o-n.«
»Ha!«, rief ich freudig. »Das hatten wir doch erst in der Schule! Beim Thema Wetter. Weißt du noch? Wenn es warm ist, steigt der Wasserdampf auf. Und sammelt sich oben in der kalten Luft als Tröpfchen. Oder so.«
»Stimmt!«, sagte Anni. »Und auf dem Bild hier sammeln sich die Tröpfchen oben an der Glasdecke.« Sie zeigte auf die Zeichnung.
»Genau«, sagte ich. »Und hier sieht man, wie die Tröpfchen dann durch den Schlauch wandern und sich in diesem kleinen Glas sammeln.«
Anni warf das Heft in die Luft. »Und schon hat man die Essenz! Klar wie Klößchenbrühe! Und überhaupt nicht schwierig.«
Ich konnte das wertvolle Heft gerade noch auffangen. »Wir müssen dieses Kolbending suchen. Und das andere Zubehör.«
Wieder machten wir uns auf die Suche.