Victorias Tag beginnt mit einem Blick auf ihr Smartphone, das ihr sagt, mit welchen Vitaldaten sie in den Tag startet. Auch in Zukunft führt morgens der Gang zu Hause zunächst ins Badezimmer – das Internet der Dinge („internet of things“) macht es möglich, dass sie durch viele miteinander vernetzte technische Gadgets Hinweise auf ihren Gesundheitszustand erhalten kann. Egal, ob es eine intelligente Zahnbürste ist, die ein Feedback zum Zähneputzen gibt oder ihr intelligenter Spiegel mit ihr spricht und ihre Vitalwerte anzeigt. Ein Highlight ist sicher ihre intelligente Toilette mit Internetschnittstelle, die EKG, Gewicht, Temperatur und weitere medizinisch-physiologische Messungen (z. B. Bioimpedanz wie Körperfett, Muskelmasse oder Urinanalysen in Form von Färbung bzw. Trübung) unauffällig im Hintergrund erhebt. All dies führt dazu, dass es täglich Messwerte gibt und bei den kleinsten Veränderungen auch automatisch eine Zuschaltung ihres Arztes ausgelöst wird. So fängt jeder Tag mit einem Gesundheitscheck zu Hause an. Ein paar konkrete Tipps zu Ernährungsund Lebensgewohnheiten bekommt Victoria obendrein. Im Anschluss legt sie sich für 15 Minuten in ihre Sauerstoff-Druckkammer, die wie ein kleines U-Boot aussieht, um in einem erhöhten (hyperbaren) Umgebungsdruck reinen Sauerstoff einzuatmen. In einer Studie aus Israel hatte sie gelesen, dass dies neben Beauty und Wellness auch einen Anti-Aging Effekt hat und sich positiv auf die Zellen auswirkt. Als letzten Teil ihres täglichen Rituals trinkt sie noch einen sogenannten Bulletproof Coffee (Kaffee mit Butter und Kokosöl), der über einen langen Zeitraum ihre Energie hebt und die mentale sowie körperliche Leistungsfähigkeit verbessert. Victoria hat sich einer Bewegung zur digitalen Selbstvermessung angeschlossen.
Quantified-Self heißt der Trend aus den USA, der sich an technisch-affine Personen wie Victoria richtet und ihnen das gute Gefühl gibt, ihren Körper und ihren Geist optimieren zu können. Denn es stellt für den Individualisten eine Weiterentwicklung der Selbstverwirklichung bis hin zur eigenen Selbsterkenntnis dar. Was nehme und sollte ich als Ernährung zu mir nehmen, um meinen Körper gesund zu halten? Wie viel darf ich zu mir nehmen, um nicht zuzunehmen und wann sollte ich essen? Wie schnell und wie tief atme ich? Wie lang schlafe ich und wie verhalte ich mich im Schlaf? Wie hoch ist mein Blutdruck, mein Blutzucker, mein Adrenalin? Die Bewegung richtet sich an Menschen mit guten Gesundheitswerten, die Interesse und Freude an der Vermesserei haben. Zur Datenweitergabe und Kontrollmöglichkeit sind die Sensorgeräte meistens mit einer Smartphone-App verbunden. Auch unterwegs kann Victoria ihre Daten mit sogenannten Wearables (tragbaren Computern) messen. Es gibt schließlich den Spruch: „Du bist, was du isst“, den sie mit ihrem eigenen Spruch „Wearables machen dich smart“ vergleicht. Wearables jeglicher Art werden von Jung und Alt zur Steigerung des Gesundheitszustands gekauft und am Körper oder Kopf meist sichtbar getragen. Dazu zählen beispielsweise sensorunterstützte Armbänder, Schuheinlagen, Schuhsohlen, Brustbänder, Stirnbänder, Handschuhe oder smarte Uhren. Stöße oder Vibrationen werden durch den sogenannten Piezo-Effekt dafür genutzt. Die dadurch abgegebene Energie kann von den Sensorelementen aufgenommen und verarbeitet werden. Die Miniaturisierung von Piezo-Sensoren umfasst die Verarbeitung in Textilien, Bandagen oder Kleidungsstücken. Die Entwicklung der Sensoren ist so weit fortgeschritten, dass es möglich ist, die Mini-Sensoren sogar an einem Zahn zu befestigen. Die Entwicklung klingt neu, ist sie allerdings nicht.
Das mutmaßlich erste Wearable war der Abacus-Ring, ein 300 Jahre alter chinesischer Rechenschieber, der in der Qing-Dynastie aus reinem Silber entwickelt wurde. Er bestand aus sieben Stäben mit sieben Perlen an jedem Stab und diente einst als Zählinstrument, mit dem Händler schnelle Berechnungen durchführen konnten. Sein genauer Ursprung ist jedoch unbekannt. Victorias heutiger Ring ist ebenfalls silberfarben, besteht jedoch aus Titan und misst ihre Herzfrequenzvariabilität, ihren Aktivitätswert, die Tagesform und den Schlafwert (z. B. Tiefschlaf, REM-Schlaf, leichter Schlaf, Schlafenszeitplan). Denn Schlaf ist schließlich der Seismograph für ihre Gesundheit (siehe Kapitel „Smarter Schlaf“). Basis für die Sensortechnik am Körper ist der Hochleistungssport. Denn im Hochleistungssportbereich werden die Sportler durch beispielsweise nicht-intrusive Skelett-Sensorik in Echtzeit vor einer zu hohen Belastung gewarnt, um schwere Verletzungen zu vermeiden. Da der Gesundheitstrend in den letzten Jahren in jeder Alters- und Bildungsschicht der Gesellschaft zugenommen hat, finden sich heutzutage verschiedenste Anbieter für tragbare medizinische und fitnessbasierte Geräte auf dem Massenmarkt.
Man kann sich sogar einen kleinen Near-Field Communication Chip (NFC)-Chip unter die Haut implantieren lassen. Es handelt sich bei NFC um ein Funkstandard zur drahtlosen Datenübertragung, der auch zur bargeldlosen Bezahlung genutzt wird. Der Chip ist so groß wie ein kleines gläsernes Reiskorn (Glaskapsel) und wird mit einem Spritzenähnlichen Gerät unter die Haut gesetzt – meist zwischen Daumen und Zeigefinger. Einer der beiden Buchautoren hat dies im Selbstversuch (n = 1 Studie) für zwei Jahren selbst getragen. Das Eigenexperiment hat gezeigt, dass es alltagstauglich ist und man das Implantat von außen nur bei einer geballten Faust sehen konnte. Der Nutzen bzw. Mehrwert war es, darauf medizinische Daten zu speichern und Türen ohne Schlüsselbund zu öffnen. Jedoch muss man bedenken, dass es trotz Biokompatibilitäts-Erklärung der FDA (Food and Drug Administration) keine Langzeitstudien dazu gibt. Es kann je nach Material schlimmstenfalls mit Muskeln verwachsen sein. In der Praxis herrscht bei Radiologen Uneinigkeit, ob es bei der Bildgebung (z. B. MRT-Untersuchung) verwendet werden kann, da es kein Medizinprodukt ist und es auch keine eindeutigen medizinischen Unbedenklichkeitsnachweise dazu gibt. Es könnte, so die Befürchtung, warm werden oder gar durch die Haut schießen – im Internet wird dies in einschlägigen Foren zwar verneint, das reicht dem praktizierenden Radiologen aus Haftungsgründen meist nicht aus. Der Eigenversuch war eine nette Erfahrung, aber es gibt sicher smartere nicht-invasive Lösungen.
Die Fähigkeit sich selbst zu vermessen ist zusammenfassend ein Spagat zwischen Stress und Spaß. Bist du in der Lage, auch vom Normalwert abweichende Werte emotional zu verarbeiten oder gehst du direkt zum Arzt oder rufst du vielleicht sogar einen Krankenwagen, um dich im Krankenhaus großen Kontrollen zu unterwerfen? Die Gefahr der digitalen Selbstvermessung liegt auf der Hand und befindet sich wie beim NFC-Chip in der Hand. Self-Tracking bedingt, dass du für Messwerte des körperlichen Zustands in Zusammenhang mit deiner Alltagsgestaltung sensibilisiert wirst. Wenn du die Messgeräte richtig nutzt, kannst du äußere und innere Veränderungen des Körpers feststellen. Zu bedenken ist, dass du lernen musst, mit Werten und deren Beurteilung umgehen zu können. Es darf kein Zwang entstehen oder eine durchgehende Kontrolle deiner selbst. Zahlenerhebung und Selbstmessung können dazu führen, dass der geförderte Gesundheitszustand ein längeres Leben erzielt. Den eigenen Körper akzeptieren oder akzeptanzfähig zu gestalten ist dabei von hoher Wichtigkeit, wenn du Gesundheits-Apps benutzt. Dadurch, dass ein hohes Risiko entsteht, sich selbst in der Quantified-Self-Bewegung zu verlieren und den Alltag abhängig von Werten und Messungen zu gestalten, kann eine große psychische Belastung entstehen. Die Quantified-Self-Bewegung dient aber nicht nur dem eigenen Erkenntnisgewinn, sondern kann auch einen Mehrwert für andere Gesundheitsakteure (Ärzte, Therapeuten, Ernährungsberater etc.), die sich mit deiner Gesundheit beschäftigen, aufzeigen. Personalisiertes Training, Ernährungspläne oder Behandlungsmaßnahmen können in Abhängigkeit deiner selbst ermittelten Gesundheitsdaten entwickelt werden. Es ist daher festzuhalten, dass der persönliche Nutzen in Form von Motivation und Kontroll-/ Erinnerungsmöglichkeit, Selbstexpertisierung im Kontext von Kompetenzförderung, Fortschritt für Medizin und Wissenschaft durch gesammelte Daten und eine gesündere und sicherere Gesellschaft mit geringeren Gesundheitskosten als Vorteile der digitalen Möglichkeit der Selbstvermessung identifiziert werden können. Es sollten dir aber auch die Risiken bekannt sein. Hierzu gehören beispielsweise die Abhängigkeit, Fehlinterpretationen, Stigmatisierungspotenziale und Fehlmessungen aufgrund mangelnder Qualität der Geräte. Und so war es auch bei Victoria. Als sie eines Tages aufwachte und sich eigentlich pudelwohl fühlte, obwohl ihr Schlaftracker ihr sagte, dass sie hundemüde sein müsste, entschloss sie sich, ab und an auch mal ohne Tracker in Ruhe zu schlafen. Und auch tagsüber wird sie ihre Wearables und das Smartphone am Wochenende in die Schublade legen, da sie keine Lust hat, ständig von einem Piepen oder Pop-up-Fenster gestört zu werden.
Eine digitale Selbstvermessung ist heute schon vielfach möglich. Und immer mehr Wearables werden zur Steigerung des Gesundheitszustands eingekauft. Du willst sicher auch jung, fit und leistungsfähig sein und bleiben – höher, schneller und weiter! Die tragbare Sensortechnik ermöglicht eine einfache und schnelle Überwachung, Kontrolle und Informationssammlung des Gesundheitszustandes. Gesundheits-Apps speichern deine Vitaldaten und können diese für dich analysieren. Der Nutzen ist ein besseres Körpergefühl. Natürlich kann das auch frustrierend sein, sich ständig selbst zu kontrollieren. Du solltest es daher als kleines Experiment ansehen und ab und an deine Daten messen und auswerten, dies aber nicht als Dauerzustand sehen, der dich unnötig unter Stress setzt.
Hachmo, Y., Hadanny, A., Abu Hamed, R., Daniel-Kotovsky, M., Catalogna, M., Fishlev, G., Lang, E., Polak, N., Doenyas, K., Friedman, M., Zemel, Y., Bechor, Y., Efrati, S.. Hyperbaric oxygen therapy increases telomere length and decreases immunosenescence in isolated blood cells: a prospective trial. Aging (Albany NY). 2020; 12:22445-22456. https://doi.org/10.18632/aging.202188.
Heyen, N., (2016). Digitale Selbstvermessung und Quantified Self. Potenziale, Risiken und Handlungsoptionen, URL: https://www.isi.fraunhofer.de/content/dam/isi/dokumente/cct/2016/Policy-Paper-Quantified-Self_Fraunhofer-ISI.pdf, Abruf 01/2023.