Während Patrick auf seinem Stuhl im Behandlungszimmer sitzt, sieht er vor sich seine Patientenakte liegen. Da er ungeduldig schon lange auf den Arzt wartet und sein Blick bereits über alles in der Praxis gewandert ist, schnappt er sich seine Karteikarte und versucht darin zu lesen. Die Handschrift des Arztes ist für ihn wie eine Geheimschrift, die er zu dechiffrieren versucht. Fast schon wie ein Code. Er legt die Karteikarte schnell weg und verlässt sich darauf, dass der Arzt oder die Sprechstundenhilfe dies entschlüsseln können. Vielleicht ist es wie beim Jäger, der eine eigene Fachsprache zu haben scheint, damit Nicht-Jäger nicht mitreden können. So haben auch Ärzte ihre geheime Sprache. Wenn der Patient „supranasal übersichtlich strukturiert ist“ bedeutet dies nichts weiter, als dass das Gehirn über der Nase liegt, dass also der Patient für nicht sonderlich intelligent gehalten wird. Patrick hat auch einen Eintrag mit den beiden Buchstaben P und A und einem langen Strich dahinter gesehen. Er fragt sich, was das denn heißen könnte, Patient oder Paracetamol oder vielleicht Pankreas? Da er die Antwort nicht kennt, besinnt er sich auf die Rolle des Patienten – geduldig auf den Arzt wartend und hoffend, dass er mit ihm „patientisch“ sprechen wird, also in einer einfach verständlichen Sprache.
Im Zeitalter der Digitalisierung versuchen die unterschiedlichsten Branchen, sich auf digitale Abläufe einzustellen. Branchenübergreifend soll die Digitale Transformation in Angriff genommen werden, um den Bedürfnissen der Menschen gerecht werden zu können: Bestellungen online aufgeben und online bezahlen. Online-Kommunikationsdienste werden für den Kunden immer wichtiger und stellen somit ein nicht zu unterschätzendes Kaufkriterium dar. Auch im Gesundheitswesen wird sowohl in Profit- als auch in Non-Profit-Unternehmen die Digitalisierung immer stärker implementiert. Laut dem Praxisbarometer Digitalisierung, welches das Berliner IGES-Institut im Auftrag der Kassenärztlichen Bundesvereinigung erstellt hat, gelten große interdisziplinär arbeitende Praxen und Hausärzte als Vorreiter bei der Digitalisierung der vertragsärztlichen Versorgung. Von den Befragten nutzen zwar viele Praxen ihre digitale Software zur Dokumentation und mehr als die Hälfte verwenden eine digitale Terminplanung. Allerdings sind telemedizinische Behandlungen immer noch recht selten – trotz steigender Tendenz. Die Corona-Pandemie hat auch die Verbreitung der Telemedizin beschleunigt. Dennoch ist es so, dass nicht wenige Akteure im Gesundheitswesen für die ärztliche Dokumentation weiterhin gerne Stift und Papier favorisieren. So verwundert es nicht, dass bei einer Reihe von niedergelassenen Ärzten eine Digitalisierung der Praxen nicht gerade mit höchstem Elan vorangetrieben wird. Denn selbst wenn die praxisinterne Digitalisierung in der vertragsärztlichen Versorgung weitreichend etabliert worden ist, werden für die externe Kommunikation zwischen Praxen oder mit Krankenhäusern immer noch Dokumente mit Papier und Stift angefertigt und als bevorzugtes Medium definiert. Die schriftliche Kommunikation erfolgt zwischen verschiedenen Praxen zu einem hohen Anteil immer noch in Papierform, dies gilt auch für die Kommunikation mit Krankenhäusern. Praxen tauschen bis heute den geringeren Teil an Arztbriefen oder Befunddaten digital aus. Das Faxgerät soll nicht unerwähnt bleiben. Warum wollen einige Ärzte nur ungern auf Papier verzichten, wirst du dich als Patient in der doch so modern eingerichteten Arztpraxis fragen, wie der vorerwähnte Patrick, der immer noch auf den Behandlungsbeginn wartet. Wichtig ist es aber, dass die Patienten ihr Empfinden äußern, Denk- und manchmal sogar Handlungsanstöße geben. Bist du denn auch bereit zur überfälligen Transformation? Hast du den Arzttermin online gebucht, vorab die Chatfunktion genutzt oder die virtuell dargestellte Arztpraxis besichtigt, um mehr über die Praxis zu erfahren? Auch könntest du vorab eine Videotelefonie geschaltet haben, um dir ein Bild des neuen Arztes zu machen. Sollte deine Antwort nein lauten, du jedoch eine solche Kommunikation wünschen, dann musst du dich selbst hinterfragen und deinen Arzt darauf ansprechen. So bleibt die Frage offen, warum über die Hälfte der Ärzte Notizen (meist über Patientengespräche) mit Stift und Papier und nicht mit digitalen Medien erstellt. Das bedeutet zugleich nicht, dass die klassische Dokumentation gänzlich verurteilt werden soll. Denn die Ärzte sind nicht selten verunsichert, was die digitalen Möglichkeiten angeht. Dein betreuender Arzt braucht heute, aus steigenden juristischen Zwängen, von dir als Patienten viele Verträge, die rechtssicher archiviert werden müssen. Eine Verpflichtung zur Dokumentation und Unterschrift liegt bei der Aufklärung über Risiken und Einverständnis von diagnostischen Eingriffen, Impfungen, Medikamenten mit häufigen Nebenwirkungen, von Medikamenten außerhalb des durch die Arzneimittelbehörden zugelassenen Gebrauchs, von Narkosen und von Operationen vor. Ebenfalls bei Behandlungsverträgen, Genehmigungen sowie bei der Aufbewahrung von Impfstoff-Chargen und Blutprodukten. Um auf Papier, Unterschrift und die herkömmliche Aufbewahrung verzichten zu können, müssen die rechtssichere digitale Signatur, die juristisch verwertbare Archivierung und die Ausstattung der Gerichte mit moderner Informatik noch optimiert werden. Das erfordert natürlich auch eine intensive Befassung mit dem Thema und damit den Einsatz von Zeit. Zu bedenken ist weiterhin, dass der Arztbesuch meistens weniger als zehn Minuten dauert. Diese fünf bis zehn Minuten beginnen beim Betreten des Arztzimmers. Du als Patient erwartest in diesen wenigen Minuten die hundertprozentige Aufmerksamkeit des Arztes und möchtest diese auch durch Blickkontakt bestätigt wissen. Jeder Arzt trifft täglich neue Patienten und es wird von ihm erwartet, dass er bei dem nächsten Kontakt mit dir noch Anhaltspunkte zur Vorgeschichte hat. Dieses verlangt dem Arzt nicht nur eine individuelle Krankenakte ab, sondern noch wesentliche weitere Faktoren, die ausschlaggebend für eine Verdachtsdiagnose, eine Ursache oder aber als Nebeneffekt zu deuten waren. Du als Patient möchtest dich einfach durch persönliche Merkmale vom Arzt erkannt wissen. Um diese Stichpunkte immer übersichtlich parat zu haben, ist die handschriftlich geführte Patientenakte je nach Praxisstruktur mitunter am schnellsten einsatzfähig und dient als komplexe Übersicht – so die Argumentation der Ärzteschaft. Darüber hinaus empfinden Ärzte die zunehmende Digitalisierung in Bezug auf das Wissen des Patienten gelegentlich auch als belastend, weil dieser zunehmend anmerkt, seine Erkenntnisgewinnung aus dem Internet stimme nicht mit der getätigten Äußerung des Arztes überein. Und um dabei zugleich auch auf den Datenschutz einzugehen, möchten Ärzte nicht selten aus Sorge um die Sicherheit der Gesundheitsdaten auch weiterhin Stift und Papier nutzen und schriftlich geführte Notizen im Schrank wissen.
Du als Patient hast einen spürbaren Mehrwert durch die digitalisierten Formulare. Jederzeit kannst du das Dokument selbstständig bearbeiten, ändern und vervollständigen. Mit einem Tablet kannst du dir die Zeit im Wartezimmer verkürzen und vor dem Arztkontakt das Gespräch und wichtige Fragen durchgehen. Damit bleibt mehr Zeit für das individuelle Gespräch und deine persönlichen Anliegen. Die einmal angelegten und erfassten Daten sind dann für verschiedene Behandler nützlich und können per Mausklick leicht und schnell an andere Akteure weitergeleitet werden. Dieses erspart wiederum das mehrmalige Abarbeiten von Fragebögen und reduziert zudem den zeitlichen Aufwand, um einen anderen Behandler in der Versorgungskette aufzufinden. Schlussendlich ist diese digitale Entwicklung die Grundlage für deine Befähigung zum smarten Patienten. Nach langer Recherche und vielen Konsultationen hat Patrick rausbekommen, dass die Buchstaben P und A für Paracetamol standen. Am Ende hatte er mehr Kopfschmerzen wegen dieser Unklarheit.
TAKEAWAY-MESSAGE
Die ärztliche Dokumentation kann und muss durch Digitalisierungsprozesse vereinfacht und optimiert werden. Aktuell setzen viele Mediziner weiterhin zumindest in Teilen auf klassische handschriftliche Notizen. Das ist auch auf eine bislang mangelnde rechtssichere Absicherung für die Patienten zurückzuführen – hier gibt es noch Optimierungsbedarf und leider auch die fehlende Bereitschaft, dass Ärzte über ihre bisherige Tätigkeit hinaus noch tiefer in die Digitalisierung eindringen. Es sieht danach aus, dass wir noch eine Weile damit zu tun haben, die Schrift des Arztes zu entziffern. Werde nicht müde, deine Interessen einzufordern. Smarte Patienten brauchen elektronische Dokumente rund um ihre Gesundheit.
Albrecht, M., Sander, M., Temizdemir, E. (2020). Praxis Barometer Digitalisierung. IGES Institut. URL: https://www.kbv.de/media/sp/IGES_KBV_PraxisBarometer_2020.pdf, Abruf 01/2023.
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Nützel, N. (2017). Viele Ärzte setzen auf Stift und Papier. Sendung B5 Wirtschaft und Börse.