Damit du den Prozess vom ersten Symptom hin zum Krankenhausaufenthalt verstehst, blicken wir zunächst zurück und dann nach vorne. Wir schreiben das Jahr 1978. Die 56-jährige Esther sieht beim morgendlichen Blick in den Spiegel eine Schwellung zwischen ihrem Kinn und Kehlkopf, die wohl über Nacht aufgetreten ist. Erschrocken drückt sie auf den großen Knoten, er tut kaum weh. Sie fragt sich, ob das ein schlechtes Zeichen ist? Die Familie wird alarmiert, der Schreck setzt ein. Krebs? Sofort wird ein Termin bei ihrer Hausärztin vereinbart, der in einer Woche stattfindet. Eine Woche Angst, eine Woche Zweifel. Wird sie daran sterben? Endlich ist es soweit, der Aufruf ins Sprechzimmer, die Schilderung ihrer Entdeckung. Die Ärztin spricht von einem etwaigen Tumor, jetzt scheint das Schicksal besiegelt zu sein. Genaueres kann die Ärztin jedoch nicht sagen. Überweisung zum Hals-Nasen-Ohren (HNO)-Arzt, Termin in zwei Wochen. Weitere zwei Wochen Angst. Für Esther ist dies aber noch schlimmer als die erste Woche des Wartens, schließlich sei es ein Tumor. Auch diese zwei Wochen werden überstanden, wieder Aufruf ins Sprechzimmer. Der HNO-Arzt nimmt ein wenig Angst, er glaube nicht, dass es etwas Schlimmes sei. Esther müsse aber ins Universitätsklinikum, dort werde man herausfinden, was es ist und schließlich habe er als ehemaliger Mitarbeiter gute Beziehungen dorthin. Der Arzt greift selbst zum Telefonhörer. Beeindruckend! Er ruft im Klinikum an und lässt sich mit einem Oberarzt verbinden. Vorstellung in der dortigen Ambulanz in zwei Wochen – was schnell sei – versichert ihr der Arzt. Nun geht es voran, alles wird geplant. Zum vereinbarten Termin fährt Esther mit Mann und Sohn zur ambulanten Vorstellung das 80 Kilometer entfernte Universitätsklinikum. Frühmorgens, schließlich wisse man nicht, wo man parken könne. Richtig gedacht – damit geht der beeindruckende Unikliniktag los – kein Parkplatz weit und breit in Kliniknähe, also mehrfache Runden ums Gelände gedreht. Endlich, einer fährt weg. Parken. Und nun, wohin? Keine Ahnung, wo die HNO-Klinik ist. Jemanden fragen? Wen? Alles orientierungslose, überforderte oder unwirsch erscheinende Gesichter. Also losgehen, mit der schweren Tasche, falls man vielleicht doch gleich aufgenommen werden sollte. Nach gefühlten 20 Minuten erreichen sie die HNO-Ambulanz. Zuerst zur Anmeldung. Menschenschlange. Die Daten sind erfasst, jetzt geht es in den Warteraum, oh Gott, total überfüllt. Nach zweieinhalb Stunden dann der Aufruf. Eine junge Ärztin stellt viele Fragen, untersucht den Hals vorsichtig und schaut sich gleichermaßen den Mund, die Nase und beide Ohren an. Zurück geht es ins Wartezimmer, bedeutet wieder warten, wie das Zimmer eben auch heißt. Die Ärztin kommt zurück, der Oberarzt sei noch im Operationssaal, das werde noch etwas dauern. Weitere 90 Minuten vergehen, bis der Oberarzt Esther untersucht. Sie solle sich nicht zu viele Sorgen machen, der Befund werde wohl gutartig sein, der Tumor aber müsse auf jeden Fall bald entfernt werden. Zur Sicherheit noch die Vorstellung beim leitenden Oberarzt am Nachmittag. Abschließend geht es zur Ambulanzschwester, um einen Aufnahmetermin zur Operation (OP) zu vereinbaren. Wann? In drei Wochen? Früher gehe es auf keinen Fall, dann sind es schon acht Wochen nach der morgendlichen Entdeckung des Befundes. Egal. Hauptsache es geht jetzt voran. Esther wird vereinbarungsgemäß aufgenommen. Ein anderer junger Arzt untersucht sie auf Station, anschließend erfolgt die Untersuchung durch den Stationsarzt, dieser stellt sie danach einem nächsten Oberarzt vor und nun soll sie auch noch vom Universitätsprofessor untersucht werden. Es kommt ein älterer Mann, greift Frau W. wortlos an den Hals, schiebt den Knoten hin und her und sagt: „Muss raus“. Die Assistenzärztin erklärt Esther hinterher, dass ihr Chef grundsätzlich nicht viel spreche und der Tumor morgen entfernt werde, in Vollnarkose. So kommt spätnachmittags noch die Narkoseärztin. Es ist geschafft, der OP-Tag ist erreicht. Warten auf den Eingriff. 8:00 Uhr, 10:00 Uhr, 12:00 Uhr, endlich tut sich was. Die Schwester sagt, dass es noch etwas dauert. 14:00 Uhr, der Oberarzt kommt ins Patientenzimmer, erzählt etwas von kaputter OP-Lampe und sagt, dass die OP erst am Folgetag stattfinden könne, dafür gäbe es jetzt aber etwas zu essen. Am nächsten Tag erfolgt die Operation, die Patientin bleibt für weitere sieben Tage in der Klinik und wird dann in die weitere Betreuung ihres HNO-Arztes entlassen. Zu Hause angekommen vereinbart sie bei ihm für drei Tage später einen Vorstellungstermin. Der Arzt entfernt die Fäden, einen schriftlichen Befund zum Klinikaufenthalt hat er noch nicht, aber er hat ja Beziehungen zum Krankenhaus und telefoniert.
Wir schreiben das Jahr 2022. Glaubst du, dass die im vergangenen Absatz geschilderte Patientengeschichte wirklich Geschichte ist? Leider nein, du wirst sie in Teilen oder auch in Gänze auch heute noch in deutschen Krankenhäusern erleben. Richtig, der Begriff Patient kommt aus dem Lateinischen, patiens, erduldend, ertragend, also froh und dankbar seiend, wenn man repariert wird und unbeschadet aus dem Krankenhaus kommt, egal, wie lange man wo wartet, ob mit einem zuvorkommend und mitfühlend umgegangen wird, ob es Schmerzen gab oder nicht. Derartige Schilderungen ließen sich noch lange fortsetzen. Diese Schnittstellenprobleme (zwischen der ambulanten und stationären Versorgung), Versorgungsunterbrechungen (aufgrund langer Wartezeiten) und die Desorganisation in Krankenhäusern müssen in aller Kürze der Vergangenheit angehören. Weißt du warum? Weil es Lösungsmöglichkeiten gibt, weil hierzu auch Digitalisierung hilft und weil die Verantwortlichen endlich begreifen müssen, dass es wichtiger ist, in Prozessoptimierungen zu investieren als zur Aufrechterhaltung miserabler Organisationen, den nächsten Computertomographen zu beschaffen oder nur ein neues Parkgeschoss zu bauen. Sind die Prozesse zum Beispiel in einem hochfrequentierten Krankenhaus optimiert, dann benötigen die Patienten eben nur noch zwei statt sechs oder acht Stunden Parkdauer bei einem Ambulanzbesuch. Diverse Schritte vor der Anmeldung im Krankenhaus können bereits von zu Hause erledigt werden – wieso nicht mithilfe einer App? Ein Leitsystem hilft den Patienten bei der Orientierung im Krankenhaus. Pflegekräfte und Ärzteschaft können nach Prozessanalyse und -optimierung (was man allerdings leider durchführen muss) in erheblichem Maße von ermüdenden, zeitraubenden administrativen Tätigkeiten entlastet werden. Dadurch werden sich beide Berufsgruppen wieder viel stärker auf ihre Tätigkeiten direkt am Patienten konzentrieren können. Und dass aktuell noch sehr viel Luft nach oben ist, was das Transportwesen und den OP-Ablauf im Krankenhaus betrifft, das dürfte ebenfalls den meisten bekannt sein.
Es muss das Ziel sein, dass sich Patienten wie Esther im Krankenhaus gut aufgehoben fühlen. Du solltest, nein, du musst diese Erwartungen offen formulieren und kommunizieren – jeder kann in seinem Wirkungskreis etwas bewegen, statt unbefriedigende Prozesse einfach hinzunehmen. Es ist viel zu lange abgewartet worden. Ausreden wurden erfolgreich gefunden, warum Veränderung im Krankenhaus nicht wirklich geht. Aber genau deshalb kann die Notoperation zur Behandlung des erkrankten Krankenhauswesens nicht länger verschoben werden. Die Herz-Lungen-Maschine ist vorbereitet. Du solltest dich nicht wie durch eine Zeitmaschine ins Jahr 1978 zurückversetzt fühlen, wenn du wieder die Schwelle eines Krankenhauses betrittst.
TAKEAWAY-MESSAGE
Natürlich ist das Krankenhaus immer noch nicht so weit, wie es sein könnte, technisch, gestalterisch und auch empathisch. Mangelnde Zuwendung, das musst du nicht akzeptieren. Formuliere es, im Zweifel auch schriftlich und dies an die übergeordnete Instanz im Krankenhaus. Zu sehr wurde über Jahre auf Gerätebeschaffung geschaut. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Das Zeitalter der Digitalisierung und die heute verstandene und durchgeführte Gesundheitspolitik verändern jeden Tag aufs Neue kleine Stellschrauben. Die Behandlungsqualität in deutschen Krankenhäusern ist überwiegend gut, das sollten wir bei aller Kritik an mangelhaften Prozessen oder defizitären Verhaltensweisen nicht vergessen.
Lang, C., Gottschall, M., Sauer, M., Köberlein-Neu, J., Bergmann, A., & Voigt, K. (2019). „Da kann man sich ja totklingeln, geht ja keiner ran“ – Schnittstellenprobleme zwischen stationärer, hausärztlicher und ambulant-fachspezialisierter Patientenversorgung aus Sicht Dresdner Hausärzte. Das Gesundheitswesen, 81(10), S. 822-830.
Schaarschmidt, M., & Lindermann, N. (2018). Online-Terminvereinbarung für Arztbesuche: Treiber, Hemmnisse und Perspektiven. In Entrepreneurship im Gesundheitswesen II (pp. 153-166). Springer Gabler, Wiesbaden.