Immer wieder tauchen beeindruckende Beweise dafür auf, dass die Menschheit mithilfe von Speichermedien imstande ist, über Dekaden Belege für ihr Dasein zu erhalten. In Stein gemeißelte Hieroglyphen aus dem alten Ägypten zeigen da eine ähnliche Beharrlichkeit wie unerwünschte Fotos, die in sozialen Netzwerken verbreitet werden und nicht mehr wegzubekommen sind. Selbst wenn man das Foto von dem Ort, an dem man es platziert hat, wieder löscht, ist es schon in anderen Verläufen gelandet und hat sich für immer festgesetzt. Stichwort: „Das Netz vergisst nie!“
Das Internet hat uns aber auch einen ungeahnten Wissensfluss beschert. Daten, Fakten und Fantasien fließen uns um die Ohren, wenn wir ins World Wide Web einsteigen. Mit „Wikipedia“ steht uns allen ein interaktives Onlinelexikon zur Verfügung. So schnell wie noch nie sind viele Informationen abrufbar – aber sind sie auch korrekt? Hat vielleicht ein Spaßvogel ein paar Daten unauffällig geändert und irgendein unschuldiges Schulkind kopiert in sein Literaturreferat hinein, dass Arthur Schnitzler ein Amerikaner war und „Das weite Land“ sich mit der Erschließung Nordamerikas durch den Eisenbahnbau beschäftigt? Verfilmt von Sergio Leone mit John Wayne und Alfred Hitchcock in den Hauptrollen? – Eine Katastrophe. Stichwort: „Dein Deutschlehrer vergisst nie!“
Tun wir den Lehrern unserer Kindheit nicht unrecht, auch sie sind Menschen und haben hin und wieder vergessen, eine Hausarbeit einzusammeln oder, eine, Kommaregel, korrekt, zu, vermitteln,. Und sind wir auch milde mit dem Netz, dessen Gedächtnis oft falsch eingeschätzt wird.
Mancher sucht über Jahre verzweifelt nach einem einzigartigen Bild. Oder nach verständlich formulierten Einreisebedingungen für die USA. Oder nach einem wichtigen Dokument, das belegt, dass man sein erstes Liebesgedicht tatsächlich nach der Diplomfeier, 15 Flaschen Bier und ebenso vielen Zurückweisungen später, an einen Grazer Literaturverlag geschickt hat, der seinen Sitz unter der Mur und nach zwei Monaten seinen Betrieb eingestellt hatte. Man muss unwillkürlich an Murphys Gesetz denken: „Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen.“ Oder umgemünzt auf unsere Erfolgschancen beim Suchen im Netz: „Je wichtiger das Gesuchte, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass wir es nicht finden.“ Noch dazu, wenn es nicht auf der Oberfläche des Internets treibt, sondern sich eher in den Tiefen desselben verbirgt. Platz genug, damit etwas verschwindet, gibt es ja, wie Andy Beckett es formuliert: „Während ein ‚Darknet‘ ein Online-Netzwerk wie etwa Freenet ist, das vor Nicht-Benutzern verborgen ist, mit seinem ganzen darin enthaltenen Potenzial für illegales Verhalten, besteht ein Großteil des ‚Tiefenweb‘, so gespenstisch es auch klingen mag, aus nicht weiter bemerkenswerten Konsumenten- und Forschungsdaten, die jenseits der Reichweite von Suchmaschinen liegen.“ Schon das Wechseln der Suchmaschine bringt uns unterschiedliche Ergebnisse.
Aber: Gelingt uns das auch bewusst? Können wir Erinnerungen welcher Art auch immer für ewig speichern? An einer Stelle, an der wir sie jederzeit wiederfinden?
Auch Papier hat Schwächen. Ein ausgedrucktes Dokument kann zwar nicht mehr abstürzen – außer Sie haben es bei einer alpinen Klettertour in Ihrem Rucksack. Aber auch manche Bibliothekare werden nervös, wenn sie auf die Haltbarkeit ihrer Werke angesprochen werden. Licht und Feuchtigkeit, Naturkatastrophen und fette Finger setzen dem Papier zu.
Die Gabe wird zum Fluch: Smartphones liefern bereits Fotos in einer Qualität, in der es sich lohnt, sie aufzubewahren. Das Handy ist immer griffbereit, abgedrückt ist relativ schnell. Man muss nur den Kamerabutton finden, warten, bis die Fotofunktion aktiviert ist, und hoffen, dass der Mann mit der Torte im Gesicht noch mit dem überraschten Ausdruck dasteht, wenn das „Klick“ nach gefühlten 17 Minuten ertönt. Aber wenn man es dann funktionsbereit in der Hand hält, drückt man gleich noch einmal ab, und noch einmal, sicher ist sicher. Und ein Foto von dem Stück Torte, das man selber vor sich auf dem Tisch stehen hat, muss auch noch sein. Tausende Fotos warten auf unseren Handys darauf, gezeigt, bewundert und letztlich auch geordnet zu werden.
Früher hat man bei jedem Foto gut überlegt. Der Film fasste im Idealfall 36 Bilder, die Entwicklung auf Fotopapier kostete vergleichsweise eine Lawine. Und ein Knopfdruck war ein Knopfdruck, unbarmherzig, das Foto war gemacht, auch wenn nur eine diffuse Bewegung zu erkennen war, so war dies eben die letzte Erinnerung an den Segeltörn am Plattensee. Dafür war man eher motiviert, die Papierauszüge in ein Album einzukleben und hatte auf diesem Weg eine komfortable Erinnerung. Und nicht zuletzt die ideale Möglichkeit, ungebetene Gäste elegant loszuwerden: „Wollen wir noch die Fotos von den letzten Urlauben anschauen? Ich hätte auch eine Diareihe dazu angelegt.“
Fotoalben und Diaprojektoren, die verdinglichten Langeweiler des ausgehenden letzten Jahrtausends, wurden von Fotobüchern und Urlaubsvideos verdrängt. Diese sind nun vielleicht eine Spur interessanter, aber deutlich kurzlebiger.
Kann man Diaabende von der Mitte des letzten Jahrhunderts bis heute androhen, so stellt sich die Frage, wo sie die Videokassette von der Geburt Ihrer Tochter hineinschieben. Haben Sie noch einen Videorekorder? Oder hat der schon dem DVD-Player Platz gemacht? Und wurde dieser wiederum von einem Blue-Ray-Player abgelöst? Welches Schicksal ist den Erinnerungen auf VHS-Kassetten vorbehalten? Wurden sie schon auf aktuellere Datenträger überspielt?
Hatten wir vor einigen Jahren, so lange ist es gar nicht her, noch Disketten als Speichermedien, so suchen wir heute an modernen Geräten bereits vergebens nach einem Diskettenlaufwerk. Haben wir die Daten von damals wohl rechtzeitig gesichert?
Heutzutage werden USB-Sticks und externe Festplatten verwendet. Letztere präsentieren sich als ideale Speichermedien. Selbst wenn der Computer abstürzt, das Handy gestohlen wird und der Laptop in einem Cola-Bad ertränkt wird, bleibt die externe Festplatte als eiserne Reserve. Wobei sie nicht aus Eisen ist. Auch nicht bildlich gesprochen, denn eigentlich sind externe Festplatten sehr sensibel. Nicht erst einmal sind Daten auf externen Festplatten plötzlich unerreichbar gewesen, deshalb empfehlen Experten – Achtung! – heikle Daten auf mindestens zwei externen Festplatten zu sichern.
Die neueste Entwicklung bringt uns „Cloud-Computing“. Sogenannte „Clouds“, diese wolkig anmutenden Speicherorte, versprechen Sicherheit. Dabei werden unsere Daten auf externen Festplatten beziehungsweise Rechenzentren gespeichert, die allerdings jemand anderem gehören, der sich darauf spezialisiert hat und besonders gut auf unsere Daten aufpasst. Fast wie eine Bank auf unser Geld.
Banken sind schon pleitegegangen. Und IT-Unternehmen sowieso. Womit im ersten Fall unser Geld weg ist und im zweiten Szenario unsere Bilder. Außer wir haben sie sicherheitshalber noch irgendwo am Dachboden als Diareihe gelagert.
An der spanischen Atlantikküste fand man Höhlenmalereien, die rund 40.000 Jahre alt sind. Ob unsere USB-Sticks unsere Leistungen ebenso in die Zukunft tragen werden, wie die Wände die Werke der Künstler in der Höhle der Burg von Puente Viesgo?