E-BOOKS:
SCHÖNE NEUE LESE-WELT

Die Zukunft hält sicher noch einige Überraschungen bereit. Vielleicht sogar den Anruf eines Bestsellerautors? Und unter Umständen meldet sich sogar Ihre Lieblingsschriftstellerin.

Das könnte Ihnen passieren, wenn Sie auf E-Books umgestiegen und zu einem „gläsernen Leser“ geworden sind. So könnten Verlage Ihr Leseverhalten kennen: Sie wüssten dann, was Sie wann und wie lange lesen und wann Sie damit aufhören. Keine Angst, man weiß (noch) nicht, ob Sie durch bestimmte Textpassagen berührt wurden und Ihre ganze Kindheit anschließend vor Ihrem inneren Auge abgelaufen ist. Der besondere Moment des Lesens, der nur Ihnen und Ihrem Buch gehört, bleibt erhalten – vorerst. Außer Sie haben sich elektronische Notizen gemacht, da könnten eventuell auch andere mitlesen.

Auch bei Zeitungen und Zeitschriften könnte in einem Feldversuch das Leseverhalten untersucht werden: Wie lange werden seriös recherchierte Artikel gelesen im Vergleich zur Betrachtungsdauer von Kochrezepten, Horoskopen oder bezahlten Artikeln von Automobilherstellern? Exakte Daten könnten beispielsweise zu einem Überdenken von Inseratenpreisen führen. Gleichzeit stellt sich die Frage: Würde der Leser sein Leseverhalten ändern, wenn er weiß, dass es irgendwo aufscheint? Bleibt man dann länger auf Seiten mit wissenschaftlichen Beiträgen? Zählt man bis 150, bevor man eine Reportage über eine Hungersnot in Somalia beendet, um nicht als herzloser Ignorant in einer Statistik aufzuscheinen? Und nicht zuletzt könnte er sich für die hohen Preise an den Zapfhähnen damit revanchieren, dass er die Werbeanzeigen von Mineralölfirmen besonders lange begutachtet.

Primär ist jedoch eher mit Konsequenzen auf der Produktionsseite zu rechnen als beim Leser. Oftmals unbeachtete Beiträge könnten in Zukunft inhaltlich oder formell neu gestaltet werden. Und es wird sicher nicht Leseratten auf den Kopf fallen, wenn sie den zweiten Band einer Trilogie enttäuscht nach 20 Seiten aus der Hand legen. Speziell wenn sich mehrere so verhalten und nicht gleich Band 3 bestellen. Denn nach dem ersten Band haben Sie ja gleich online den zweiten bestellt. Erinnern Sie sich noch? – Das Netz tut es.

Ein ambitionierter Verlag, der den zufriedenen Kunden und die steigenden Absätze sucht, könnte seinen Autor mit dieser Seite 20 im zweiten Band konfrontieren. Jener Seite, an der er die so geschätzte Leserbindung verloren hat. Harmoniebedürftige Autoren würden sicher mit den verlorenen Lesern ins Gespräch kommen wollen. Gehören Sie auch zu jenen Käufern, die ihre Daten bei der Inbetriebnahme ihres E-Readers abgegeben und sich dazu bereit erklärt haben, dass diese auch verwendet werden dürfen?

Dann wundern Sie sich nicht, wenn es an der Türe läutet und jemand mit einer Pralinenschachtel sowie einem Fragebogen in der Hand das Gespräch sucht und mit Ihnen über die Seite 20 des zweiten Bandes reden will. Nehmen Sie sich Zeit, und Sie werden sehen: Die Bände drei, vier und fünf werden wieder zu Ihrer vollen Zufriedenheit Ihre Erwartungen erfüllen. Vielleicht wird als besonderer Service sogar Ihr Name in die Handlung eingeflochten. Oder zumindest der Ihres Golden Retrievers.

Und vielleicht liegt die Antwort ja ganz nahe, näher noch als der Schriftsteller Ihrer Wahl. Nämlich hier: Sie haben seit einem Jahr kein Buch mehr gelesen. Die Seite 20 ist ja geradezu ein Erfolg. Denn seit Sie den E-Reader mit Internetzugang Ihr Eigen nennen, halten Sie die personifizierte Ablenkung in Ihren Händen. Ist es doch so verlockend, Impulsen, die aus dem Text hervorgehen, gleich ins World Wide Web zu folgen: kurz in der Biografie des Autors stöbern, historische Angaben überprüfen, einer kulinarischen Idee nachgehen, Fischfilet an Limetten-Kartoffelpüree für vier Personen – kann man auch Zitronen verwenden? Wo erhält man unbehandelte Zitrusfrüchte? Und apropos Delikatessen: Wenn in zwei Stunden die Gäste kommen, sollte man eigentlich noch schnell die Mikrowellengerichte aus dem Supermarkt holen.