JUGENDSCHUTZSOFTWARE ODER AUFKLÄRUNG

Wer hat Angst vorm bösen Netz? – Im Internet sind auch für unsere Kinder Gewalt, Mord und Pornografie jederzeit abrufbar.

Der Austausch mit anderen Eltern hilft, manches gelassener zu sehen und andere Einblicke zu bekommen. Wenn es sich bei diesem Paar um ein Lehrerehepaar handelt, das obendrein ähnlich denkt, freut man sich schon auf das nächste Wiedersehen. Wir treffen uns in einer Pizzeria, die sich dermaßen gestylt präsentiert, dass wir die schlechte Stimmung bei unserem Gegenüber nicht sofort bemerken. In der indirekten Beleuchtung des Lokals hebt sich seine gebückte Figur unter einer Palme ab. Er streckt sich kurz durch, dann erklärt seine Frau: „Er ist seit gestern neuer EDV-Beauftragter der Schule. Heute hat ihm der Elternverein erklärt, dass er haftbar gemacht wird, wenn auch nur ein Kind in der Schule auf einer bedenklichen Seite surft. Und ja: Das gilt auch für Handys.“

Daraufhin habe er die ganze Nacht an einer Brandrede gearbeitet, die er in der Aula vor 1000 Schülern, Eltern und Lehrern vortragen will. Er hat sie uns mitgebracht und noch vor der Pizza zwischen Messer und Gabel platziert.

„Im Internet gibt es Programme wie CyberNanny, die die Kinder schützen sollen, indem sie Seiten sperren, wenn diese bedenkliche Worte aufweisen. Gängige Vokabeln stehen in Zusammenhang mit Sex und Gewalt. Solche Jugendschutzprogramme existieren auch für Smartphones. Ich kenne kein Kind, das eines installiert hat.“

Zwischen den Redesequenzen standen kursiv Notizen: Zeit für unruhiges Raunen lassen.

„Es würden nicht mehr allzu viele Seiten übrig bleiben, die noch besucht werden könnten. Denn selbst die nachmittäglichen Serien der öffentlich-rechtlichen Sender kommen ohne Sex nicht mehr aus. Man denke nur an Charlie Harper in „Two and a Half Men“, der über Frauen, Alkohol und Selbstbefriedigung philosophiert, unterbrochen vom Lachen eines unsichtbaren Publikums, damit auch der Zuseher die Pointen erkennt.“

Damit rechnen, dass ein paar Gören frech dazwischen lachen. Die Direktorin wird mit ernster Miene ihren Blick über die Zuhörerschaft schweifen lassen.

„Wer die Kinder unbeaufsichtigt mit dem Handy experimentieren lässt, muss sich darüber im Klaren sein, dass darin die ganze große weite Welt auf das Kind wartet. Mit ihren Schönheiten und Besonderheiten, mit Weisheiten, aber auch mit allen Abgründen.

Ein Smartphone ist heute gleichzeitig Internetzugang, Fernseher und Videothek. Schon allein der Zugang zum Internet bedeutet ja, alle möglichen Filme sehen zu können. Dennoch führe ich Fernseher und Videos extra an, weil unsere Generation mit dieser Bedrohung gewisse, meist reale Vorstellungen verknüpft: Gewalt, Mord, Pornografie bis hin zu surrealem spanischen Kino von Luis Buñuel. Was muten wir unseren Kindern bloß zu?“

Der Religionslehrer wird aufstehen und applaudieren und alle mitreißen. Zeit lassen, bis der Applaus sich wieder legt.

War die Pizza mit Rucola und Schinken die richtige Entscheidung? Hätten wir den Salat lieber extra dazu bestellen sollen?

„Unsere Mädchen und Buben haben unkontrollierten Zugang zu Filmsequenzen, in denen Sexualität in allen Details dargestellt wird. Wollen wir das? Glauben wir, dass unsere Kinder damit zurechtkommen? Das Gesehene einordnen und damit umgehen können? Oder sehen sich unsere Kinder diese Seiten ohnehin nicht an? Und glauben wir gleichzeitig an das Christkind? Schließlich hatte auch der eine oder andere unter uns in seiner Jugend angeblich Zugang zu Heften mit aufregendem Inhalt.“

Ja, der eine oder andere. Die Freunde vom Cousin unseres Nachbarn wären da exemplarisch zu erwähnen, sie mussten stundenlang im Quellekatalog nach Spuren von Nacktheit schürfen: Dirndln, Dessous und als Höhepunkt der verruchten Suche galten als Massagestäbe getarnte Vibratoren! Wurde uns erzählt.

Die Pizza kommt!

Wir schauen kurz auf. Ein Blick von der Lehrerin deutet an, dass der Text ihres Mannes jetzt Vorrang hat!

„Unsere Töchter und Söhne haben unkontrollierten Zugang zu Filmsequenzen, in denen Vergewaltigungen dargestellt werden, Frauen zur sexuellen Befriedigung geschlagen und erniedrigt werden. Wollen wir das? Glauben wir, dass unsere Kinder damit zurechtkommen? Das Gesehene einordnen und damit umgehen können? Oder sehen sich unsere Kinder diese Seiten ohnehin nicht an? Und glauben wir gleichzeitig an den Weihnachtsmann, mit Rudolf und Schlitten?“

Pause lassen. Die Wirkung des Gesagten auf die Zuhörer sacken lassen.

Ob ich die Pause auch für ein Stück Pizza nützen könnte …? – Nein.

„Unsere Mädchen und Buben haben unkontrollierten Zugang zu Filmsequenzen, in denen brutale Gewalt in allen Details gezeigt wird, Folter, Horror und Krieg. Auf Facebook kursieren immer wieder Enthauptungsvideos, zum Teil mit dem hehren Ziel, Menschenrechtsverstöße anzuprangern. Ich frage euch: Wollen wir das wirklich? Glauben wir, dass unsere Kinder damit zurechtkommen? Das Gesehene einordnen und damit umgehen können? Oder sehen sich unsere Kinder diese Seiten ohnehin nicht an? Glauben wir gleichzeitig an den Osterhasen?“

Vom Schluchzen in den ersten Reihen nicht beirren lassen.

Und vom Schinkengeruch auch nicht …

„Nicht, dass es derlei Videos nicht geben soll. Sie sind Ausdruck der Wirklichkeit. Aber wissen unsere Kinder auch, dass sie zu uns kommen können, wenn sie Fragen haben, wenn sie etwas verstört? Vielleicht müssen wir ihnen heute noch viel öfter als früher die Frage stellen, ob alles in Ordnung sei.“

Zeit für kleine Gespräche lassen? Unruhe?

Der Kellner fragt, ob mit den Speisen irgendetwas nicht in Ordnung sei. Ja, könnte man antworten, sie sind noch nicht gegessen.

„Oder vielleicht sollten wir genauso offensiv wie das Internet agieren und alles ansprechen. Wir riskieren zwar, von unseren Kindern das Prädikat ‚super-peinlich‘ verliehen zu bekommen, aber sie wissen dann wenigstens, dass wir im Fall des Falles Ansprechpartner sein können. Der ‚Fall des Falles‘ kann aber auch noch andere Gesichter haben. So kann es passieren, dass sich einige Klassenfreunde gar nicht als Freunde erweisen und nachteilige Fotos im Internet verbreiten, vielleicht auch Gemeinheiten schreiben. Wurde man früher höchstpersönlich in den Mistkübel gestopft, so machen jetzt auch noch die dazugehörigen Fotos die Runde. Und schon darf man sich als Opfer von „Cyber-Mobbing“ betrachten. Das harmlose Ende wäre, wenn sich Betroffene in die Enge gedrängt fühlen und keine Hilfe bekommen.“

Spätestens jetzt einen Sack herumreichen, in den alle ihre Handys einwerfen können.

„Nicht immer unproblematisch ist es, wenn beispielsweise Fremde Kontakt zu den Kindern aufnehmen. Das können andere Kinder sein, die zu einer Party einladen. Aber nicht hinter jedem ‚Kind‘ im Internet steckt ein Kind. Es kann sich auch um eine Tarnung handeln, um das Vertrauen von anderen Kindern zu gewinnen. Im Hintergrund schlummern andere Absichten. Wobei das Vorhaben, das Kind zum Abschluss einer Spielzeugversicherung zu bewegen, eher selten vorliegen wird und zu den harmlosen Bedrohungen gehört. Dabei ist es nicht auszuschließen, dass es auch einmal um Geld geht. Ein paar Mal zu oft auf den ‚Ja‘-Button gedrückt und die monatliche Handyrechnung wird zum nächsten Ersten auf die Tagesordnung gesetzt, wenn das Taschengeld fällig wäre.“

Oder eine Pizza … Wir werden wohl nach dem „Essen“ noch einen Halt bei einem amerikanischen Fast-Food-Lokal machen …

Schluss-Offensive! Mit Elan! Körpersprache!

„Die wirklich fiesen Szenarien aber haben mit den Schlagworten ‚Missbrauch‘, ‚Pädophilie‘ und vielleicht sogar ‚Entführung‘ zu tun. Kann man die Kinder also schützen, indem man eine Jugendschutz-Software auf ihrem Handy installiert? Gegen die wirklich ‚Bösen‘ im Internet stellt sie wahrscheinlich keinen ausreichenden Schutz dar, wenn jugendliche Neugier auf kriminelle Energie trifft. Vermitteln wir den Kindern also rechtzeitig Medienkompetenz! Darüber hinaus helfen noch dieselben Maßnahmen wie im analogen Leben: Aufklärung und Aufmerksamkeit.“

Applaus, Applaus, Applaus! Oder Abgang in die Frührente.

Wir klatschen und hoffen, dass die Welt noch zu retten ist. Wenn schon der Abend (samt Pizza) lauwarm zu Ende geht.