Kraniche

Der Besuch der grauen Eminenzen

Sie ziehen wieder. Aus dem Süden hinauf in die Wildnis des hohen Nordens, in ihre Brutgebiete. Unterwegs dorthin verharren die stattlichen Vögel jedes Jahr an den gleichen Rastplätzen. Mehr als 50 dieser Orte liegen in Deutschland. In weitem Bogen schweben die Wanderer dort ein und lassen ihre archaischen Trompetenrufe hören. Der Frühling ist die Zeit, den Grauen Kranichen zu begegnen

Von Anke Sparmann

Seit fast 20 Jahren erforscht Günter Nowald Kraniche. Er kann stundenlang über die Vögel reden, alles hochinteressante Details, doch am Ende sagt er einen Satz, der aufhorchen lässt. Nowald sagt: „Nach Kranichen kann man verrückt werden.“ Wie eigenartig. Verrückt nach einem Vogel. Und Nowald hat das nicht nur so dahingesagt, es ist ihm ernst. Anscheinend gibt es für den Kranich-Tick sogar eine Art Fachbegriff: „Crane crazy“ nennen sich die Menschen, die dem Vogel anheimgefallen sind. Irgendetwas an dem Tier berührt sie. Irgendetwas an ihm macht sie froh. Aber was?

Die naheliegende Antwort wäre, dass Kraniche die größten in Deutschland heimischen Vögel sind. Ausgewachsen messen sie in der Höhe 1,30 Meter, so viel wie ein achtjähriges Kind. Ihre Flügel spannen sich über mehr als zwei Meter. Diese Flügel tragen die Kraniche sehr weit, manchmal ohne Landung 1200 Kilometer, bei starkem Rückenwind schaffen sie 130 Kilometer pro Stunde. Also Größe, Ausdauer, Geschwindigkeit? Oder gibt es noch andere Gründe für die Kranichverrücktheit? Gründe jenseits ihrer beeindruckenden Leistungen.

Es hat geregnet an diesem Morgen, doch gegen Mittag riss die Wolkendecke auf. Günter Nowald öffnet das Fenster, und von draußen dringen Kranichrufe in den kleinen Konferenzraum. Nowald leitet das Kranich-Informationszentrum in Groß Mohrdorf. Das Gebäude, in dem das Zentrum untergebracht ist, war früher eine Molkerei. Manches in dieser Gegend war früher etwas anderes als heute. Weite Teile der Landschaft etwa dienten zu DDR-Zeiten als militärisches Sperrgebiet oder als Intensivweiden für Rinder. Heute gehören sie zum Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft.

Günz, Kinnbackenhagen, Altenpleen, solche Namen tragen die Dörfer, an denen man von Groß Mohrdorf aus vorbeifährt. Dazwischen erstrecken sich Wald, Wiesen, Getreidefelder und am Rand manchmal ein Streifen Blau. Das ist die Ostsee, deren Saum hier Bodden heißt und so flach ist wie ein Kinderbecken im Schwimmbad.

Seit Menschengedenken fliegen Graue Kraniche auf ihrer Zugroute durch diese Region. Im Frühjahr unterbrechen sie in der Boddenlandschaft ihre Wanderung in die Brutgebiete im hohen Norden, im Herbst den Flug in den warmen Süden.

Und seit die Rinder nicht mehr so dicht stehen und die Ostsee frei von deren Gülle ist, legen mehr und mehr Vögel hier einen Zwischenstopp ein. Fast 60.000 waren es im Jahr 2006 – für Deutschland eine unglaublich hohe, nie zuvor verzeichnete Zahl. Beste Bedingungen, scheint es, für eine Begegnung zwischen Mensch und dem „Vogel des Glücks“.

Doch: Während der Mensch die Nähe zum Kranich sucht, sucht der extrem scheue Kranich den Abstand zum Menschen. 300, 400 Meter beträgt diesem gegenüber die Fluchtdistanz (Autos hingegen werden oftmals toleriert). Überwindet jemand zu Fuß die kritische Grenze, geschieht Folgendes: Der Hals des Kranichs, der ein „S“ formt, solange der Vogel entspannt ist, streckt sich. Das Tier wippt kurz in den Knien. Dann fliegt es fort.

Thomas Müller kennt die Gesten und Sätze der Enttäuschung. Das Achselzucken, den kindischen Ausruf: „Die sind ja so weit weg!“ Viele Neugierige, sagt Müller, reisten mit riesigen Erwartungen an. Zug der Kraniche! Natürlich, das sei ein spektakuläres Naturereignis. Doch Zeit, dieses Ereignis zu einer Erfahrung werden zu lassen, nähmen sich die Leute dann nicht.

Thomas Müller, 35, hat gerade sein Naturschutzstudium abgeschlossen. Nun jobbt er in der Region als Kranich-Ranger, wobei diese Bezeichnung irreführt, weil er sich in erster Linie um Menschen kümmert. Dazu bringt er die Besucher zunächst in das der Kranichstation benachbarte Hohendorf zum „Utkiek“. Der Utkiek, eine ehemalige LPG-Scheune, ist heute eine Aussichtsgalerie. Drinnen die Menschen, draußen die Vögel, dazwischen eine 20 Meter breite Panoramascheibe.

Draußen: Schwer zu sagen, wie viele es sind. Schnell verschätzt man sich. 500 vielleicht? „2000“, überschlägt Müller nach einem kurzen Blick. Auf dem Feld liegt reichlich Futter aus, deshalb haben sich die Kraniche hier versammelt. 300 Gramm braucht ein Tier pro Tag, zwei Hand voll. Damit die Vögel nicht die frisch eingedrillte Saat aus den Ackerfurchen picken, werden sie auf solchen Ablenkflächen abgespeist. In Hohendorf bekommen sie Mais oder Weizen. Man könnte ihnen aber auch Fische, Frösche, Schnecken, Insekten, Hafer, Bohnen oder Erdnüsse hinwerfen – Kraniche fressen alles. So ist das bei Reisenden, heute hier, morgen dort. Wählerisch zu sein, könnte den Hungertod bedeuten.

Drinnen: Kranichgucker von der geduldigen Sorte. Wie Angler harren sie auf eine entspannte Art aus. So, als wäre es gleichgültig, ob das Erwartete eintritt oder nicht. Mehr Männer als Frauen. Mehr Alte als Junge, aufgeschlossen, hilfsbereit. Thomas Müller baut ein langes Fernrohr auf, ein Spektiv. Dann lehnt er sich an die Fensterbrüstung, verschränkt die Arme über der Brust und fragt wie beiläufig: „Sehen Sie das Jungtier?“ Man blickt durch das Spektiv und spürt, dass Müller einen von der Seite ansieht. Um ihn nicht zu enttäuschen und sich selbst keine Blöße zu geben, schaut man weiter. Irgendwo muss das Jungtier ja stecken.

Kranichweibchen und -männchen sind äußerlich nicht zu unterscheiden. Beide tragen eine Schleppe. Schwanzfedern, glaubt der Laie. Tatsächlich handelt es sich um verlängerte Armschwingen. Als Accessoire in Kostümfilmen sind die Federn beliebt, in der Hutmode waren sie einst unerlässlich und brachten den Kranich fast um seine Existenz. Dem Jungtier fehlt die Schleppe noch, zudem ist sein Gefieder nicht völlig grau, sondern braun durchwirkt, der Kopf sandfarben. Und deshalb erkennt man das Junge nicht auf Anhieb, obwohl es bereits so groß ist wie die Altvögel. Die Augen weigern sich zunächst, etwas wahrzunehmen, von dem der Verstand noch nicht weiß, dass es in dieser Größe existiert.

Ein Jungtier auf dem Feld zu sehen – nichts offenbart so sehr das Kranichleben, in dem sich fast alles um das Wohl und den Zusammenhalt der Kleinfamilie dreht. Ein Kranichschwarm bildet eine Gemeinschaft auf Zeit. Unterwegs bedeutet die Gruppe Schutz. Am Ziel aber werden aus den Weggefährten Konkurrenten um Land.

Ein Kranichpaar beansprucht ein Gebiet von rund 80 Hektar – die Größe eines mittleren Bauernhofes. Kraniche sind Bodenbrüter. Am liebsten häufen sie ihre Nester in Erlenbrüchen auf, geschützt unter einem Baum, in knietiefem Wasser.

Paarung und Brut geht die Balz voraus, bei der die Kraniche ihren legendären Tanz vorführen, Pirouetten drehen, sich verbeugen, mit den Flügeln schlagen. Es ist ein Tanz von seltener Anmut und Grazie, doch was ihn wirklich herzzerreißend macht, ist der Übereifer, mit dem er aufgeführt wird.

Wie selbstverliebt zeigt das Tier eine Figur, bricht unvermittelt ab und eilt auf Zehenspitzen zum nächsten Element, als hätte es zwischendurch kurz die Choreografie vergessen, wolle bei der nächsten Figur aber keinesfalls einen Schritt auslassen. Sein Tanz allein wäre Grund genug, dem Kranich rettungslos zu verfallen. Schmerzlich schade, dass man während der Zugzeit für gewöhnlich höchstens kurze Ausschnitte des unerschöpflichen Repertoires zu sehen bekommt.

Geschlechtsreif werden Kraniche mit drei, vier Jahren. Dem dann gewählten Partner bleiben mindestens acht von zehn Tieren ein Leben lang treu. Der Hauptgrund für eine Trennung ist ausbleibender Bruterfolg. Umgekehrt erklärt sich das monogame Leben wahrscheinlich daraus, dass ein eingespieltes Team sein Brutrevier besser verteidigen kann.

Zimtfarbene Eier legt das Weibchen ins Nest, meistens zwei Stück. 30 Tage lang werden sie von beiden Partnern abwechselnd bebrütet, dann schlüpfen die Jungen. Sie sind Nestflüchter: Fast vom ersten Lebenstag an trippeln sie mit den Eltern durchs Revier. Nur einen Sommer lang währt die Kranich-Kindheit. Dann begleitet das Jungtier die Alten vielleicht noch auf dem Herbstzug. Doch spätestens im Frühjahr darauf scheuchen es die Eltern davon.

Wer Kraniche beobachtet, vergisst die Zeit, den Raum, die kalten Füße. Was sind dringende Steuerangelegenheiten gegen die Dramen, die sich auf dem Hohendorfer Acker abspielen? Ein Seeadler rüttelt über der Kranichschar, schwachen Tieren kann er durchaus gefährlich werden. Mit lang gereckten Hälsen drängen sich die Altvögel an ihr Junges. Ein Rudel Rehe beschreitet die Kranichflur so selbstverständlich, als handele es sich hier um eine einsame Lichtung.

Und plötzlich stoßen sie von oben durch die lockeren Wolken: noch mehr Kraniche, der Himmel hängt voller Kraniche, Hunderte müssen es sein, Tausende, Abertausende!

Doch dann sagt Thomas Müller mitten in diesen Rausch hinein: „Es sind Gänse. Die kurzen Beine. Blässgänse.“

Kranichgeschichten. Jeder kann mindestens eine beitragen. Eine Frau erzählt, wie sie einmal in Schweden vom Weg abkam, tiefer und tiefer in den Wald geriet und unvermittelt vor einem brütenden Kranichpaar stand. „Das war wohl Bestimmung.“

Ein pensioniertes Lehrerpaar aus dem Ruhrgebiet kampiert im Wohnmobil vor der Scheune. So wie andere im Urlaub immer wieder nach Mallorca fliegen, fahren die zwei jedes Jahr auf diesen Schotterparkplatz in Hohendorf. Für sechs Wochen.

Der Tagesrhythmus der Kraniche gibt dem Tag des Kranichtouristen Struktur. Etwas geschieht, ohne dass ihm selbst dabei eine Entscheidung abverlangt wird; für eine Weile kann das sehr erholsam sein. Am späten Nachmittag sind die meisten Tiere satt. Sie verlassen die Futterfläche und fliegen auf die benachbarte Wiese. Wie sie starten, so landen sie auch: immer gegen den Wind. Auf den letzten Metern vor dem touchdown baumeln die Beine herab. Der Vogel schaukelt hin und her wie eine Cessna kurz vorm Bodenkontakt. Sanft setzt er auf.

Die Tiere putzen sich oder dösen eine Weile vor sich hin. Komfortverhalten nennt Thomas Müller das; lange währt die Ruhe nicht. Wie Kinder, die nicht still sitzen können und in der Bewegung ein Ventil für ihre Energie suchen, fangen die Kraniche zu rumoren an. Sie schlagen mit den Flügeln, tänzeln, werfen Steine in die Luft. Bald kann der Erste die innere Unruhe nicht mehr beherrschen. Er macht zwei, drei raumgreifende Schritte, seine großen Flügel wölben sich wie ein Cape im Wind. Dann hebt er ab.

Sein wissenschaftlicher Name malt den Ruf des Grauen Kranichs nach: Grus grus. Es ist ein tiefer, dunkler Ruf, mit einem lang gerollten „R“. Zwischen den dunklen Tönen hört man ein feines helles Fiepen. Es kommt aus der Kehle der Jungtiere. Ihre Luftröhre hat sich noch nicht genug verfestigt, um den Trompetenton zu erzeugen; früher glaubten die Menschen, Kraniche trügen auf ihren Wanderungen Singvögel in ihrem Gefieder mit.

Während ihrer strammen Flüge – in Eins- oder V-Formationen, um den Luftwiderstand zu minimieren – können sich die Tiere schlecht umschauen. Deshalb wohl rufen sie andauernd, um sich zu versichern, dass ihre Familie noch in der Nähe ist. Manchmal sieht man einen Kranich, der den Anschluss zu den Seinen verloren hat. Er rudert auf der Stelle oder dreht in der Luft kleine Runden, und er ruft und ruft. „Ich bin hier, wo bist du?“, übersetzt das Müller.

Oft sagen die Leute nach einer Führung zu ihm: „Herr Müller, also, Respekt vor Ihrer geraden Art.“ Der Ranger versucht mit jedem Wort, der Natur gerecht zu werden. Er beschönigt nichts. Lobt man beispielsweise den herrlichen Wald, macht er auf dessen fehlenden Saum aufmerksam. Und Müller holt sein Fernglas nicht nur für Kraniche heraus. Goldregenpfeifer, Brachvögel, Kiebitze – der junge Mann bestaunt sie alle und alle mit der gleichen Aufmerksamkeit. Wenn er einen Käfer sieht, den er nicht kennt, lässt ihm das keine Ruh. Er schlägt nach, recherchiert Art, Vorkommen, Verhalten – über Tage kann sich Müller dann in der kleinen weiten Käferwelt verlieren.

Unterwegs mit ihm beschleicht einen manchmal der Gedanke, der Kranich könnte nur eine Projektionsfläche für Sehnsüchte sein. So schön, so groß, so stark – so fern; eine unreife Liebe. Und dass, bei genauem Hinsehen, all das der Vogel-Majestät Zugeschriebene auch in unscheinbareren Wesen zu finden sei. Aber vielleicht brauchen viele, die sich von der Natur entfernt haben, eben doch die starken Signale, um überhaupt noch etwas von der Natur wahrzunehmen.

Und für manche sendet selbst der Kranich zu schwach. „Sagen Sie mal“, hat eine Frau neulich Thomas Müller gefragt, „wozu ist so ein Kranich denn eigentlich nütze?“ Müller sagt, da sei auch ihm nichts mehr eingefallen.

Wer aber bereit ist, vor Tau und Tag aufzustehen, mit der Taschenlampe durch einen zappendusteren Wald zu stolpern, um schließlich am Rand des Boddens Kranichen beim Erwachen zuzugucken, stellt solche Fragen nicht mehr.

Mit einem Gewicht von sechs Kilogramm sind Kraniche zu schwer, um auf Bäumen zu sitzen. Damit sie im Schlaf nicht Beute von Räubern wie zum Beispiel dem Fuchs werden, übernachten sie in knietiefem Wasser.

Federkleid an Federkleid, so stehen sie da und bilden einen dicken schwarzen Balken gegen das Grau des Morgens. Bald beginnt der Balken sich aufzulösen. Langsam zunächst. Dann stiebt er auf. Die Folge einer Kettenreaktion: Das Tier, das sich stark fühlt und Bewegungsdrang hat, setzt sie in Gang. Es fliegt voran und zieht die anderen mit sich. Die Hälse lang, die Beine gestreckt bis in die Zehen: ein Wimpernschlag, zwei. Weg sind sie. Nur ihre wilden Schreie füllen noch lange die Luft.

Es heißt, Kraniche erfasse bereits Tage, bevor sie zu ihrer Wanderung in den Süden starteten, eine große Nervosität. Die Zugunruhe. Ihre Rufe würden lauter. Hungriger. Nachts fänden die Tiere nicht in den Schlaf. Sie wittern offenbar Veränderungen der Wetterlage, wissen, wann die Winde günstig stehen werden, um sie zu ihrem Ziel zu tragen.

Wenn dann die Zeit des Aufbruchs gekommen ist, lassen sie sich von der Thermik in die Höhe tragen, 2000 Meter und darüber schrauben sie sich und folgen dort ihrem inneren Kompass.

Wahrscheinlich richten sich die Vögel bei ihren Flügen nach dem Magnetfeld der Erde aus. Außerdem orientieren sie sich an Landmarken, an Bergen, Seen, an der Biegung eines Flusses. Gegen Abend, wenn die Sicht nachlässt, landen sie – an Orten, die in ihrer Erinnerung als Schlafplätze verzeichnet sind.

Seit dem Beginn des Klimawandels haben sich mit den warmen Wintern auch die Zuggewohnheiten der Kraniche verändert. Sie ziehen später in den Süden und oft gar nicht mehr so weit. Ein großer Teil der Westpopulation überwintert mittlerweile in Frankreich statt in Spanien, was den Vögeln den anstrengenden Flug über die Pyrenäen erspart.

Sie kehren im Frühjahr eher zurück, weil der Zugweg nun kürzer ist; die Ersten sammeln sich bereits im Februar in der Vorpommerschen Boddenlandschaft. Einige bleiben gleich im Norden: Tausende Kraniche haben den Winter 2006/2007 in Deutschland verbracht.

Dabei leidet die Art nicht etwa unter dem Klimawandel. Im Gegenteil. Schneller wieder im Brutgebiet zu sein (oder dieses gar nicht erst zu verlassen), hat für sie erhebliche Vorteile. Kranichpaare können früher beginnen zu brüten; sollte dann ihr erstes Gelege verloren gehen, haben sie genügend Zeit für einen zweiten Versuch. Dass sich die Zahl der Grauen Kraniche in den vergangenen 30 Jahren in Deutschland verfünffacht hat, führen Wissenschaftler – neben dem verbesserten Naturschutz – auf die verlängerte Brutsaison zurück.

Wie trifft der Kranich die Entscheidung, in den Süden zu ziehen oder zu bleiben? Niemand weiß es. Jüngere Forschungsergebnisse deuten aber darauf hin, dass Kraniche weit weniger uralten Verhaltensweisen verhaftet sind, als lange angenommen. Statt der Gruppe beobachteten Kranichforscher in letzter Zeit vermehrt das Individuum. Wie groß ist sein Revier? Kehrt es immer wieder an die Orte seiner Vorfahren zurück? Bleibt sich ein Kranichpaar tatsächlich ein Leben lang verbunden?

Jungtiere wurden gefangen und beringt. Eine Aktion, die völlig sinnlos wäre, wenn es nicht einen Haufen Kranich-Verrückter gäbe, die mit dem Fernglas sämtlichen Vögeln auf die Füße starren und jede Sichtung melden. So sind über die Jahre individuelle Kranich-Biografien entstanden. Wie die von Joschka und Schröder.

Die zwei Brüder sind der Nachwuchs von einem der rund 6000 Brutpaare, die es in Deutschland mittlerweile gibt. Sie entschlüpften im Frühjahr 2003 in Völkshagen in Mecklenburg-Vorpommern ihren Eiern, im Juli jenes Jahres erhielten sie von den Ornithologen ihre Ringe. Ihren ersten Winter verbrachten die beiden gemeinsam mit den Eltern in Spanien. Dann, auf dem Frühjahrszug, trennten sich die Wege von Joschka und Schröder.

Joschka kehrte in die Nähe seines Herkunftsortes zurück. Schröder war vorübergehend verschollen. Er tauchte dann im April 2005 bei Kristianstad in Schweden auf, 230 Kilometer fern der Heimat. Vermutlich ist das Verhalten der Brüder typisch; vermutlich steigt ein Teil des Kranichnachwuchses in die Fußstapfen der Eltern, ein anderer schließt sich Fremden an. So durchmischen sich ständig die Gene der verschiedenen Populationen.

Im Gespräch mit Friedhelm Niemeyer kommen zwischendurch kurz Zweifel auf, ob das Stichwort zu Beginn der Unterhaltung wirklich Kraniche hieß. Niemeyer redet von „Avantgardisten“. Sie seien so dynamisch, sagt er, „sie probieren was aus“.

Der 54-Jährige sitzt in einem Flachdachgebäude in der Diepholzer Moorniederung, ganz im Nordwesten Deutschlands, in der tiefsten niedersächsischen Provinz. Er arbeitet für die Natur- und Umweltschutzorganisation BUND. Deren Mitglieder sind seit Jahrzehnten dabei, einst für die Landwirtschaft trockengelegte Moorflächen wieder zu vernässen. Seit einigen Jahren probieren Kraniche solche Flächen tatsächlich aus. Von Aussichtstürmen, die noch nach frischem Holz riechen, kann man sie dabei beobachten. Es ist, als hätte man ein Eulenloch in den Hausgiebel gebohrt, und plötzlich zöge dort wahrhaftig eine Eule ein.

Der Graue Kranich breitet sich immer weiter nach Westen aus. England zum Beispiel kam in den vergangenen Jahrhunderten auf der Landkarte im Kranichkopf praktisch nicht vor. Mittlerweile brüten sechs Paare auf der Insel. Die Niederlande haben ein Brutpaar. Ein Brutpaar. Was mag die beiden Vögel dazu bringen, sich im Frühjahr vorzeitig aus dem Zugschwarm zu verabschieden?

Die Diepholzer Moorniederung zeichnet sich, von Kranichen abgesehen, auch dadurch aus, dass einen nach Sonnenuntergang nichts davon ablenkt, in Ruhe zu lesen. Schon nach den ersten Seiten des Romans „Das Echo der Erinnerung“ erweist sich, dass sein amerikanischer Autor Richard Powers „crane crazy“ sein muss. „Sie schweben ein über abgeerntete Felder“, schreibt Powers, „diese gefiederten Dinosaurier mit ihren Trompetenrufen, ein letztes, bedeutendes Relikt aus der Zeit vor dem Ich.“

Kraniche kennen kein: ich habe, ich werde, ich will. Fast nie sieht man ein Tier allein. Und wenn, dann ist es auf der Suche nach seinem Nächsten.

Nachtrag. Es war der letzte Abend. Auf dem Aussichtsturm im Diepholzer Moor stand noch ein älterer Herr mit einem abgegriffenen Fernglas, Manfred Heynen. Es dämmerte schon, als die Kraniche eintrafen, wir freuten uns an ihren vagen Schatten. Wenige Tage später schickte Heynen einen Brief. Er hatte ein Foto von jenem Abend beigelegt und schrieb von der „Vollkommenheit und Weisheit, die in der Natur verborgen ist“. Unterzeichnet: „Manfred Heynen, crane crazy.“ image

Aus GEO Nr. 04/2007