Milliarden Vögel schweifen im Herbst zum ersten Mal in die Ferne. Die Richtung, die sie einschlagen müssen, ist ihnen angeboren. Aber sie kennen weder den Weg noch das Ziel. Manche werden von Altvögeln geführt, doch für die meisten ist es ein Aufbruch ins Unbekannte. Sie folgen allein ihrem inneren Rhythmus und den Weisungen der Sterne
Man kann nicht immer Recht behalten, besonders nicht in der Vogelzugforschung. Für Experten dieser Disziplin gehört es quasi zum guten Ton, regelmäßig von ehemals verbürgten Erkenntnissen abzurücken und freimütig einzugestehen, was alles „wir noch immer nicht sagen können“. Es ist beinahe so, als freuten sie sich, ungelösten Rätseln die Ehre zu geben.
Dieses Bekenntnis zur Wahrheit „in progress“ geht, wie so manches, auf Aristoteles zurück. Just er war es nämlich, der die Migrationsforschung vor gut 2300 Jahren mit einem Irrtum begründete. Die meisten Vögel, so lehrte er, würden den Winter verschlafen.
Dabei weiß doch jeder, dass Zugvögel im Herbst gen Süden fliegen, also ziemlich aktiv sind. Und im Frühling erst recht. Bis in den Schlaf hinein höre ich die Rufe: Ahngang, gaa-gaa, ahngang, gaa-ga; wie von einem fliegenden Fagottorchester tönt es zum offenen Fenster herein. Ich bin hellwach und lächele, während die nasalen Stimmen nach Norden wandern – und bald ganz verhallen. Es ist stockfinster, drei Uhr morgens, und mir geht durch den Kopf, wie wunderbar es ist, dass ich hier wohne, genau hier auf ihrem Weg nach Norden. Wie wunderbar, dass es Wildgänse gibt und diesen Zug durch den nächtlichen Himmel über mir. Sie haben es eilig. Sie fliegen nonstop, um als „early birds“ vor vielen anderen anzukommen und den besten Brutplatz zu besetzen.
Wer jetzt zweifelt, wem er glauben soll, weil Aristoteles ja nicht irgendjemand ist, sondern eine Autorität auf vielen Gebieten, kann sicherheitshalber in einem ornithologischen Fachbuch nachschlagen und erfährt vermutlich ausführlicher als erwartet:
• welche Ziele verschiedene Vogelarten ansteuern – Spanien zum Beispiel oder Indien, Südafrika, Venezuela oder sogar die Antarktis;
• welche Streckenrekorde sie dabei aufstellen – manche Gartengrasmücken, Steinschmätzer, Sumpfrohrsänger bringen es beim Hin- und Rückzug auf 30.000, Küstenseeschwalben auf bis zu 50.000 Kilometer pro Jahr;
• welche Routen sie einschlagen – ein weit verzweigtes Netz unsichtbarer Highways umspannt den Luftraum der Erde; und
• wie viele Vögel überhaupt weltweit zwischen ihren Brut- und Feriengebieten zweimal im Jahr hin- und herpendeln: Es sind etwa 50 Milliarden, großzügig geschätzt.
Aber nicht zu großzügig. Denn die Leidenschaft hinter Feldstechern, der Eifer beim Beringen und die Aufzeichnungen nächtlicher Radarechos kennen keine Grenzen.
Peilsender mit Solarbetrieb, wie Techniker sie heute im Reiserucksack einzelner Fernwanderer verstauen, melden mehrmals täglich via Satellit die global erreichte Position. Für belastbare Spezies wie Albatrosse, Kraniche, Adler, Bussarde und Schwäne ist mit dem auf 20 Gramm Standardbriefgewicht geschrumpften „Flugschreiber“ das Zeitalter des gläsernen Zugvogels angebrochen. Vor allem für den Weißstorch.
Keine Art wird so umfassend observiert, seit die Vogelwarte Radolfzell, eine Abteilung der Max-Planck-Forschungsstelle für Ornithologie, 1991 damit angefangen hat, einzelne Exemplare vor dem Start mit Sendern auszustatten.
Schon nach den ersten Funkkontakten von unterwegs mussten die daheim gebliebenen Forscher ihr Bild des gemächlich gen Süden bummelnden Storchs korrigieren. Zügig legen die großen Vögel die 4600 Kilometer bis Zentralafrika in knapp drei Wochen zurück. Acht bis zehn Stunden sind sie täglich in der Luft, gleiten in warmen Aufwinden übers Land und schaffen Tagesetappen von 250 Kilometern. Gegen Abend landen sie und segeln am nächsten Morgen weiter, sobald der erste Warmluftfahrstuhl seinen Betrieb aufnimmt und sie in die Höhe trägt.
Nicht alle Weissstörche verhalten sich gleich. Zwar kehrt die Mehrzahl Jahr für Jahr „ortstreu“ ins selbe Winterquartier zurück. Aber keine Regel ohne Ausnahme: Einer der Radolfzeller Vögel wählt jedes Jahr ein neues Ziel. Mal zieht es ihn in den Tschad, mal nach Tansania, dann segelt er sogar bis nach Südafrika weiter – rund 5000 zusätzliche Kilometer. So viel Individualismus verdient einen Namen. „Prinzesschen“ heißt die Eigenwillige, deren Eskapaden Ulrich Querner, Mitarbeiter der Vogelwarte, in einer gesonderten Zugkarte regelmäßig auf den neuesten Stand bringt.
Prinzesschen gehört zu den sechs Vögeln, deren Anonymität im Experiment aufgehoben wird. Mit Valinka, Felix, Annamarie, Sophia und Jonas ist sie jeden morgen ab 7.30 Uhr online, wenn Querner ihre Ortsbestimmung – wie er sie Minuten zuvor vom ARGOS-Satelliten empfangen hat – per Computer weiterleitet an www.storchenzug.de. Auf einer interaktiven Karte dieser Webseite ziehen die sechs Vögel voran, ungeduldig erwartet von Tausenden von Schülern und Studenten, den Nils Holgerssons unserer Zeit, die „ihre“ Weißstörche von Tag zu Tag begleiten.
Über solche Informationsquellen hat Aristoteles zu seiner Zeit nicht verfügt, klar. Immerhin, die Möglichkeit, dass einige Arten wie Kraniche und Pelikane tatsächlich vor der Kälte davonfliegen, hat er zumindest in Betracht gezogen und die vogelkundliche Nachwelt für lange Zeit in einem Dilemma zurückgelassen.
Gut zwei Millenien lang ist es beim Sowohl-als-auch geblieben, ehe der Winterschlaf-Theorie die Anhänger ausgegangen sind, und bis der dänische Lehrer H. C. C. Mortensen, der vielen Spekulationen und Anekdoten aus nicht überprüfbaren Quellen leid, im Jahr 1899 eine Methode ersann, von der er sich verlässliche Antworten versprach: Er fragte die Vögel.
Dazu fing er so viele wie möglich, befestigte einen markierten Metallring mit seiner Adresse am Unterschenkel jedes Tieres, notierte sich Art, Alter, Geschlecht, Datum und Ring-Kennzeichen und ließ sie wieder frei. Bald geschah, worauf er gehofft hatte: Rückmeldungen trafen ein, Briefe aus Ländern und Kontinenten, in denen Mortensen noch nie gewesen war. Die Absender schrieben ihm, wann und wo sie die – meist toten – Vögel gefunden hatten, und fügten die Ringe bei. Beweisstücke, an denen es nichts zu deuten gab.
Mortensen brauchte nur ein Lineal zu nehmen und auf seiner Weltkarte zwischen dem Ort der Beringung und dem des Fundes eine Linie zu ziehen. Schon zeichneten sich Zugrichtung, Route und Ziel ab – nur ungefähr zwar, aber doch genauer als je zuvor.
Was der Däne in Gang setzte, ergriff die Ornithologen wie ein Fieber, wuchs an zu einer weltweiten Bewegung. Beringungsstationen wurden eingerichtet, Vogelwarten gegründet. Immer mehr beteiligten sich an diesem Experiment, das endlich harte Daten lieferte und damit ein solides wissenschaftliches Fundament.
Bis heute haben Biologen und freiwillige Helfer Hunderte Millionen Vögel beringt und aus mehr als zwei Millionen Rückmeldungen eine globale Langzeitbelichtung des Vogelzugs erhalten. Je mehr Ringe zusammengekommen sind, um so schärfer, um so fantastischer ist das Bild geworden.
Kein Meer, kein Gebirge, keine Wüste, kein Eisfeld hält Vögel auf bei ihrem Zug zwischen Brutgebiet und Winterquartier. Manche Arten fliegen zweimal im Jahr von Pol zu Pol, andere nur einige 100 Kilometer weit, manche wandern ausschließlich bei Tag, andere bei Nacht, einige im Familienverband oder im Schwarm, die meisten jedoch einzeln.
Auf der Spur der Ringe haben Ornithologen verfolgt, ob Vögel in breiter oder schmaler Front ziehen, wo sie abbiegen, wo sie rasten. Nach und nach ist es gelungen, ein unvorstellbar komplexes System aus unterschiedlichen Zielen, Routen und Strategien zu entwirren – nicht nur einzelner Spezies, sondern auch verschiedener Populationen ein und derselben Spezies.
Vom Weißstorch etwa weiß man, dass eine „Westpopulation“ über Gibraltar ins westliche Zentralafrika zieht; daneben startet eine „Ostpopulation“ – zu der auch Prinzesschen gehört. Sie wählt den Weg über den Bosporus, Israel, die Sinai-Halbinsel, Ägypten nach Ost- und Südafrika.
Weil Forscher jeden einzelnen Vogel beim Beringen kenntlich und damit unverwechselbar machen, können sie bestätigen, was bis vor kurzem nur als rührende, aber unbelegte Geschichte kursierte. Ja, es ist wahr, dass dieselbe Rauchschwalbe aus ihrem zentralafrikanischen Feuchtgebiet fast bis auf den Tag genau an einem friesischen Kuhstall ihr altes Nest bezieht. Es stimmt, dass der Fliegenschnäpper vom Vorjahr zur selben Zeit am selben Nistkasten eintrifft.
Für Punktlandungen nach Transkontinentalflügen gibt es Dutzende von Beispielen. Ebenso für Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit über Generationen hinweg. Bis zu 38 Jahre hintereinander und mit höchstens vier Tagen Verspätung sind Dunkelwasserläufer in Helsinki eingetroffen, andere Watvögel in Sibirien, Grasmücken im Rheinland.
Zugvögel schätzen das Bewährte. Nicht nur am Brutplatz und im Überwinterungsgebiet beanspruchen die Gewohnheitstiere ihr vorjähriges Territorium. Auch unterwegs machen viele im selben Gebüsch, Wäldchen oder Schlafbaum Pause. Von Fußringen abgelesene Zahlen- und Buchstabenkombinationen addieren sich so zu verblüffenden Momentaufnahmen im Vogeldasein.
Es bleiben Unschärfen. Aus dünn besiedelten Wäldern, Tundren, Wüsten und Hochgebirgen bekommen die Beringer selten Post. Wie viele Daten mitsamt ihren geflügelten Trägern unterwegs spurlos verschwinden – in Seen, Flüssen, Meeren oder in den Schlünden unzähliger Beutegreifer –, lässt sich nur schätzen.
Trotz solcher Schwächen aber ist mit dem von Mortensen begründeten Verfahren ein Ereignis aufgespürt worden, dessen räumliche Ausdehnung, Vielfalt und zeitliche Präzision alles in der Natur übertrifft. Aber auch, wenn sich der milliardenfache Flügelschlag, der zweimal im Jahr um die Erde rauscht, seither messen, exakt beschreiben, aufzeichnen, in Tabellen ordnen, in Grafiken ausdrücken lässt – das Rätsel Vogelzug ist damit nur enthüllt, nicht etwa gelöst worden.
Über dessen Ursachen und inneren Antrieb müssen Ornithologen weiterhin auch spekulieren. Noch immer verstehen sie nicht vollständig, warum Vögel ziehen, wie sie ans Ziel finden, woher sie ihre Startsignale für den Aufbruch im Frühling und Herbst und ihre Stoppsignale bei der Ankunft erhalten.
Wie weiland Mortensen haben Biologen sich schon in den 1950er und 1960er Jahren mit weiterführenden Fragen und neuen Untersuchungsmethoden abermals direkt an die Vögel gewandt.
Ihre Experimente gleichen – bis heute – Erkundungsreisen in unbekannte Wahrnehmungswelten und begründen Arbeitsgebiete wie Orientierungs- und Biorhythmusforschung sowie Zuggenetik, die es zuvor so nicht gegeben hat. Die Schrittmacher dieser zweiten großen Phase der Vogelzugforschung arbeiten an deutschen Instituten, die eigens auf diese neuen Felder zugeschnitten werden: Es sind die von Roswitha und Wolfgang Wiltschko aufgebaute Abteilung an der Universität Frankfurt/Main und die heutige Max-Planck-Forschungsstelle für Ornithologie in Radolfzell und Erling, geprägt über Jahre von ihren Direktoren Peter Berthold und Eberhard Gwinner*.
Das, wonach die Forscher fahnden, lässt sich jedoch im Freien selten präzise aufspüren. Zu vielfältig, zu unübersichtlich sind die Einwirkungen auf wild lebende Vögel. Um im Einzelnen herauszufiltern, welche Hinweise die Tiere nutzen, ist nötig, sie von ihrer natürlichen Umwelt abzuschirmen und dann ein isoliertes Signal nach dem anderen im Labor zu simulieren. Mithilfe künstlich geschaffener Umgebungen formulieren Wissenschaftler so einzelne Fragen, und das Verhalten der – gezüchteten und insofern künstlichen – Zugvögel gibt ihnen die Antworten. Die Voraussetzungen für das Gelingen solcher „Interviews“ sind denkbar günstig. Denn bei Simulationsversuchen zur Migrationszeit muss niemand einen Vogel in Stimmung bringen. Ihn überkommt in seiner Voliere oder im Labor dieselbe Zugunruhe wie im Freien. Jede Nacht – wenn 90 Prozent aller Zugvögel wandern – hüpft und schwirrt er im Versuchskäfig umher, als sei er tatsächlich unterwegs auf einer langen Reise. Er „zieht im Sitzen“, beschreibt es Peter Berthold.
Die Frage, was diese merkwürdige Zugunruhe auslöst, wird Versuchsvögeln zum Beispiel in einer Klimakammer gestellt, in der das „Tageslicht“ immer zum gleichen Zeitpunkt ein- und ausgeschaltet und die Temperatur konstant gehalten wird. Obwohl sie also keinen Kontakt zur Außenwelt haben, packt sie die Wanderlust zum selben Zeitpunkt wie ihre freien Artgenossen. An 20 Vogelarten haben Forscher inzwischen nachgewiesen, dass der Starttermin des Zuges ererbt und ihre Unruhe durch eine „innere“ biologische Uhr ausgelöst wird.
Schon 1967 nahm Gwinner eine Gruppe „zugunruhiger“ Fitislaubsänger per Linienmaschine mit in den Kongo, wo diese Art gewöhnlich überwintert. Obgleich die Wanderer praktisch über Nacht ans Ziel gelangten, setzten sie ihr rastloses Hüpfen in Afrika fort. Ihre Unruhe dauerte genauso lange an wie die der Gruppe, die Gwinner im deutschen Labor zurück gelassen hatte.
Damit war das „Zeitprogramm“ der Wanderer entdeckt, eine Art Terminkalender, mit dem Zugvögel auf die Welt kommen und in dem etwa bei Mitte August als Eintrag stehen könnte: „Zugunruhe! Fliege sieben mal zwölf Stunden in Richtung Südwest, dann bist du da.“ Aber schon stellte sich die nächste Frage: Woher wissen Zugvögel, wo Südwesten ist? Wie bestimmen sie ihren Kurs?
Um das herauszufinden, wurden Versuchstiere, die noch nie gewandert waren, auf den flachen Boden eines nach oben offenen Metalltrichters gesetzt. An den mit beschichtetem Papier ausgekleideten Trichterwänden sollten die Vögel, so die Absicht der Ornithologen, ihre Antworten hinterlassen. Und tatsächlich: In diesem „Orientierungskäfig“ führten die Zugneulinge den Forschern vor, dass sie für derartige Aufgaben bestens ausgestattet sind und die nötigen Informationen mithilfe verschiedener Bezugssysteme oder Kompasse beziehen.
Bei klarem Wetter, so stellte sich heraus, richteten die Versuchsvögel sich nach der Sonne, wobei sie offenbar deren Bahn und veränderte Höhe über dem Horizont im Verlauf des Tages und Jahres kalkulierten; bei Nacht gab ihnen der Polarstern zuverlässig die Nordrichtung an: Sie erkannten ihn daran, dass er als einziger Himmelskörper fest zu stehen schien und von den anderen umrundet wurde. Bei bedecktem Wetter hingegen orientierten die Versuchstiere sich an den magnetischen Feldlinien, deren Neigungswinkel beim Eintauchen in die Erde von steilen 90 Grad an den Polen zum Äquator hin auf 180 Grad abflachen, also eine zuverlässige Peilung erlauben.
Im Versuch kann ein solches Magnetfeld durch Helmholtzspulen künstlich erzeugt werden, den echten Sternenhimmel ersetzt eine Planetariumsprojektion, und anstelle der Sonne leuchten im Labor die Lampen.
Natürlich enthalten solche unter reduzierten Umweltreizen zustande gekommenen Laborergebnisse immer nur schmale Ausschnitte des natürlichen Spektrums. Die eindeutigen Antworten der Versuchstiere spiegeln die präzise formulierten Fragen der Wissenschaftler wider, legen aber nicht fest, wie Vögel sich in der wirklichen Welt mit ihren vielen Reizen und Signalen zurechtfinden. Oder in welcher Reihenfolge sie ihre Kompasse einsetzen. Unklar ist auch, ob sie deren Weisungen abgleichen; ebenso, WIE sie dabei vorgehen oder WANN und WO sie auf ihrer Reise welche Orientierungsvariante bevorzugen.
Auf jeden Fall hüpften die Vögel in ihrem Trichter, getrieben von ihrer ererbten Unruhe, immer wieder an ein und derselben Stelle gegen das beschichtete Papier, zerkratzten es mit den Krallen und teilten auf diese Weise mit, in welche Zugrichtung sie aufbrechen würden, wenn man sie ließe. War der Versuch nach etwa zehn Minuten zu Ende, wurden die Kratzspuren mit einer Kompassrose korreliert. Und es zeigte sich, dass Zugvögel im Labor so präzise wie in Freiheit wissen, auf welchem Kurs sie nach Süden gelangen. Er muss ihnen, muss jeder wandernden Vogelart, folgerten die Forscher, wohl angeboren sein.
Wie sonst sollten Jungvögel, die teils auch ohne ihre Eltern oder wegkundige Artgenossen zum ersten Mal auf die Reise gehen, ans unbekannte Ziel gelangen? Woher kennt ein Kuckuck, der womöglich im Nest eines nicht ziehenden Zaunkönigs, eines nur bis ans Mittelmeer wandernden Rotkehlchens oder in Südostafrika überwinternden Sumpfrohrsängers aufwächst, die ihm bestimmte Strecke nach Zentralafrika?
Im genetischen Programm fixiert sind jedoch nicht nur Direktrouten, sondern auch Umwege. An signifikanten Stellen in der realen Topographie wechseln manche Wanderer die Richtung, sie biegen ab: wie die Weststörche, die bei Gibraltar von Südwest auf Süd schwenken; oder wie Prinzesschen, der Oststorch, der bis Syrien nach Südost und dann nach Süden weiterfliegt. Beide Populationen machen einen Bogen ums Mittelmeer.
Einen ähnlichen Knick fliegen mitteleuropäische Grasmücken, sobald sie Europa an der spanischen Küste verlassen und auf ihr Wintergebiet im südlichen Afrika zusteuern. Auch die Grasmücken im Frankfurter Orientierungskäfig hüpften bei Beginn ihrer Zugunruhe am 22. August korrekt in Richtung Südwest und schwenkten ab Anfang Oktober, wie es der „Terminkalender“ ihrer Population für den Sprung von Kontinent zu Kontinent vorsieht, auf Kurs Südsüdost. Den behielten sie bei, bis ihre Unruhe aufgebraucht war. Bis sie, ihrem angeborenen Zeitprogramm zufolge, angekommen sein mussten.
Solche Beobachtungen weckten den Verdacht, dass womöglich sogar Flugpläne zum Erbteil wandernder Vögel gehören. Dass es also möglich wäre, in den wirbelnden Wolken ziehender Stare über dem Wollmatinger Ried ein Abbild jener Gene zu erkennen, die als Autopiloten jeden einzelnen Vogel über den Himmel steuern und seine Zugrichtung bestimmen.
Der direkte Nachweis, dass Routen tatsächlich an die nächste Generation weitergegeben werden, gelang allerdings erst 1989 am Max-Planck-Institut in Radolfzell. Dort hat Berthold ein Zentrum für experimentelle Zuggenetik aufgebaut, „Blackcap City“ – nach dem englischen Wort blackcap für Mönchsgrasmücke. Ein treffender Spitzname, denn jeden Frühsommer leben und singen dort bis zu 500 gezüchtete und von Wissenschaftlern und Assistenten aufgezogene Vögel in den Laboratorien, Klimakammern und Freilandvolieren rings um das Schloss Möggingen, den Sitz der Vogelwarte Radolfzell.
Andreas Helbig*, damals Doktorand bei Berthold, kreuzt in jenen Jahren Mönchsgrasmücken aus Süddeutschland mit Mönchsgrasmücken aus Ostösterreich. Beide Populationen wandern in unterschiedlicher Richtung ins Winterquartier, die westliche mehr südwestlich, die östliche mehr südöstlich. Die Nachkommen erben jeweils 50 Prozent vom Zugverhalten ihrer beiden Eltern und zeigen im Orientierungskäfig eine Vorliebe für den Mittelweg. Sie tendieren geradewegs nach Süden.
In der Reihe der Radolfzeller Kreuzungsexperimente bringt Helbigs Resultat so etwas wie einen Durchbruch. Es bestätigt die Annahme, dass die Zugrichtung sich genetisch manipulieren lässt – in der Natur wie im Labor. Und es zeigt, und das überrascht, wie prompt solche Veränderungen stattfinden können.
Zu ähnlichen Schlüssen nötigen weitere Versuche Bertholds, bei denen die Zugunruhe, also die Dauer der Flugzeit, in nur einer Vogelgeneration halbiert wird. Etwa als er zu Mönchsgrasmücken mit 450 Stunden Zugaktivität einen Partner von den Kapverdischen Inseln in die Voliere setzt, wo Grasmücken als so genannte „Standvögel“ leben, also überhaupt nicht ziehen. Der gemeinsame Nachwuchs von Eltern mit viel und mit null Unruhe zieht im Käfig nur noch 210 Stunden lang.
Was kommt mir nur so bekannt daran vor, fragt sich eines Morgens der Gründer von Blackcap City. Wie gewöhnlich steht er um sechs neben dem geöffneten Fenster am Stehpult seines Turmzimmers. Er lässt die Zählstreifen aus den Registrierkäfigen durch die Finger gleiten. Jeder Hüpfer der jungen Mischlinge von Stange zu Stange hat einen Schalter betätigt und ist in der Aufzeichnungszentrale als winziger Ausschlag auf Papier übertragen worden.
Unruhig geht Berthold im Zimmer umher, blickt hinunter in den Schlosspark, zu den Volieren entlang der Mauer, zu den Feldern jenseits des Instituts, sinnt in die Ferne zu den Vögeln auf ihren Marathonstrecken. Und dann fällt es ihm ein. So plötzlich kommt das Aha-Erlebnis, dass er die scharfe Winterluft tief einsaugt: Was er durch künstliche Selektion herbeigeführt hat – die verringerte Zugunruhe, die veränderte Zugrichtung –, existiert nicht nur in seinem Labor. Auch in der realen Welt des Vogelzugs finden dramatische Umstellungen statt. Seit Jahren haben Ornithologen aus vielen Ländern der Erde von kürzer werdenden Zugstrecken berichtet, also von abnehmender Zugunruhe, und von Arten, die im Winter neue Quartiere beziehen.
Aus den Aufzeichnungen seiner eigenen Mitarbeiter weiß Berthold, dass immer mehr mitteleuropäische Bachstelzen, Hausrotschwänze, Stare, Wiesenpieper, Zilpzalpe und die Amseln im Rheingebiet sogar zu ziehen aufhören. Viele Weißstörche wandern nur bis Israel, Drosselrohrsänger überwintern in Spanien statt in Zentralafrika.
Auch über süddeutsche Mönchsgrasmücken bekommt Berthold aktuelle Beobachtungen auf den Tisch, die ihn „vollkommen überraschen“. Demnach sind die Vögel schon seit einiger Zeit extrem von ihrer Standardroute abgewichen und zu Beginn der kalten Jahreszeit nach Nordwesten geflogen, zu den Britischen Inseln.
40 dieser Kolonisten importiert Berthold persönlich aus England zum Brüten nach Radolfzell. Als bei der Generation, die im Frühling 1992 schlüpft, die herbstliche Zugunruhe einsetzt, weichen die letzten Zweifel: Alle streben im Orientierungskäfig Richtung England. Der neue Kurs ist bereits programmiert.
„Wann die erste Mönchsgrasmücke dieses Experiment im Freiland gewagt hat, wissen wir natürlich nicht“, sagt der Professor. „Aber 1961 ist der erste in Österreich beringte Vogel von einem Schäfer in Irland registriert worden. Den Fund – oder vielmehr Fang – verdanken wir einer irischen Katze.“
Wahrscheinlich waren unternehmungslustige Vögel bereits jahrzehntelang auf dieser Strecke umgekommen. Doch irgendwann müssen die Winterfütterungen in Großbritannien ein solches Ausmaß angenommen haben und das Klima in der nahrungsarmen Zeit so milde geworden sein, dass Mönchsgrasmücken mit einer Vorliebe für das Inselkönigreich dort überleben konnten. Mittlerweile sind es bereits Zehntausende.
Kein Wunder: Die Strecke ist erheblich kürzer als die der Spanien- oder gar Afrikawanderer. Unangestrengt und obendrein früher kehren die Englandreisenden ins Brutgebiet zurück, besetzen die besten Nistplätze, wählen ihren Partner unter den Britannien-Eroberern – denn von den anderen Artgenossen ist noch keiner da – und vererben zweifach, nämlich von Mutter- und von Vaterseite her die Route ins nahe gelegene Überwinterungsgebiet. Aufgrund ihres Startvorteils schaffen sie es vielleicht sogar, in einer Saison mehr Junge aufzuziehen als andere Populationen der Art. Jedenfalls hat sich ihre Innovation in wenigen Jahrzehnten durchgesetzt.
Wie die so manch anderer Zugvogelspezies, die von ihren eingefahrenen Kursen abrücken, seit die kalte Jahreszeit in den nördlichen Breiten eine Woche früher endet und insgesamt feuchter und milder ausfällt, im Mittelmeerraum dagegen trockener. Zunächst haben einzelne, an die neuen Bedingungen angepasste Individuen die Gelegenheit genutzt, schließlich ganze Populationen. Ihre Strategien sind in dem „natürliche Selektion“ genannten Auswahlverfahren bevorzugt worden.
„Das Tempo dieser Mikro-Evolution“, sagt Berthold, „übertrifft alles, was wir bisher bei Wirbeltieren für möglich gehalten haben.“
Die Bandbreite der möglichen Varianten, über die Vögel verfügen und mit denen sie auf Veränderungen in ihrer Umwelt reagieren können, müsste demnach von null bis 100 Prozent reichen – von null „Zugweh“ und null Distanz zwischen Brutgebiet und Winterquartier bis zu über 1000 Stunden Aktivität und 10.000 Kilometern Flugstrecke; von sesshaften Populationen bis hin zu Marathonziehern.
Und alle diese Eigenschaften oder Verhaltensweisen stammen, das ist Berthold in jenem Augenblick am Fenster mit einem Mal klar geworden, „aus der Grundausstattung jeder Art“, werden bei Bedarf aus deren genetischem „Potenzial“ abgerufen. Die Zickzackspur der halbierten Hüpfermenge auf dem Papierstreifen hat das schlüssig vorgeführt und Berthold zu einer neuen Migrationstheorie angeregt.
Der lange grau-weiße Bart fliegt, die Augen hinter den Brillengläsern blitzen, als der Herr von Blackcap City in Erinnerung an den glücklichen Moment laut mit Daumen und Mittelfinger schnipst: so jäh ist damals die Einsicht gewesen, dass streng genommen Zugvögel als Gruppe für sich so wenig existieren wie Standvögel. Es gibt nur Vögel, die gegenwärtig mehr oder weniger ziehen oder gegenwärtig mehr oder weniger sesshaft sind. Aber alle haben in ihren Erbanlagen das Zeug zu jedem der beiden Lebensstile.
Zur wissenschaftlichen Erhärtung seiner These beginnt Berthold in seinem Institut die Evolution nachzuahmen. Hunderte gezüchteter Mönchsgrasmücken aus verschiedenen Populationen verbringen seitdem die fruchtbare Jahreszeit der Paarung und Brut in Blackcap City, in den Radolfzeller Volieren; und die kalten Monate in geheizten, hellen Pavillons, in dicht nebeneinander stehenden Einzelkäfigen. So hat jeder Vogel Gesellschaft, aber auch, was streitbare Mönchsgrasmücken unbedingt brauchen, ein eigenes Territorium.
Die Pflege ist aufwendig, täglich wird der Käfig gereinigt, das Futter frisch angerührt aus hart gekochten Eiern, Zwiebackmehl, Vitakalk und Dickmilch, gewürzt mit lebenden Mehlwürmern. Zusätzlich sorgt ein Extratöpfchen Kraftmischung aus Traubenzucker, Milchpulver, Weizenkeimen und Haferflocken dafür, dass es den kleinen Pensionären an nichts fehlt.
Höhepunkt im Versuchsvogelalltag ist zweimal die Woche das Baden. Kaum sind die durchsichtigen Plastikkabinen an ihrer Käfigtür befestigt, hüpfen die Vögel hinein, tauchen mehrmals rasch den Kopf ins Wasser, richten sich auf, schlagen die Tropfen, die ihnen über das Gefieder perlen, mit abgespreizten Flügeln zu feinem Nebel. Nach 30 Minuten sehen sie aus wie nach einen heftigen Guss und verbringen den Rest des Vormittags damit, ihre feinen Daunen mit dem Schnabel zu striegeln.
Jedes Tier ist unschätzbar wertvoll, Stammmutter oder Stammvater in einem seit Jahren laufenden Großversuch, der in zwei Richtungen führt. Mit Mönchsgrasmücken aus einer sesshaften Population will Berthold Fernzieher züchten, und aus einer Population von Marathonziehern sollen durch gezielte Selektion schließlich Standvögel hervorgehen.
Wie einen Schatz hütet Berthold seine Vögel, seine „Mitarbeiter“ nennt er sie. Von ihrer freundlichen Unterstützung hängt das Renommee seines Instituts ab, der Erfolg seiner Experimente. Aber seine Fürsorge endet nicht mit dem Ende der Versuche. Danach werden die Veteranen sämtlich in ihre ursprüngliche Heimat zurückgebracht – bis nach Madeira, Russland oder England.
Nach vier Generationen, schätzt der Forscher, werden die ersten Nachweise für seine Theorie vorliegen. Zwischenergebnisse erlauben schon jetzt die „plausible Voraussage“, dass Vögel dank ihrer vielseitigen Anlagen „fähig sein werden, sich rasch an dramatisch veränderte Umweltbedingungen anzupassen“.
Vögel sind „präadaptiert“. Das heißt: Sie registrieren weit mehr als den aktuellen Klimawandel. Weil sie nicht erst seit gestern die Erde besiedeln, haben sie „evolutionäre Erfahrung“ mit Umweltveränderungen in der Vergangenheit – besonders mit den so genannten Milankovic-Oszillationen. Diese Schwankungen der Erde auf ihrer Umlaufbahn wirken sich in der nördlichen Hemisphäre extremer aus als anderswo und führen dazu, dass manche Landschaftsformen sich dort rasch ausdehnen und wieder zusammenziehen. In ihnen können nur Arten überleben, die „gelernt“ haben mitzuschwanken, verhältnismäßig schnell zwischen Zug- und Standvogel zu wechseln.
„Durch Migration haben Vögel sich in der Vergangenheit immer wieder vor dem Aussterben gerettet“, sagt Andreas Helbig, der mit einem kleineren Etat als dem eines Max-Planck-Instituts bedeutend kleinere Einheiten erforscht, nämlich die Erbsubstanz heute ziehender Vögel. Entschlüsselte DNS-Stammbäume großer Vogelfamilien bestätigen Helbig, was sein ehemaliger Lehrer Berthold durch Zucht herausfindet: dass Langstreckenzieher nicht miteinander verwandt sind und dass Wanderer nicht von anderen Wanderern abstammen, sondern sich aus sesshaften Gruppen entwickeln.
Die letzte große Veränderung, auf die Vögel mit Wandern reagiert haben, ist die Phase nach der jüngsten Eiszeit. Aus ihren engen Rückzugsgebieten, wahrscheinlich in den Tropen, sind viele Arten den zurückweichenden Gletschern gefolgt und haben das enteiste Terrain kolonisiert.
„Vor allem Bewohner von Habitaten, die sich bei wärmer werdendem Klima nach Norden ausdehnen, sind mit ihrem Lebensraum gewandert“, sagt Helbig. „Laubsängerarten etwa, die in Tannen leben oder in Pioniergehölzen wie Birken und Weiden, rücken mit ihren Bäumen in die Taiga vor und werden darüber zu Zugvögeln. Denn wenn sie im Winter nicht verhungern wollen, müssen sie in den Süden zurück.“
Für wenige Wochen im Jahr bieten die weiten, gleichförmigen Landschaften Nordeuropas, -asiens und -amerikas riesige Brutareale, in denen es pro Revier wenig Konkurrenz gibt, dafür umso mehr Insekten, Früchte, Gräser, Samen und lange Tage, um mit dem Überfluss rasch viele Nachkommen großzuziehen. „Paradiesische Bedingungen“, sagt Helbig. „Sie üben auf Vögel einen starken Sog aus und lassen sie gefährliche Reisen ins Unbekannte wagen.“
Jedes Jahr einmal Paradies und zurück – die genetische Fahrkarte verführt dazu, sich Zugvögel so vorzustellen, wie Berthold sie gelegentlich in Vorträgen beschreibt: als aufgezogene Spielzeuge, die auf ihren programmierten Bahnen hin- und herpendeln, bis die Batterie erschöpft ist.
Für viele seiner Kollegen aber ist das, was Zugvögel ererbt haben, nur ein Teil der ganzen Wahrheit – nur ein „Rahmen“, wie es häufig heißt. Das Bild darin werde bestimmt durch die Erfahrungen, die Vögel während des Fluges und auf Rastplätzen machen, durch das, was sie unterwegs lernen und sich merken, durch Entscheidungen, die sie treffen, und durch die körperlichen Leistungen auf ihren Extremtouren.
Wie ist das zu schaffen?, fragt diese Forschergruppe einerseits staunend und andererseits knallhart ökonomisch: Wie hoch sind die Kosten, wie groß die Risiken? Rechnet sich der Ausflug ins Paradies?
Herbert Biebachs Schwerpunkt ist die Ökophysiologie der Wanderung unter verschärften Bedingungen – denen der nordägyptischen Sahara. Mindestens 50 Prozent aller europäischen Kleinvögel, die auf ihrem Herbstzug die afrikanische Küste erreichen, haben 600 Kilometer offenes Mittelmeer hinter sich und 1800 Kilometer Wüste vor sich. Auf beiden Strecken gibt es weder Futter noch Trinkwasser. Zugvögel müssen also hungern und dursten, bis sie den Südrand der Sahara erreichen. Zur Zeit der Wanderung herrschen bei Tag 25 bis 38 Grad Celsius über dem Land, am Boden beträgt die Temperatur gelegentlich sogar 50 Grad. Die Luftfeuchtigkeit sinkt auf zehn Prozent.
Was er seit Jahren im Freiland erforscht, simuliert Biebach an der Max-Planck-Forschungsstelle für Ornithologie in Erling so realistisch, aber auch so exakt wie möglich im Labor, zum Beispiel mit 29 handaufgezogenen Rosenstaren aus der Ukraine.
Drei der Vögel wippen lässig auf dem Luftstrom, den ihnen der Ventilator des Windkanals unter die Flügel treibt. Mit winzigen Flügelbewegungen steigen zwei der Rosenstare auf und nieder, tauchen abwechselnd unter dem Dritten hindurch, streifen sein Bauchgefieder, überholen knapp, setzen sich dicht vor ihn, drängen von hinten nach – machen sich offenbar einen Spaß mit dem beflissenen Genossen, der nur geradeaus steuert. Bis es dem doch zu viel wird. Er dreht ab und fliegt durch eine seitliche Öffnung zurück in die Gemeinschaftsvoliere.
Für Vögel, die normalerweise bis zu zehneinhalb Monate im Jahr zwischen Brut- und Wintergebiet unterwegs sind, ist das tägliche Flügeljoggen von 15 bis 30 Minuten ein Jux. So bleibt reichlich Energie für Experimente, die nicht zum Programm der Forscher gehören, aber vielleicht zu dem lernbegieriger junger Stare.
Die beiden biologisch-technischen Assistentinnen Andrea Wittenzellner und Ninon Ballerstädt, von denen die Tiere abwechselnd trainiert werden, haben längst gemerkt, dass sie nur den Kopf über ihre Notizen zu beugen brauchen, statt aufmerksam zuzusehen, und sofort legen ihre Flugschüler eine Pause ein und setzen sich auf den Boden. „Dasselbe passiert, sobald ich den Raum für einen Augenblick verlasse“, sagt Wittenzellner. Taucht sie im Türrahmen wieder auf, schwingen sich die Vögel blitzschnell in die Luft, als wären sie die ganze Zeit brav geflogen.
Im Frühling, wenn sie in Aufbruchstimmung kommen, hofft Biebach, der die Windkanal-Projekte koordiniert, auf etwas mehr freiwilligen Einsatz. Dann werden zusätzliche Illusionen geboten: Auf den Glasboden projizierte Landschaften und Sternkonstellationen an der Planetariumskuppel über dem Windkanal sollen den nächtlichen „Zug“ in der zwei Meter langen Testkammer begleiten.
Wie viel „Treibstoff“ einzelne Arten sich anfressen, ehe sie den Sprung über die Sahara wagen, ist bis auf eine Stelle hinterm Komma bei einigen Kleinvögeln errechnet worden, ebenso wie viel sie verbrennen: Sieben Gramm schwere Fitislaubsänger können ihr Gewicht fast verdoppeln. Gartengrasmücken steigern ihr Ausgangsgewicht von 16 Gramm auf 25 Gramm. Beider Verbrauch pro 1000 Kilometer liegt im grünen Traumbereich von 3,3 Gramm.
Immer klarer wird auch, welche Nahrung Vögel sich aussuchen, für welche Mischung aus Insekten und Beeren oder für welche Kombination aus Früchten sie sich entscheiden, um kurz vor einer Barriere möglichst schnell möglichst fett zu werden und auch noch genug Protein zu speichern.
Während eines derartigen Langstreckenflugs ist der Grundstoffwechsel um das Zehnfache gesteigert. So viel hat Biebach aus den Aufzeichnungen winziger Herzratentransmitter hochgerechnet, die den Vögeln bei ersten Flugtests ins Gefieder gesteckt wurden. Kein anderes Wirbeltier ist zu solchen Höchstleistungen fähig.
Wie der Körper eines Vogels die Belastungen wegsteckt und wie er sich während der Strapazen verändert, wann er Fett, wann Protein als Treibstoff einsetzt, woher seine Reserven stammen und wie der tierische Wasserhaushalt solche Durststrecken übersteht, wird während und nach einer Windtunneletappe gemessen, zum Beispiel in Computertomographen und Stoffwechselkabinen. Daran haben sich die Stare während des Trainings genauso gewöhnt wie an das Dröhnen des Ventilatormotors.
Während der Versuche wird die Diät der fliegenden Athleten in ihrer Zusammensetzung und Menge aufs Milligramm genau abgemessen – dasselbe gilt für die Ausscheidungen. In Sitzstangen versteckte Waagen übernehmen die automatische Gewichtskontrolle vor und nach jedem Flug. Der Kraftakt soll bis aufs Kilojoule, bis ins letzte ausgeatmete Molekül nachgewiesen werden.
Natürlich hofft Biebach, dass sich seine Beobachtungen aus der Wüste bestätigen; und auch die Erkenntnisse aus Laborexperimenten mit Gartengrasmücken, aber ohne Wind- und Flugsimulation: Zugvögel auf großer Fahrt bauen nicht nur Fettdepots ab. Auch ihr gesamter Verdauungstrakt schnurrt auf die Hälfte ein. „Da sie hungern und dursten, ist er während solcher extremen Etappen nur überflüssiges Gepäck, das Transportkosten verursacht“, erklärt Biebach.
Bis zu 50 Prozent ihrer Leber, 20 Prozent ihrer Bein-, Brust- und Herzmuskeln wandeln Vögel in Flugenergie um. Sobald sie südlich der Sahara ankommen und reichlich Nahrung finden, kehrt sich dieser Prozess wieder um. Die geschrumpften Organe erreichen binnen Tagen ihr altes Format, erfüllen die alten Funktionen; die Vögel fangen wieder an zu fressen.
Wie dieser aufwendige Prozess im Einzelnen abläuft, welche Signale ihn auslösen, woher die „Bausteine“ für den Wiederaufbau stammen, muss so präzise entschlüsselt werden, „weil wir“, so Biebach, „bisher von falschen Annahmen ausgegangen sind“. Lange galt als erwiesen, dass die Millionen Fernwanderer beim Flug über den breiten Todesstreifen aus Meer und Sand aufs Gramm genau mit dem beim Start vorhandenen Treibstoff auskommen, also perfekt angepasst sind. „Irrtum“, sagt der Vogelforscher. „Wir haben einfach nicht nachgerechnet. Sonst hätten wir erkennen müssen, dass die Reserven der meisten Kleinvögel kaum 1500 Kilometer weit reichen. Egal wie fett sie sind, ihre Chancen, die Barriere aus eigener Kraft zu überwinden, sind gering.“
Dass sie dennoch nicht auf der Strecke bleiben, hat einen Grund, der lange übersehen wurde. Über der Sahara weht ein anderer Wind als dort, wo bisher der Stoffwechsel gemessen worden ist: im Labor und an Tieren, die auf ihrer Stange sitzen, bestenfalls hin und her hüpfen und flattern, aber eben nicht fliegen.
Biebach, der jedes Jahr viele Wochen in der Wüste verbringt, hat nachgewiesen, dass Zugvögel günstige Luftströmungen ausnutzen und damit ihre Reichweite mehr als verdoppeln. Die verlässlichen Winde streichen wie Förderbänder über die Sahara hinweg. Ab 2000 Meter Höhe wehen sie in nördlicher Richtung, zwischen 1000 und 500 Meter nach Süden, besonders stabil während der Nacht. Und genau in dieser Zeit und in diesen Höhenschichten reisen während des Frühjahrs- und Herbstzuges bis zu fünf Milliarden Vögel.
Obwohl der Max-Planck-Forscher die Zahlen kennt – wenn er nachts unter der Zeltplane hervortritt und hinaufblickt, hinauflauscht, ist nichts von den Volksbewegungen zu hören oder zu sehen. Nur auf dem Radarschirm kann er den zuckenden Tanz der Kurven verfolgen, die Echos eines mächtigen Auftriebs am Himmel.
Am Tag dagegen, wenn Höchstleistungen in praller Sonne den Vogelorganismus in kritische Bereiche zu bringen drohen, rasten die meisten der Sahara-Überflieger im Schatten spärlicher Büsche oder am Fuß einer einsamen Akazie mitten in der Wüste. Sie suchen nicht einmal nach Wasser oder Futter, sondern sparen ihre Kräfte für den Nachtzug, für die nächste Etappe.
In mehreren Sprüngen gelangen sie so ans Ziel – und bringen sogar noch ein Sicherheitspolster mit. „Davon zehren sie“, sagt Biebach, „wenn bei der Ankunft im Winterquartier gerade Dürre herrscht oder am Brutplatz noch Schnee liegt.“
Seit dieser Überraschung aus dem Feld muss nicht nur die Theorie vom heroischen Non-Stop-Flug als vorherrschender Strategie ins akademische Werk zurückgerufen werden, sondern auch die Annahme, dass Vögel, die in der Sahara am Boden entdeckt werden, es nicht geschafft hätten und dem Ende nahe seien. Im Gegenteil: Überwiegend sind sie ausgesprochen fit und sogar gut genährt. Was Biebach an Singvögeln in der Hand regelmäßig überprüft.
Unzählige hat er schon behutsam aus dem Fangnetz befreit, das in der Wüste meist nur über ein paar Sträucher gebreitet wird. Gelandete Vögel spazieren von ganz allein hinein auf der Suche nach einem schattigen Platz. Mit der zum lockeren Käfig geformten Hand umfasst der Feldornithologe einen Fitislaubsänger, Sprosser, Fliegenschnäpper oder Steinschmätzer, dreht ihn auf den Rücken und pustet dem Vogel mit gespitzten Lippen gegen den Strich ins flaumige Brustgefieder. Es teilt sich wie ein geöffnetes Hemdchen und enthüllt, wenn der Vogel fett ist, dicht unter der Haut, rechts und links des Brustbeins, zwei gelb schimmernde, längliche Polster.
Rasch wird das gefangene Tier bestimmt, vermessen, gewogen, beringt und wieder frei gelassen. Eventuell muss es für die Forschung einen winzigen Tropfen Blut spenden, dessen chemische Analyse verrät, ob kurz zuvor Fett, Proteine oder Glykogen verbrannt worden sind.
Allenfalls 20 Prozent der Vögel, so Biebach, würden sich stark genug fühlen, die Barriere in einem Sprung zu überqueren, ununterbrochen zwei Nächte und eineinhalb Tage zu fliegen. Ohnehin sei auf dieser Horrorstrecke kein Schema vorstellbar, das für alle gelte.
Biebach hält es für wahrscheinlicher, dass jedes einzelne Tier „auf äußere wie innere Bedingungen flexibel reagiert“, Flugwetter, Fett- und Wasserreserven vor wichtigen Starts durchcheckt und erst danach seine individuelle Strategie von „Stop and Go“ auswählt.
Immer häufiger beobachten Forscher an den Küsten, wie Vögel vor einer plötzlich auftauchenden Gefahrenzone umdrehen oder abbiegen. Am Skagerrak, an der Nordsee, am Atlantik, am Mittelmeer fliegen sie oft scharenweise an der Küste entlang oder ins Land zurück, wo sie kurz zuvor aus der Luft einen attraktiven Rastplatz entdeckt haben. Dort landen sie und fangen sofort an zu fressen. Wann immer es möglich gewesen ist, solche Zugverweigerer zu fangen, hat sich herausgestellt, dass ihre Fettdepots ziemlich leer waren.
„Vögel“, sagt Biebach, „preschen nicht blindlings los, getrieben von Zugunruhe, ferngesteuert allein von ihrem ererbten Programm. Sie haben verschiedene Optionen und nutzen sie auch.“ Ihr Erfolg hängt von den Erfahrungen ab, die sie unterwegs sammeln, von den Regeln, die sie sich selber geben und von immer neuen individuellen Entscheidungen. Das im Einzelnen zu erforschen, hält Biebach für die wichtigste Aufgabe.
„Erst wenn wir ihnen entlocken, worauf sie achten, was sie sich merken, welche Folgen die Strapazen der Wanderungen für ihr weiteres Leben haben, können wir eines Tages klären, warum es sich lohnt, ein Zugvogel zu sein.“
Aus GEO Nr. 04/2002
* Diese Reportage stammt aus dem Jahr 2002 und ist damit deutlich älter als die anderen Texte, die wir für unsere eBooks ausgewählt haben. Die Redaktion fand sie aber so aufschlussreich und interessant, dass wir sie in unsere Sammlung dennoch aufnehmen wollten. Einige der Protagonisten sind inzwischen verstorben, Eberhard Gwinner im Jahr 2004, Andreas Helbig im Jahr 2005. Peter Berthold wurde 2005 emeritiert. Die Vogelzugforschung wird in Radolfzell vom heutigen Institutsdirektor Martin Wikelski fortgeführt.