Kapitel 1
Även den minsta hjärtklappning får mig ur rälsen på ett sådant sätt att jag hellre föredrar att titta på männens värld endast på avstånd.
Clara
»Und das machen wirklich alle? Bist du dir da sicher?«
»Ja, Clara. Definitiv. Komm schon, das wird bestimmt Spaß machen. Vielleicht lernen wir dort auch ein paar nette Leute kennen.« Nicole zieht ihre Schultern hoch und lächelt. Sie hat wieder ihren Hundeblick drauf und schaut mich von unten an. Das macht sie immer, wenn sie etwas will – und ich gebe immer nach. Ich habe sie einfach zu lieb, um ihr nicht fast jeden Wunsch zu erfüllen.
»Na gut.« Ich seufze. Meine Lust, den kommenden Tag auf einem Partyschiff zu verbringen, hält sich in Grenzen. Nicole hat jedoch recht. Wir sind seit zwei Wochen in Stockholm und haben außer mit den Hostelgästen noch mit niemandem groß gesprochen. Dabei wollten wir die Zeit nutzen, um das Land, die Leute und deren Gewohnheiten ein bisschen näher kennenzulernen.
»Wann geht die Fahrt morgen los?«, frage ich und räume meine Klamotten zurück in den Koffer. Den Bikini, den ich gesucht habe, habe ich immer noch nicht gefunden. Die letzten zwei Wochen war es nicht so warm wie erwartet und heute scheint die Sonne das erste Mal so, dass es sich lohnt, zum nächsten Strandbad zu fahren.
»Um 16 Uhr laut deren Webseite. Also darf ich die Tickets jetzt buchen?«
Ich nicke und sehe dabei zu, wie Nicole ihre braunen Rehaugen freudestrahlend aufreißt und hastig etwas in ihr Handy tippt. Ich kann nicht anders und muss schmunzeln. Seit wir aus dem Flugzeug ausgestiegen sind, ist sie hibbeliger als ein Wackelpudding. Vielleicht liegt es an ihrem Alter. Meine Schwester ist fünf Jahre jünger als ich und macht erst nächstes Jahr ihr Abitur. Oder es sind ihre Gene. Unsere Mutter ist immer genauso, wenn wir in den Urlaub fahren. Ich komme da eher nach meinem Vater und versuche, alles ruhig und gelassen anzugehen. Nicole hält den Daumen nach oben, dann hat mit der Buchung wohl alles geklappt.
Bevor ich jetzt ein halbes Jahr nach Karlstad an die Universität mitten in Schweden gehe, habe ich ihr versprochen, den August gemeinsam mit ihr in Stockholm zu verbringen. Das ist sozusagen ihr Geburtstagsgeschenk zum achtzehnten von mir und unseren Eltern.
»Kein Bikini mit«, stelle ich schließlich fest und klappe den Koffer zu. »Hast du ihn zufällig eingepackt?«
»Ne, ich hab’ nur meinen. Dann lass uns doch losgehen und wir kaufen dir einen. Ich brauche auch noch neue Flipflops; bin mit meinen gestern irgendwo hängen geblieben und jetzt ist die Gummisohle eingerissen.«
»Können wir gerne machen. Ich meine, kurz vorm Busbahnhof wäre ein Bademodengeschäft. Schaust du, wie wir zum Bad kommen? Dann packe ich so lange unsere Handtücher ein.«
»Ja, mache ich.« Während Nicole googelt, gehe ich ins Bad und lege alles Wichtige in meine neue Strandtasche. Nicole ist die Organisiertere von uns beiden. Sie ist es, die immer einen Weg findet und mit jedem Plan zurechtkommt. Ich bin dafür viel zu chaotisch.
Als ich wieder in unser kleines Zimmer komme, steht sie bereits mit geschultertem Rucksack da und wartet auf mich. »Hast du alles?«
»Handtücher, Shampoo, Badelatschen und Haarbürste«, zähle ich auf. »Ich denke schon.«
»Gut, ich hab’ meinen Bikini und Sonnencreme mit.«
Sonnencreme, wieder etwas, das ich vergessen hätte. »Dann mal los«, sage ich und öffne die Tür zum langen Flur. Das Hostel liegt in der untersten Preisklasse, mehr konnten wir uns für einen knapp einmonatigen Aufenthalt nicht leisten. Immerhin haben wir ein eigenes Zimmer für uns. Gestern Abend, in der Bar, haben wir uns kurz mit einem Deutschen unterhalten, der mit seinem Kumpel in einem Sechszehnbettzimmer schläft. Das müssen wir uns dann doch nicht antun. Leider sind die beiden heute früh schon wieder abgereist.
Auf der Straße ist für einen Freitagvormittag ziemlich viel los und doch wirkt alles ruhiger und geordneter als in Deutschland. Der Busbahnhof ist ganz in der Nähe und wir brauchen keine zehn Minuten, bis wir vor dem Bademodengeschäft stehen und uns das Schaufenster anschauen. Die Bikinis hier sind nicht gerade günstig. Trotzdem komme ich nach zehn Minuten aus der Umkleide und zeige Nicole das erst beste Stück Stoff an meinem Körper, das mir gefällt und mich nicht ganz arm machen würde. »Und, was sagst du?« Ich schaue an meinen kalkweißen Beinen herunter und drehe mich zur Seite.
»Mir gefallen die rosa Blüten auf dem hellblauen Stoff. Nimmst du ihn? Dann bekommen wir vielleicht sogar noch den nächsten Bus.«
Ich nicke, denn ich bezweifle, dass ich auf die Schnelle einen Besseren für kleines Geld finde. Wirklich blöd, dass ich meinen zuhause vergessen habe.
Wir bringen unsere Sachen zur Kasse: ich den Bikini und Nicole ihre neuen Flipflops, die sie bereits vor dem Laden im Schaufenster entdeckt hat, und bezahlen alles, ehe es zur Bushaltestelle geht.
Verwirrt sehe ich mich auf dem großen Platz um und schaue an den vielen roten und blauen Bussen vorbei, vor denen sich kleine Schlangen an Menschen bilden.
»Komm, wir müssen den dahinten nehmen.« Nicole zieht mich zu einem der roten Nahverkehrsbusse hin und wir reihen uns ordentlich hinter den anderen Fahrgästen ein. Der Zustieg ist hier viel geregelter als in Deutschland und es gibt kaum Gedrängel.
»Wir brauchen noch ein Ticket«, sage ich zu Nicole, als wir uns bereits hingesetzt haben und zeige nach vorne zum Fahrer.
Nicole zückt ihr Handy und wedelt mit dem Smartphone vor meinem Gesicht herum. »Hast du dich denn gar nicht mit diesem Land beschäftigt?«, fragt sie und grinst mich an, sodass ich lachen muss. Natürlich habe ich das, gefühlt habe ich nichts Anderes in den letzten Wochen gemacht. »Ich hab’ uns die Tickets in der App gekauft.«
»Danke, dafür geht dann aber nachher das Eis auf mich.«
Nicole strahlt. Ich weiß, dass sie es liebt, eingeladen zu werden, wer tut das auch nicht?
Hier im Bus ist es schön kühl, obwohl die Sonne direkt durch das Fenster neben uns knallt. Ich spiele mit meiner Pilotensonnenbrille herum und stülpe sie schließlich nach hinten über mein langes blondes Haar, das offen auf meine Schultern fällt und streiche ein paar der Haarsträhnen hinter mein Ohr. An uns zieht die Skyline Stockholms vorbei: das Stadshus, die Riddarholmskyrkan, eine imposante Kirche, die wir in unserer ersten Woche hier besichtigt haben und schließlich fahren wir durch die Altstadt von Skinnarviksberget.
»Hoffentlich ist es nachher nicht zu voll«, sage ich nachdenklich.
»Gehst du denn ins Wasser?«
Ich zucke mit den Schultern. »Ja, ich denke schon. Zumindest mal kurz, um mich vom Sonnetanken abzukühlen. Hast du gesehen, wie weiß ich bin?« Ein bisschen neidisch schaue ich auf Nicoles gebräuntes Gesicht, das von hüftlangen braunen Haaren umrahmt wird. Auch das hat sie von unserer Mutter.
Nicole lacht auf und ich lache mit. Es wird wirklich Zeit, mal ein bisschen lockerer zu werden, nach allem, was in den letzten paar Wochen passiert ist.
»Du denkst gerade wieder an sie, oder?« Offenbar wurde meine Miene ernster als beabsichtig.
»Ja, mir tut das alles so leid, dass ich ausgerechnet jetzt fahren musste, als es ihrem Vater wieder so schlecht ging. Bin ich deswegen eine schlechte Freundin? Sei ehrlich.«
Nicole seufzt und lehnt ihren Kopf gegen die Scheibe. »Nein, und das weißt du auch. Linda war das letzte halbe Jahr schließlich auch weg. Außerdem dachte ich, ihrem Vater ginge es inzwischen besser.«
»Na ja, schon – ein bisschen. Trotzdem sieht es nicht so aus, als könne er noch gesund werden.«
»Hast du denn noch einmal mit ihr telefoniert, seit wir hier sind?«
Ich senke den Blick. »Nur eine kurze Sprachnachricht, nachdem wir gelandet sind. Ich weiß auch nicht, wieso mich das alles so fertigmacht. Es ist einfach komisch, sie monatelang nicht gesehen zu haben und dann selbst gleich wieder wegzugehen. Ich weiß nicht einmal, ob sie gerade in Deutschland oder wieder in London bei ihm ist.« Seit meine beste Freundin Linda mit ihrem Chef Harvey zusammen ist, den sie auf der Suche nach ihrer Halbschwester in England kennengelernt hatte, haben wir kaum Zeit miteinander verbracht. Zwei Mal war ich mit ihr im Krankenhaus und einmal abends im Kino, das war es. Mir fehlt meine beste Freundin, gerade jetzt, wo ich so weit von Zuhause weg bin. Linda ist viel selbstbewusster als ich  ein bisschen wie Nicole  und meistert die Entfernung zu ihrer Familie, wenn sie bei ihrem Freund ist, immer super.
»Kopf hoch, Schwesterherz. Ich werde dich heute schon noch ablenken.« Ablenken, bestimmt will sie deshalb mit mir auf dieses komische Partyboot morgen und nach Finnland fahren. Dieses Mal ist mein Lächeln nur schwach.
»Komm«, sagt sie und tippt mich an, sodass ich aus meiner Starre erwache, »wir sind gleich da.«
Ich folge ihr aus dem Bus. Hier, in der Nähe des Wassers, weht ein stärkerer Wind als in der Innenstadt. Nach wenigen Minuten kommen wir am Tanto Strandbad an. Es ist nicht wirklich so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Irgendwie hatte ich mehr Badesee und weniger Isarfeeling im Kopf. Wir breiten unsere Handtücher neben einer Trauerweide aus und beobachten ein paar Jungs dabei, wie sie vom Badesteg ins Wasser springen und so die Enten verjagen.
»Ganz schön protzig die Typen«, sagt Nicole, während ich gedankenverloren vom Wasser auf und zurück zum Steg schaue.
Der jüngste der Jungs kippt gerade eine Dose Bier in sich hinein und schmeißt sie anschließend ins Wasser. So ein Idiot. Jetzt gibt ihm einer der Älteren einen Klapps auf den Hinterkopf und zeigt auf die treibende Dose. Na geht doch. Ich setze mich auf und beobachte den älteren Blonden mit der dunkelblauen Shorts, der seinen durchtrainierten Körper kopfüber ins Wasser befördert und kurz darauf die Dose in seiner Hand zerdrückt, ehe er sich am Steg raufzieht und seine nassschimmernden Muskeln im Sonnenschein aufblitzen lässt. Mit der Dose in der Hand stapft er in unsere Richtung zu einem Mülleimer.
»Der scheint doch ganz vernünftig zu sein«, gebe ich zu, lehne mich zurück und ziehe Stolz und Vorurteil aus meiner Tasche.
»Ja, sieht schon nicht schlecht aus«, murmelt Nicole neben mir.
»Ich mag ja Männer mit Bart, ein bisschen hat er was von einem Wikinger. Ein surfender Wikinger oder so, findest du nicht auch?«
Nicole zuckt mit den Schultern. »Komm«, sagt sie plötzlich und macht Anstalten, aufzustehen.
Ich greife nach ihrem Arm und halte sie fest. Ich kann mir denken, was sie vorhat. »Lass uns die Typen ansprechen, wir wollen doch Leute kennenlernen, oder nicht?«
Das Buch hoch vor die Sonne haltend schüttle ich den Kopf. »Morgen«, antworte ich. »Versprochen.« Sie weiß ganz genau, dass ich nicht der Typ Frau bin, der einfach losgeht und Männer anquatscht.
Nicole seufzt. »Dann lass mich wenigstens los, damit ich ins Wasser gehen kann. Du kannst ja nachkommen. Aber wer weiß, ob nicht einer von ihnen dein Mr. Darcy gewesen wäre.« Augenrollend senke ich den Arm und lehne mich wieder zurück. Ja, wer weiß das schon.