Clara
»Du stehst doch auf ihn«, stellt Nicole fest, als wir wieder unter uns sind und ich mir für heute Abend ein schwarzes Top anziehe.
»Ich sagte doch schon, dass ich ihn nicht von der Bettkante stoßen würde«, erwidere ich und schlinge einen weißen Gürtel um meine schwarz gefärbte Jeans.
»Und, wird da etwas zwischen euch gehen?«
Ich seufze und lasse den Klappverschluss des Gürtels zuschnallen. »Nicole, du weißt, dass ich nicht für eine Urlaubsnacht zu haben bin. Ein bisschen Flirten und Spaß haben schön und gut. In einer Woche bin ich in Karlstad und du wieder zu Hause. Also wieso sich jetzt einen Kopf darum machen? Da wird eh nicht mehr draus. Und als deine große Schwester bitte ich dich, ganz egal wie süß du diesen La-«
Plötzlich wedelt sie abwehrend mit den Händen und weicht einen Schritt zurück, bis sie gegen die Tür stößt.
»Also bitte«, sage ich, ehe sie mir widersprechen kann. »Jeder Blinde sieht doch, dass du auf den stehst – und er ganz offensichtlich auch auf dich. Also erzähl mir nicht, dass du nicht bereits daran gedacht hättest. Aber wie gesagt, versprich mir einfach, dass du nicht gleich mit ihm ins Bett steigst. Ich will nicht, dass du mit Liebeskummer oder so zurück nach Deutschland kehrst. Außerdem würde Mum mir den Hals umdrehen.«
Nicole sieht mich mit verschränkten Armen an. »Was denkst du eigentlich von mir?«
Mein Blick wandert von ihren Stilettos hoch zu ihrem kleinen Schwarzen, vorbei an der mit Pailletten besetzten Handtasche und bleibt an ihren rot geschminkten Lippen kleben. »Das du verdammt sexy aussiehst. Viel zu sexy. Noch bevor du dein erstes Wort auf Schwedisch sagen kannst, wird Lasse versuchen, dich ins Bett zu bekommen. Da wette ich mich dir.«
Mit verschränkten Armen gibt sie ein leises Schnauben von sich. »Und du glaubst, Thore wäre da anders?«
»Nein«, sage ich ehrlich. »Aber ich weiß, dass ich mich beherrschen kann.« Zumindest hoffe ich das.
»Das kann ich auch.«
»Pass einfach auf dich auf«, erwidere ich ruhig und will sie in die Arme nehmen, so wie wir das immer machen, wenn wir einen kleinen Disput hatten. Doch dieses Mal weist sie mich ab und zeigt mir die kalte Schulter. Dann eben nicht. »Komm«, sage ich. »Lass und schon mal hochgehen. Die frische Luft wird uns sicherlich guttun.«
Wir verlassen stumm unsere Kabine  auch auf dem Weg nach oben sprechen wir nicht miteinander. Erst auf dem Deck brechen wir das Schweigen. »Du denkst doch nicht wirklich so von mir, oder?«, fragt sie mich.
»Nein«, sage ich seufzend. »Aber ich war auch mal in deinem Alter. Außerdem wirst du heute sicherlich etwas trinken  genauso wie Lasse. Wie gesagt, pass einfach auf dich auf. Ich vertraue dir.«
»Du klingst schlimmer als Mum.«
»Solange du hier bist, bin ich für dich verantwortlich.« Dieses Mal lässt sie es zu, dass ich sie an mich drücke und ihr einen Kuss auf den Schopf gebe.
»Mir ist kalt«, murrt sie plötzlich und reibt sich an den Armen.
»Ja, mir auch. Die Jungs dürften bald da sein, dann gehen wir am besten gleich runter.« Ich schlinge meine Arme um sie und blicke über ihre Schulter hinweg raus aufs offene Meer. Stockholm haben wir längst hinter uns gelassen. Bisher ist der Himmel wunderbar klar und ich kann es kaum erwarten, ihn ohne das grelle Licht der nächtlichen Großstadt im Nacken zu bestaunen.
»Vacker« wunderschön , sagt eine tiefe Stimme hinter uns und Thore stellt sich neben mich und Nicole.
»Ja, das ist es.« Ich drehe mich um. »Wo ist Lasse?«
»Der kommt gleich.« Wer weiß, vielleicht bekommt ihn ja die See nicht so gut. Selbst auf einem großen Schiff wie diesem spürt man den Seegang; vor allem jetzt, wo der Wind zugenommen hat und die Wellen hart gegen das kalte Metall der Schiffswand prallen.
»Ihr friert ja«, stellt Thore fest und zieht die Jeans Jacke, die er sich übergeworfen hat, aus und legt sie über meine Schulter, sodass die Ärmel auch über Nicole fallen. Meine Brust drückt noch immer an ihre Schulterblätter und wir spenden uns gegenseitig Wärme.
Hinter uns ertönt ein tiefer Pfiff; Lasse hebt winkend die Hand und kommt auf uns zu. Jetzt, wo wir vollständig sind, können wir endlich wieder rein ins Warme gehen.
Kapitel 4
Hennes hand smeker mina bröst över skjortan och glider sedan långsamt upp till min nacke tills hon lutar sig mot dem.
Thore
Als wir die Tür zur Disco öffnen, schlägt uns gleich warme, stickige Luft entgegen. Während man durch die schwere Eisentür kaum einen Laut gehört hat, werden wir nun von lauten Basstönen begrüßt, die einem bis tief ins Mark gehen.
»Dahinten«, sage ich zu den dreien und zeige zur Bar. Das wirkliche Highlight dieser Fahrt ist nicht das Buffet oder die Atmosphäre des Schiffs. Es sind die kostenlosen Getränke. Selbst der teure Wodka ist hier im Preis für die Überfahrt enthalten. Nirgendwo sonst kann man sich in Schweden so günstig besaufen, wie auf einem der Partyschiffe und nur deswegen sind sie bei den Studenten so beliebt  und daher war auch Lasse ganz scharf darauf, heute mitzukommen, wobei ich mir inzwischen nicht mehr ganz sicher bin, ob das der einzige Grund war. Ohne Scham beginnt er neben Nicole zu tanzen und rückt ihr dabei immer mehr auf die Pelle.
Ich lehne mich zu Clara rüber. »Pass auf deine Schwester auf«, sage ich mit einem Zwinkern und nicke zu den jungen Turteltauben hin.
»Hab’ ihr schon eine Standpauke gehalten«, erwidert sie und zwinkert zurück.
»Was möchtest du trinken?«
»Ich weiß nicht.« Ihr Blick fällt auf die große Karte über der Theke vor der Bar. »Irgendeinen Cocktail, was Süßes.« Ihre Stimme ist laut, trotzdem verstehe ich sie kaum. Ich bezweifle, dass wir uns bei der Musik heute viel unterhalten werden.
»Sweet Baya?«, frage ich fast schon brüllend.
»Was ist da drin?«
»Johannisbeere, Pfirsich, Mango, Rum, sowas halt.« Ganz genau weiß ich es auch nicht, aber süß ist es allemal. »Wird dir bestimmt schmecken.«
Sie nickt und ich gehe vor zur Bar und bestelle für uns. Für mich gibt es einen Cubra-Libre, danach jedoch nur noch Bier. Ich will den Abend schließlich genießen.
Mit den Gläsern in der Hand gehe ich zu ihr zurück. Inzwischen steht sie bei ihrer Schwester und Lasse; im Gegensatz zu den beiden tanzt sie jedoch nicht, sondern wippt nur mit dem Fuß.
»Das ist wirklich nicht deins, oder?« Ich gebe ihr den Drink und sie folgt mir abseits zu ein paar quadratischen Blöcken aus Schaumstoff, die überall verteilt am Rand stehen, und wir setzen uns.
»Überhaupt nicht«, antwortet sie schließlich und schlürft an ihrem Strohhalm.
Hier an der Wand, etwas entfernt von den Boxen, die von der Decke hängen, ist es ein paar Dezibel leiser und ich kann ihre Mischung aus Englisch und Schwedisch schon wieder besser verstehen. »Was ist dann dein Ding?«, frage ich sie.
Sie wirft ihre Haare nach hinten und bindet sie rasch zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen, während sie ihr Glas zwischen die Beine geklemmt hält. »Reiten«, antwortet sie, als sie fertig ist und den Strohhalm erneut zu ihren verführerischen Lippen führt.
»Auf Pferden?«, frage ich mit einem Zwinkern.
Sie kichert. »Ja, natürlich. Ich habe eine Hannoveraner-Stute. Freya.« Sie zückt ihr Handy und zeigt mir ein Bild des schwarzen Pferdes.
»Schönes Tier. Sie sieht sehr edel aus. Machst du auch bei Turnieren mit?«
Clara schüttelt den Kopf und ihr Zopf wedelt auffällig hin und her. Mit offenen Haaren ist sie mir trotzdem lieber. »Früher habe ich an Voltigier-Wettkämpfen teilgenommen. Seit ich studiere, fehlt mir da aber die Zeit zu. Jetzt mache ich höchstens mal ein paar Voltigier-Übungen mit Nicole aus Spaß, um nicht ganz aus der Übung zu kommen.«
Eine meiner Brauen wandert nach oben. »Gesundheit«, sage ich trocken und sie lacht laut auf. Sie lacht wie ein Engel, hell und klar. Selbst bei der lauten Musik ist es ansteckend. »Nein im Ernst«, sage ich schließlich, »bitte was hast du gemacht?«
»Voltigiert? Ich turne dann sozusagen auf meinem Pferd und mache kleine Kunststücke beim Reiten. Aber wie gesagt, inzwischen ist das Reiten mehr ein Hobby geworden, meine Freya mag ich aber dennoch nicht mehr hergeben.«
Ein alter Schulkamerad hat einen Reiterhof, da hätte sie bestimmt Spaß … ach nein. So lange wird sie ja gar nicht mehr hier sein. »Wann reist ihr ab?«
»Am neunzehnten, wieso?« Das ist in vier Tagen. Schade.
Ich schüttle kurz den Kopf. »Nur so«, murmle ich. »Wollen wir morgen ausgehen?« Nur wir beide, füge ich gedanklich hinzu und blicke zu meinem Cousin auf die Tanzfläche, der sein bestes Stück gerade geschickt an Nicoles Hintern reibt.
»Ich glaube nicht, dass ich nach dieser Fahrt dazu in der Lage sein werde.« Sie greift nach meinem Arm und blickt auf meine Uhr. »Die Nacht ist schließlich noch lang«, fügt sie hinzu und lässt mich wieder los. Eine innere Leere krabbelt von meinen Fingerspitzen den Arm hinauf und bis zu meinem Herzen. Sie hätte ruhig länger auf die Uhr schauen können.
Unsere Getränke neigen sich langsam dem Ende. »Tanzen?«, frage ich und halte ihr meine Hand hin. Wenn ich auf Schwedisch mit ihr spreche, versuche ich mich so kurz und deutlich wie möglich auszudrücken. Es scheint zu klappen, denn sie springt gleich auf und legt ihre geschmeidigen Finger in meine. Hoffentlich merkt sie nicht, dass ich alles andere als ein guter Tänzer bin. Meine Hand fährt über ihren Rücken, runter bis zum Steißbein und bleibt dort, knapp über ihrem Po, ruhen. Kurz bin ich versucht, sie noch ein Stück weiter runter gleiten zu lassen, doch dies verbieten mir meine guten Manieren und der strenge Blick ihrer Schwester, die gerade zu mir gewandt hinter ihr steht. Jetzt wird Nicole wieder von Lasse herumgewirbelt, ehe er sich erneut hinter sie drängt.
Clara und ich gehen es langsamer an. Ihre freie Hand streichelt über das Hemd an meiner Brust und gleitet langsam rauf zu meinem Nacken, bis sie sich daran niederlegt.
Ich lasse ihre sanften Finger los und greife sie an der Hüfte. Langsam, im Rhythmus der Musik, ziehe ich sie zu mir und wir tanzen dicht aneinandergedrängt, während sich die Menge um uns herum verdichtet. Ihre Hand zieht dabei sanfte Kreise auf meinem Rücken, vom Schulterblatt übers Schlüsselbein, die Wirbelsäule entlang und wieder zurück zu meiner Hüfte. Am liebsten würde ich sie jetzt einfach küssen. Alles in mir schreit laut ›Los, tu es doch‹, aber ich kann nicht. Ich traue mich nicht und ich will es mit ihr nicht verscherzen, ehe ich sie auch nur annähernd kennengelernt habe.
Claras blaue Augen reflektieren das glitzernde Funkeln der Lichter um uns herum, bis sie sie schließt. Das Lied wechselt und nach dem lauten Techno Gedöns läuft nun ein ruhigerer Sommerhit. Ihr Kopf gleitet nach vorne und bettet sich auf meiner Brust. Trotz der Musik kann ich sie unter meinem Kinn atmen hören. Soll ich sie doch küssen?