Thore
Mit einem Schlüssel bei jemandem einzubrechen ist wirklich das einfachste, was es gibt. Nun kann ich nur hoffen, dass mich niemand auf dem Gang sieht, der weiß, wer eigentlich dort wohnt.
Ich sehe mich im langen Flur des Wohnheimgebäudes um. Hier riecht es muffig. Viel muffiger als bei Clara. Offenbar hat der Bengel die Arschkarte gezogen, als ihm sein Zimmer zugeteilt wurde.
Mit dem geklauten Schlüssel in der Hand gehe ich zu seiner Tür und atme erleichtert aus, als ich das vertraute Geräusch des Klickens, wenn man den Schlüssel umdreht, vernehme.
»Entschuldigung?« Mir rutscht das Herz in die Hose. In der Tür hinter mir steht eine junge Frau, fast noch ein Kind.
»Ja?«, frage ich, ohne mich ganz zu ihr umzudrehen, während mir der Schweiß auf der Stirn perlt.
»Ich habe hier für kommendes Semester ein Zimmer bekommen und wollte bloß fragen, wie das Wohnheim so ist.«
Mein Herz beginnt wieder zu schlagen und die Schultern lockern sich. »Riecht man das nicht?«, frage ich scherzhaft.
»Sorry, dass ich gefragt hab’«, antwortet sie nur. Offenbar hat sie meine Anspielung auf den Modergeruch im Flur nicht verstanden. Wenn etwas so riecht, kann es wohl kaum toll sein. Wer weiß, wann das letzte Mal der Müll in der Gemeinschaftsküche auf dem Flur runtergebracht oder die Spülmaschine eingeschaltet wurde. Ich kenne dieses Wohnheim zu gut, immerhin stand es auch schon, als ich noch Student an dieser Uni war und Kommilitonen hier wohnten. Schon damals zählte es zu den eher unbeliebten auf dem Campus. Die besten führen sowieso die Nationen.
Das Mädchen dreht sich wieder um und ich kann endlich ungestört in Leons Wohnung. Es ist schon fast halb zehn. Wenn er sich mit seiner Prüfung beeilt, wird er vor elf Uhr hier sein. Sollte das der Fall sein, will Isabelle mir eine Nachricht zukommen lassen. Ich bin froh, dass sie uns hilft. Irgendwie mag ich ihre hilfsbereite Art und den französischen Akzent, auch wenn ich noch nicht so viel mit ihr zu tun hatte.
Leon ist ein richtiger Chaot. Ich stehe inmitten seines Saustalls aus dreckiger Unterwäsche, einem Stapel alter CDs und Videospielen für die Konsole, einem Berg Klamotten und jeder Menge Staub. Hatte Clara nicht gesagt, dass er wieder eine Freundin hätte? In dieses Zimmer wird er sie wohl nicht mitnehmen.
Als erstes gehe ich zu seinem Schreibtisch, auf dem sein Laptop neben den Fragen, die ich ihm für die Prüfung gegeben habe, liegt. Der wird sich gerade umsehen …
Schadenfroh klappe ich den Laptop auf und stelle überrascht fest, dass er eingeschalten ist und ich kein Passwort brauche. Perfekt! Mit dem Mauszeiger fahre ich über den Bildschirm und durchsuche zahlreiche Dateien nach den Aufnahmen. Selbst die versteckten zeigen nicht mich und Clara, sondern bloß ein paar Pornos, die er sich vermutlich im Internet gezogen hat. In jedem Fall scheint er ein Faible für junge Asiatinnen zu haben. Ich verstecke die Dateien wieder und klappe den Laptop zu. Fast eine Stunde lang habe ich mich durch seinen PC gewühlt. Offenbar hat er die Dateien tatsächlich alle gelöscht, als ich neben ihm stand.
Trotzdem ist meine Suche noch nicht zu Ende. Ich schaue unter sein Bett, in seinen Nachttisch und in seinen Schrank, in dem ich die Drohne finde. Sie ist größer als erwartet und ich bin überrascht, dass wir sie nicht bemerkt haben. Auf der anderen Seite war das Fenster damals geschlossen und der Regen prasselte laut gegen die Scheibe. Hätten wir nicht das Licht angehabt, hätte die Spiegelung der Scheibe die Aufnahme vermutlich versaut; und im Wald war der Fluss, der das Surren des Rotors sicherlich übertönt hat.
Die SD-Karte steckt noch immer im Speicherschlitz. Ich ziehe sie heraus und stecke sie in den Laptop. Ich wusste es! In einer Reihe von Bildern und Videoaufnahmen entdecke ich relativ weit unten die Dateien, die ich gesucht habe. Schnell lösche ich sie und schaue sicherheitshalber auch noch einmal im Papierkorb nach.
In dem Moment vibriert mein Handy.
Leon hat abgegeben.
Ich schreibe Isabelle zurück und frage sie, ob sie kurz telefonieren kann. Keine zehn Sekunden später ruft sie an.
»To’re? Isabelle ’ihr. ’ast du etwas gefunden?«
»Ja. War sein Handy in der Tasche? Konntest du es entsperren?«
Sie räuspert sich leise. »Ja. Also, nein. Aber isch ’abe seine SD-Karte ausgelesen an meine Tablet und dort eine Foto von dir un Clara gese’en. Isch ’abe es gelöscht.«
»Okay. Sag Clara besser nichts davon. Ihr ist die Sache sowieso schon peinlich genug. Ich komme jetzt zur Uni. Bis gleich.«
Ich lege auf und stecke das Handy ein. Dann räume ich die Drohne zurück in den Schrank und schaue, ob alles so aussieht, wie es soll und schließe die Tür hinter mir ab. Clara und ich haben beschlossen, dass ich den Schlüssel einfach in den Briefkasten der Verwaltung werfen werde. Da nichts entwendet wurde, wird man der Sache hoffentlich nicht nachgehen. Schade nur, dass ich das Gesicht des Burschen im Büro nicht sehen kann, wenn er den Schlüssel zurückhängt und merkt, dass dort schon einer ist.
Mit schnellen Schritten und ohne wirklich nach vorne zu gucken, laufe ich immer zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe runter und knalle am Ausgang beinahe mit Leon zusammen, der ziemlich zerknirscht wirkt.
Stirnrunzelnd sieht er mich an.
»Was machst du in meinem Wohnheim?«
»Ich wollt dich besuchen kommen«, sage ich grinsend und zwinkere ihm zu. Heute kann mich sowieso nichts mehr umhauen. »Wie war die Prüfung?«
Das Lachen vergeht ihm. Wird ihm gerade klar, was wir gemacht haben?
»Ich warne dich!«, sagt er und fletscht die Zähne.
Schulterzuckend drehe ich mich um und gehe auf die Treppe vor dem Haus zu. Dann bleibe ich noch einmal stehen und richte meinen Blick langsam auf ihn.
»Ich glaube nicht, dass du noch in der Lage bist, mir zu drohen. Lebe wohl, Leon.« Ich verbeuge mich leicht und springe auf die erste Stufe, halte mich am Geländer fest und laufe runter zur Straße.
Als ich auf der anderen Straßenseite bin, kann ich es nicht lassen, einen letzten Blick zu Leons Fenster zu werfen. Hinter der Scheibe scheint jemand richtig zu toben.
Ich lache laut auf, dann laufe ich grinsend zurück zur Uni, zurück zu meiner Clara. Besser hätte der Morgen nicht laufen können.