April – neunzehn Monate vorher

Zoe war eine Stunde lang ziellos herumgelaufen, während in ihrem Kopf wütende, verletzte Gespräche mit Aidan in Endlosschleife liefen. Sie malte sich aus, ihn anzuschreien und zu fragen, wie er ihr das hatte antun können. In den besseren Versionen gestand er, ein schrecklicher Mensch zu sein, und dann ging sie. In den schlechteren, schwächeren Varianten erklärte er ihr, dass er seine Frau schon verlassen habe, und zwar ihretwegen, weil sie alles war, was er je gewollt hatte.

Nach einer turbulenten Stunde fand sie sich auf einem Bahnsteig wieder. Sie musste irgendwohin mit ihren Gefühlen, musste sie in irgendwas umwandeln. Sie stieg in den Zug nach Winchester und lief auf dem Teppichquadrat vor den Türen auf und ab, bis der Zug im Bahnhof einfuhr. Sie stieg aus, und dann stand sie schon vor der Kunsthochschule, ohne sich vor lauter Wut bewusst zu sein, wie sie hergekommen war. Wusste der Himmel, wie sie es geschafft hatte, sicher eine Straße zu überqueren.

Im Atelier war es still. So früh im Sommersemester ließen die meisten Studenten es noch gemächlich angehen. Tranken. Entspannten sich. Prokrastinierten.

Zoe stellte ihre Tasche ab. Ihr Teil des Ateliers war vom Durcheinander großer Produktivität gezeichnet. So viele leere Stunden, die sie auf Nachrichten von Aidan wartete, hatte sie mit Malen zugebracht. Sie versuchte, nicht daran zu denken, wie gern sie ihm ihr jüngstes Werk hatte zeigen wollen. Sie brauchte seine Bestätigung nicht.

Die Pose hatte sie beschwingt von dem Treffen mit Aidan ausgesucht. Aus Hunderten von Fotos hatte dieses sofort etwas in ihr angesprochen. Und das Gemälde hatte schnell Gestalt angenommen und war fast vollendet. Sie hatte einen Hintergrund von sich auftürmenden Wolken hinzugefügt, darunter Wellen, die sich an einer Küste brachen.

Aber als sie das Bild jetzt betrachtete, erkannte sie, dass es noch nicht annähernd fertig war. Einige überaus wichtige Elemente fehlten.

Nun, das ließ sich beheben. Sie würde es zu dem Gemälde machen, das es sein sollte, ein wahres Werk und nicht eines, das auf einer Wunschvorstellung basierte. Der Anblick von Angelines Gestalt weckte kurz ein Schuldgefühl, weil sie den Anruf nicht beantwortet hatte, doch dann packte Zoe ihre Farben aus.

Sie drückte Braun-, Schwarz- und grelle Rottöne auf die Palette und begann, mit einer eigenartigen Losgelöstheit zwei vollkommen neue Figuren auf die Leinwand zu malen. Die Erste war schattenhaft und wand sich um die Gestalt von Angeline, ohne sie zu verdecken. Es fehlte ihr an Form. An Echtheit. Trotzdem verschränkte sie ihre mit Angelines ausgestreckter Hand. Sie war die Ursache für Angelines Pose, die andere Hälfte eines grotesken Liebesakts.

Das Einfügen der Figur war ein Risiko, aber so verletzt, wie sie war, hatte Zoe keine Angst, etwas falsch zu machen. Fast so, als wäre alles belanglos, sodass sie ebenso gut ihrem Impuls folgen konnte.

Nachdem die schattenhafte Gestalt fertig war, begann sie unverzüglich mit einer dritten Figur, die so dicht bei den Liebenden stand, dass sie sie hätte berühren können. Eine weitere Frau, nackt wie Angeline und ebenso kantig, aber stolz aufrecht stehend und lächelnd.

Zoe gestaltete den Schnitt mit sonderbarem Entzücken blutig und verheerend, malte eine Schicht Fett in das aufgerissene Fleisch und eine vage Andeutung verworrener Innereien. Danach trug sie großzügig Scharlach- und Purpurrot auf, um die Blutspur bis zum Boden unter den Füßen der Frau zu verlängern.

Stunden später trat sie schwer atmend und mit hämmerndem Herzen einen Schritt zurück. Nachdem es geschafft war, fühlte sie sich viel besser, obwohl das Gemälde ein Abbild ihrer eigenen Schuld war. Eine Darstellung von sich und Aidan und dem, was sie seiner Frau angetan hatten.

Sie ließ ihren Blick über das Gemälde schweifen, um ihr Werk zu spüren. Sie war froh, dass mittlerweile noch ein paar andere Studenten im Atelier waren, die es ebenfalls sehen konnten. In dem Schuldgefühl darüber, was sie unwissentlich getan hatte, lag eine eigenartige Befriedigung. Trotzdem beschlichen sie Zweifel. Etwas stimmte noch nicht.

Sie legte den Kopf zur Seite, um die zweite Frau zu betrachten, die Gestalt der imaginären Mrs Poole. Dann beugte sie sich vor und verschmierte und zerkratzte die halb getrockneten Augen. Sie hatte sie durchdringend blau gemalt, doch sie erkannte nun, dass das verkehrt war. Die Gestalt sollte überhaupt keine Augen haben.

Als Zoe fertig war, wurden sie von einem fleischfarbenen Streifen verdeckt, als wäre die Frau geblendet worden.

Lange nachdem die Lichter draußen angegangen waren, packte Zoe ihre Farben wieder ein. Es war sieben Uhr, ein schöner Aprilabend dämmerte, das Gelände vor dem Fenster schimmerte in verführerischem Dunkelblau. Sie blickte hinaus und fragte sich, warum sie anscheinend gar nichts spürte. Dabei war sie ein Mensch, der immer ein Auge für Schönheit hatte.

Vielleicht war sie zu erschöpft. Oder es nützte eben einfach nichts mehr, dass die Welt schön war.

Sie nahm ihr Handy und seufzte tief.

Im Hintergrund lief Musik, als Angeline sich meldete; es klang, als wäre sie auf einem Fest.

»Tut mir leid, dass ich deinen Anruf verpasst habe«, sagte Zoe und wollte es erklären, aber sie schaffte es nicht. »Bist du irgendwo unterwegs? Brauchst du Hilfe?«

»Warum bist du nicht … gekommen?«, fragte Angeline.

Zoe spürte den Stich eines vertrauten Schuldgefühls und dann eine seltsame Sehnsucht, dass Angeline sich einmal um sie kümmerte. Dass sie sie in den Arm nahm, während Zoe sich wegen Aidan die Seele aus dem Leib schluchzte.

»Ich komme jetzt«, antwortete sie so locker wie möglich. »Sag mir, wo du bist, Süße. Dann komme ich vorbei.«

»Ich sag dir nicht, wo ich bin«, flötete Angeline ins Telefon. Und dann fing sie auf einmal an zu weinen und erklärte Zoe, dass sie ganz allein sei und Angst habe.

Zoe brauchte eine Viertelstunde, um ihr zu entlocken, dass sie in einer Weinbar am Hafen war, die sich Zoo nannte, nachdem man sie aus dem Restaurant geworfen hatte, in das sie zum Mittagessen gegangen war.

»Was für ein Restaurant?«, fragte Zoe.

»Ich sollte dort … mit einem Mann zu Mittag essen, aber er hat mich versetzt.«

Zoe war skeptisch. Wen hätte Angeline treffen sollen? Irgendeinen Typen von Tinder? Mitten am Tag? Wahrscheinlich war sie allein losgegangen und hatte gehofft, sich an jemanden zu hängen, der ihr ein paar Drinks spendierte.

Der Taxifahrer kannte die genaue Adresse des Zoo nicht, aber schließlich fanden sie das Lokal. Oder zumindest ein Schild, das darauf hinwies. Offenbar war es nur zu Fuß erreichbar.

»Warten Sie hier?«, fragte Zoe und gab ihm einen Zehner. »Ich muss bloß meine Freundin abholen und nach Hause bringen.«

»Ich weiß nicht, ob ich hier stehen bleiben kann«, erwiderte der Fahrer skeptisch. »Aber wenn ich den Platz frei machen muss, fahre ich einmal um den Block.«

»Danke«, sagte Zoe mit einem freundlichen Lächeln. »Ich beeil mich. Lassen Sie das Taxameter laufen.« Die Weinbar lag direkt am Wasser auf der Hafenseite von Ocean Village, einem modernen Viertel mit flachen Wohnblocks und zahlreiche Bars und Restaurants mit Blick auf Anlegestellen für kleinere Schiffe. Aus dem Zoo drang leise Jazzmusik. Es war definitiv nicht die Art Laden, in dem man sich vor dem Abendessen betrank.

Sie sah Angeline, sobald sie hereinkam. Sie saß in sich zusammengesackt auf einem hohen Holzhocker an der Bar, und sie war nicht allein. Direkt neben ihr saß ein Fremder.

Zoe verspürte ein Unbehagen, das stark genug war, um durch den kleinen Klumpen aus Schmerz zu dringen, den sie mit sich herumtrug. Es lag nicht nur daran, dass sie diesen Typen nicht kannte. Es war die Art, wie er besitzergreifend einen Arm um Angeline gelegt hatte und mit dem Finger über ihren Oberschenkel strich. Er war vermutlich ein paar Jahre älter als Zoe, doch mit seinem Dreitagebart war sein Alter schwer zu schätzen. Außerdem war er ziemlich groß, was Angeline umso kleiner und zerbrechlicher erscheinen ließ.

Er nahm ein volles Cocktailglas und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie kicherte und richtete sich kurz gerade auf, um sich die hellrosafarbene Flüssigkeit in den Mund zu kippen.

Ihre Freundin stutzte und kleckerte die Hälfte des Drinks auf ihre Kleidung. Mit schuldbewusster Miene versuchte sie, sich den Mund abzuwischen.

»Zoe, was … was machst du hier?« Sie schwankte auf dem Hocker, offensichtlich unfähig, den Blick auf Zoes Gesicht zu fokussieren.

»Du hast mich gebeten zu kommen«, sagte Zoe mit einem unechten Lächeln, ohne den Typen zu beachten, der halb über Angeline hing. »Zeit, nach Hause zu gehen, schon vergessen?«

»Warum?«, fragte Angeline stirnrunzelnd.

»Weil wir einiges zu erledigen haben«, sagte Zoe.

»Hey, ich glaube nicht, dass sie schon gehen will«, sagte der Typ und grinste selbstzufrieden. »Sie hat auch was zu erledigen.«

»Oh, wirklich?«, fragte Zoe und zog die Augenbrauen hoch. »Und du glaubst, sie ist nüchtern genug, das zu entscheiden? Ich glaube das nämlich verdammt sicher nicht.«

Sie blickte zu dem Barkeeper, der ein paar Schritte entfernt ein Tropfgitter leer räumte. Sie fragte sich, ob sie auf ihn zählen könnte, wenn der Typ aggressiv wurde.

»Interessant, dass du dir plötzlich solche Sorgen machst«, sagte er und zog seinen Arm ein Stück zurück. »Warst du vor ein paar Stunden, als sie versucht hat, dich anzurufen, auch so besorgt?«

Zoe spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Angeline hatte ihm also von ihr erzählt. Angeline ließ den Kopf sinken und griff nach dem leeren Glas.

»Ich habe mich schon dafür entschuldigt, dass ich den Anruf verpasst habe«, sagte Zoe ruhig. »Jetzt bin ich für sie da. Wie meistens.«

»Bloß nicht, als sie aus einem Pub geschmissen wurde«, sagte der Typ leise, nahm ein halb volles Glas mit roter Flüssigkeit, sah ihr in die Augen und trank. Die Geste hatte etwas Bedrohliches, doch Zoe war nicht in der Stimmung, sich einschüchtern zu lassen.

»Oh, und du weißt vermutlich alles darüber«, sagte sie laut. »Nachdem du sie eben erst kennengelernt hast. Mein Gott. Wie heißt du

»Ich bin Richie«, sagte er. »Und Angeline kennt mich ziemlich gut.«

Er lächelte knapp, und zu Zoes Widerwillen lehnte Angeline sich an ihn und legte ihren Kopf an seine Schulter.

Zoe ergriff ihre Hand. »Lass uns nach Hause fahren. Ich mach dir einen Tee, und dann kuscheln wir uns aufs Sofa.«

Das fand Richie offenbar nicht amüsant, doch Angeline, die nichts mehr mochte, als umsorgt zu werden, lächelte schüchtern. »Das klingt nett«, sagte sie, richtete sich auf und rutschte, immer noch Zoes Hand haltend, von dem Barhocker.

»Möchtest du dein Glas nicht leer trinken?«, fragte Richie sichtlich verärgert.

»Ich glaube, sie hatte genug«, sagte Zoe mit einem kalten Lächeln.

»Na gut«, meinte Richie achselzuckend. »Bis bald, Angeline.«

»Komm«, sagte Zoe, legte einen Arm um ihre Freundin und stützte sie. Gut, dass sie so leicht war.

»Tschüss, Richie«, rief Angeline.

»Ich komm dich besuchen«, rief er zurück, und Zoe gefror das Blut in den Adern, als sie sich zu ihm umdrehte. Sie hoffte wirklich, dass Angeline nicht so dumm gewesen war, ihm ihre Adresse zu geben.