»Sir?«, sagte Lightman und klopfte mit einem Stift an Jonahs Tür.
»Ja.« Jonah riss sich aus seinen Gedanken und nickte Lightman zu. »Was haben Sie für mich?«
»Die Alibis von Siku Swardadine und Greta Poole sowie für Felix Solomon am späten Nachmittag sind bestätigt. Seine Bekannte hat erwähnt, dass er unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, was ich interessant fand. Offenbar hat er manchmal üble Attacken und ruft sie panisch an.«
»Hm. Vielleicht ist er doch nicht so gefasst, wie er wirkt.« Jonah nickte. »Ich frage mich, ob er in schlimmen Phasen die Angewohnheit hatte, sich auch an Zoe wenden. Bei dem ersten Gespräch mit Juliette hat er erwähnt, dass er sie hin und wieder angerufen hat, und offenbar haben die beiden ganz allgemein oft miteinander geplaudert.«
»Das heißt, er könnte von ihr abhängig gewesen sein«, sagte Lightman.
»Genau. Mal sehen, was ihre anderen Freunde dazu zu sagen haben.«
»Piers Lough habe ich auch überprüft«, fuhr der Sergeant fort, »und hier irrt Felix Solomon. Es gibt einen Piers Lough in der Datenbank, aber es ist nicht der Piers Lough. Der vorbestrafte Pädophile ist zwanzig Jahre älter. Er ist vor ein paar Monaten umgezogen, ohne die Behörden zu benachrichtigen, deshalb taucht diese Adresse als eine mögliche in seiner Datei auf. Aber der Piers, der Tür an Tür mit Zoe wohnt, lebt seit anderthalb Jahren dort. Ich habe Bilder von ihm von einem Krippenspiel im Netz gefunden, er sieht dem Pädophilen kein bisschen ähnlich.«
»Okay«, sagte Jonah und lachte. »Also eine unbegründete Verleumdung.«
»Ja«, erwiderte Lightman. »Ich habe mich allerdings gefragt, wie Felix darauf gekommen ist. Wie kann es Gerüchte gegeben haben, wenn die Polizei sich nicht einmal sicher war, dass sie den Richtigen hatten. Auf dieser Grundlage werden sie bestimmt keine jungen Familien in der Nachbarschaft informiert haben.«
Jonah überlegte kurz und sagte dann: »Völlig richtig. Also, wie zum Teufel hat Felix Solomon es erfahren?«
»Wenn ich raten müsste«, sagte Lightman ruhig, »würde ich sagen, er ist der Typ, der alle seine Nachbarn googelt. Im Netz gibt es Artikel, in denen Piers Lough erwähnt wird. Vielleicht hat er daraus voreilige Schlüsse gezogen.«
Darüber dachte Jonah eine Weile nach. »Der neugierige Rentner von nebenan«, sagte er. »Oder jemand, der uns bewusst auf eine falsche Fährte locken will.«
»Ja. Das ist eine andere mögliche Erklärung«, erwiderte Lightman.
Jonahs Handy summte. Hanson, vermutlich mit einem neuen Zwischenstand. Mit einem Nicken verabschiedete er Lightman und nahm das Gespräch an.
»Als Erstes habe ich Neuigkeiten für Sie«, sagte er. »Der Piers Lough in Zoes Haus ist nicht der vorbestrafte Sexualstraftäter. Falsches Alter, falsche Statur.«
»Oh, alles klar. Danke«, sagte sie, und er wusste nicht, ob sie erleichtert oder enttäuscht war.
»Haben Sie Felix gesehen?«
»Allerdings. Als er nach Hause gekommen ist, ist er direkt zu Zoes Wohnung gegangen. Als ich kam, stand er mit dem Schlüssel in der Hand vor ihrer Tür. Er war vorher nicht in seine Wohnung gegangen, also muss er den Schlüssel bei sich gehabt haben, wie Sie vermutet haben.«
»Wie hat er das erklärt?«
»Er hat behauptet, er habe nur einen Blick in die Wohnung werfen wollen, um voll und ganz zu begreifen, dass alles real ist«, antwortete sie.
»Aber Sie sind nicht überzeugt«, stellte Jonah fest.
»Nein, bin ich nicht. Könnte es sein, dass er versuchen wollte, den Fall selbst zu lösen?«
Jonah lachte humorlos. »Er wäre nicht der erste Möchtegern-Poirot.«
»Nein, ich frage mich, ob es einen Grund gibt, warum er ein so starkes Interesse zeigt«, sagte sie zögernd.
»An Zoe?«
»Nein, an unserer Arbeit«, sagte sie. »Ich weiß, es klingt seltsam, aber seine Art zu reden hat mich mehrmals ziemlich stark an Sie erinnert. Könnte es sein, dass er ein Exkollege ist?«
Als O’Malley um 13:15 Uhr im Büro aufkreuzte, zog Lightman die Brauen hoch.
»Dir ist schon klar, dass heute Samstag ist, oder? Wenn du weiter an dem Erpressungsfall arbeitest, hast du auch das Privileg, dein Wochenende einzuhalten.«
»Ist alles richtig«, sagte O’Malley nickend, »aber wenn ich mich aus der Mordermittlung raushalte, kann ich dir nicht sagen, wie du deinen Job machen sollst. Wo bleibt da der Spaß?« Er setzte sich und drehte sich mit seinem Stuhl zu Lightman. »Also los, Kurzzusammenfassung.«
Lightman berichtete ihm, was sie bisher ermittelt hatten.
»Als potenzielle Verdächtige haben wir also im Prinzip einen Freund, zwei Freundinnen, von denen eine einen Schlüssel hat, und den Vermieter«, brachte O’Malley das Gehörte auf den Punkt. »Dazu den Vater, der vermutlich entlastet ist, weil er in London war, und den Freund, der fast sicher zu Hause in Alton war und einen Skype-Anruf mit dem Opfer geführt hat.«
»Das ist es in etwa«, bestätigte Lightman. »Eben sind die Aufnahmen der Überwachungskameras auf der Rückseite des Gebäudes und ein Stück die Straße hinunter reingekommen. Wenn du also Lust haben solltest, dich durch endlose Stunden öder Bilder zu scrollen …«
»Schmeiß rüber«, erwiderte O’Malley. »Und wenn du schon dabei bist, auch gleich alle Fotos von Leuten aus Zoes Umfeld. Bisher habe ich nur zwei von ihnen persönlich getroffen.«
Jonah lachte still in sich hinein. Es hatte nur Minuten gedauert, Felix Solomons Personalakte zu finden. Hansons Gespür, dass Felix sie an Jonah erinnert hatte, war zwar wenig schmeichelhaft, hatte sich jedoch als absolut zutreffend erwiesen. Er war ebenfalls DCI gewesen, in Brighton, also bei der East Sussex Constabulary, und nicht in Hampshire. Aber er hatte bestimmt zusammen mit Jonah an Fortbildungen teilgenommen, ohne dass der sich an ihn erinnerte.
Felix war im Alter von dreiundfünfzig Jahren in den vorzeitigen Ruhestand getreten. Leider hatte Jonah keinen direkten Zugriff auf die psychologischen Gutachten, doch Esthers Hinweis auf PTBS war zutreffend gewesen. Nach drei Monaten erratischen Verhaltens und einer Therapie, beides verursacht durch einen besonders grausamen Fall, war Felix aus dem aktiven Polizeidienst ausgeschieden.
Dass er ein ehemaliger DCI war, erklärte einiges, zum Beispiel warum Felix im Vernehmungsraum so gelassen gewirkt und den Eindruck gemacht hatte, als wüsste er immer, was Jonah als Nächstes tun würde. Ob Felix etwas mit Zoes Tod zu tun hatte, blieb jedoch weiter unklar.
Aber sein Versuch, die Wohnung zu betreten, konnte durchaus eine vereitelte Ermittlung auf eigene Faust gewesen sein. Jonah konnte sich deprimierend leicht vorstellen, in Felix’ Haut zu stecken, im Ruhestand und nicht mehr eingeweiht, aber entschlossen herauszufinden, wer seine Freundin getötet hatte. Wenn Felix Zoe jedoch aus irgendeinem Grund selbst ermordet hatte, wollte er vielleicht auch den Tatort inspizieren, womöglich sogar manipulieren, um den Verdacht von sich abzulenken.
Und dann der Tipp zu Piers Lough. Es war plötzlich sehr viel wahrscheinlicher, dass Felix von ihm aus Quellen erfahren hatte, die er nicht hätte benutzen dürfen. Eine Möglichkeit wäre ein ehemaliger Kollege, der bereit war, seinetwegen das Risiko einzugehen. Die andere Möglichkeit war natürlich, dass Felix immer noch Zugriff auf die Datenbank in Brighton hatte. Und dieser Gedanke beunruhigte Jonah sehr.
Während er noch darüber grübelte, schickte er eine Nachricht an DCS Wilkinson und bat um Zugriff auf die psychologischen Gutachten und die Akten des Falles, der Felix Solomons Zusammenbruch ausgelöst hatte. Wahrscheinlich würde er vor Montag keine Antwort erhalten, doch damit hatte er einen weiteren Punkt auf der Liste abgehakt. Dann stand er auf, um mit O’Malley zu sprechen.
Besonders weit kam er nicht. Lightman blickte auf und sagte: »Haben Sie einen Moment, Sir?«
Als Jonah näher kam, drehte Lightman den Bildschirm so, dass sie beide darauf gucken konnten.
»Das sind die Aufnahmen der Kamera am Ende der Latterworth Road, der Kreuzung, an der man vorbeikommt, wenn man aus der Stadt zu Zoes Wohnung will.«
»Okay«, sagte Jonah.
»Die Aufnahme ist von 22:49 Uhr, also ein paar Minuten vor der vermuteten Tatzeit.«
Das eingefrorene Schwarz-Weiß-Bild einer Straßenmündung erwachte zum Leben, als Lightman auf Play klickte. Ein Jogger durchquerte das Bild, männlich und kraftvoll aussehend. Jonah betrachtete Statur und Gesicht, doch sie passten zu keinem der Verdächtigen, die sie bisher gesehen hatten. Er war größer als Aidan Poole oder Victor Varos.
»Gleich kommt es«, sagte Lightman, als die Kreuzung wieder still wurde.
Um kurz nach 22:50 Uhr tauchte ein weiterer Mann auf dem Bildschirm auf. Er trug einen Trainingsanzug und eine Kappe. Wegen der schweren Sporttasche auf seinem Rücken ging er ein wenig schief. Sein Gesicht lag komplett im Dunkeln, und Jonah hatte beim Betrachten das Gefühl, dass der Mann das wusste. Nach ein paar Schritten fasste er die Kappe mit beiden Händen, als wollte er sich vergewissern, dass der Schirm sein Gesicht verdeckte, und Lightman hielt das Video an.
Jonah lief es kalt den Rücken hinunter. Alles an dieser Figur war verkehrt. Das in dem offensichtlichen Wissen um die Kamera verdeckte Gesicht, der eilige Gang. Und sie war in Richtung von Zoes Wohnung gegangen, zehn Minuten bevor jemand ihre Tür aufgeschlossen und sie ermordet hatte.
»Taucht er noch einmal auf?«, fragte Jonah.
»Nicht auf den Aufnahmen dieser Kamera«, antwortete Lightman und spulte vor. Die zu schnell laufenden Bilder zeigten eine Reihe von Personen, die um elf Uhr mit slapstickartig schnellen Schritten aus der Stadt kamen. Die einzigen Personen, die in Richtung Stadt gingen, waren eine altmodisch gekleidete Frau in einem Pelzmantel und ein Mann mit seinem Hund.
»Von 23:13 Uhr bis halb zwölf kommt niemand«, sagte Lightman, »dann eine junge Frau auf einem Fahrrad und ein weiterer älterer Mann. Ich habe die Bilder bis Mitternacht durchgesehen. Er kommt nicht zurück.«
»Überprüfen Sie die Aufnahmen der anderen Kamera auf dem Parkplatz«, sagte Jonah. »Gucken Sie, ob die Figur bis zu Zoes Haus kommt.«
»Mach ich.«
»Wenn es so aussieht, als sei er ins Haus gegangen, müssen wir herausfinden, woher er gekommen ist. Dann müssten wir uns weitere Überwachungskameraaufnahmen ansehen.« Und wieder darauf warten, bis die Aufnahmen vorlagen, dachte er frustriert.
»Glauben Sie, es ist definitiv ein Er?«, fragte Lightman.
Jonah zögerte. »Das kann man unter der Kappe nur schwer erkennen. Der Gang wirkt ziemlich männlich, aber das könnte man auch vortäuschen. Was die Größe angeht, bin ich mir nicht sicher, aber auf jeden Fall größer als Angeline Judd. Wissen wir, wie groß Maeve Silver ist?«
»Nicht übermäßig groß«, rief O’Malley. »Vielleicht zwei, drei Zentimeter kleiner als ich.«
»Das heißt, sie könnte groß genug sein«, stellte Jonah fest.
Lightman spulte das Video mit nachdenklicher Miene zurück. »Wenn sich herausstellt, dass er bis zu Zoes Haus gegangen ist, lasse ich die Größe schätzen.«
Jonah überließ ihn seinen Recherchen und wandte sich O’Malley zu.
»Also, Domnall«, begann er, »Sie wissen ja, dass Sie eigentlich an dem Erpressungsfall arbeiten sollten …«
»Ah, das hab ich auch«, sagte O’Malley und hob die Hände von der Tastatur. »Ich helfe Lightman bloß ein bisschen aus …«
Jonah lachte. »Ich wollte auch gar nicht anordnen, dass Sie sich wieder der anderen Ermittlung widmen, sondern Sie eigentlich fragen, ob Sie Lust hätten, Ihre Ermittlungen auf einen damit zusammenhängenden Fall auszudehnen.«
O’Malley sah ihn schräg an. »Dabei handelt es sich nicht zufällig um einen Fall, der direkt mit Ihrer Mordermittlung zu tun hat?«
»Das könnte schon sein«, bestätigte Jonah. Er lehnte sich an den leeren Schreibtisch gegenüber von O’Malley. »Zoes Vermieter ist, wie sich herausgestellt hat, ein ehemaliger DCI aus Brighton. Juliette ist darauf gekommen, während ich überhaupt nicht geschaltet habe.«
»Felix Solomon?«, fragte Lightman hinter O’Malley. »Oh. Nun, das ergibt vermutlich Sinn.«
»Einerseits schon, andererseits auch nicht«, sagte Jonah. »Ich mache mir Sorgen, woher er als Expolizist seine Informationen bekommt.«
»Ah, jetzt verstehe ich auch den Zusammenhang mit dem Erpressungsfall«, sagte O’Malley grinsend. »Sie wollen, dass ich herausfinde, ob er irgendwelche Datenbanken gehackt hat, um an Informationen zu gelangen, die er nicht kennen dürfte.«
»Genau«, sagte Jonah. »Und Sie müssten auch einen Blick in die Datenbank der Brighton Constabulary werfen …«
O’Malley lachte leise. »Mein Gott. Sie haben nicht gesagt, dass ich selber als Hacker aktiv werden soll …«
»Ich hoffe, das wird nicht nötig sein«, sagte Jonah mit einem angedeuteten Lächeln. »Und wenn, würde ich es natürlich niemals vorschlagen …«
»Überlassen Sie das mir«, erwiderte O’Malley. »Ich glaube allerdings, ich werde jemanden brauchen, der sich besser mit Technik auskennt.« Er hob eine Hand. »Auch das können Sie mir überlassen.«
Bis Maeve Silver im CID eintraf, hatte Lightman bestätigt, dass die Figur mit der Kappe auch die zweite Kamera auf dem Parkplatz hinter Zoes Haus passiert hatte und auf der richtigen Straßenseite gegangen war, um das Haus zu betreten.
Lightman hatte nach Referenzpunkten gesucht, um ihre Größe zu schätzen, was grundsätzlich schwierig war, durch die verschiedenen anderen Personen, die die Kamera erfasst hatte, jedoch erleichtert wurde.
»Ich würde sagen, mindestens ein Meter siebzig«, erklärte er. »Könnte aber auch alles bis eins fünfundachtzig sein.«
»Das schließt niemanden aus«, murmelte Jonah, »mit Ausnahme von Angeline Judd. Ich werde sehen, ob ich Maeve Silver etwas zu dem Thema entlocken kann.«
Kurz darauf traf Maeve am Empfang ein, und Jonah ging nach unten, um sie abzuholen. Sie sah aus wie jemand, der sich nur mit Mühe zusammenriss. Ihre Augen waren unnatürlich hell, und jedes Mal wenn Jonah sie ansprach, nickte sie eifrig und sagte: »Sicher, sicher.« Dann strich sie eine hell gefärbte Locke hinters Ohr, die ihr jedoch gleich wieder ins Gesicht fiel.
Außerdem fiel ihm das Kruzifix auf, dass sie unter ihrer hellblauen Bluse an einer Kette trug. Das bedeutete für eine junge Frau von Mitte zwanzig wahrscheinlich, dass sie eine ziemlich fromme Christin war.
Jonah führte sie in den Vernehmungsraum und sah, wie sich ihre Miene aufhellte, als Lightman ihr gegenüber Platz nahm. Das war die Standardreaktion der meisten Frauen und auch etlicher Männer.
Als das Band lief, begann Jonah behutsam. »Uns ist bewusst, dass es Ihnen womöglich schwerfällt, darüber zu sprechen. Aber könnten Sie uns sagen, wann Sie Zoe zum letzten Mal gesehen haben?«
Maeve nickte und faltete die Hände im Schoß, bevor sie sprach. »Am Mittwochabend waren wir alle zusammen. Wir haben uns zum Essen im La Mejican getroffen. Kennen Sie das? Wir waren zu viert, ich, Angeline, Victor und Zoe. Danach habe ich sie nicht mehr gesehen.«
»Am Donnerstag hat sie sich also nicht bei Ihnen gemeldet?«
»Nein.« Maeve schüttelte den Kopf. »Aber das ist nicht ungewöhnlich. Wenn wir beide viel zu tun hatten, haben wir nur alle paar Tage miteinander gesprochen.«
»Und Sie wissen nicht, was sie gemacht hat?«, fragte Jonah.
»Nein, leider nicht. Ich weiß, dass Angeline vorhatte, sich mit ihr zu treffen, aber …« Sie zuckte die Achseln, schniefte und rieb sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ich wollte sie gestern besuchen, aber dann war überall Polizei. Ich dachte, dass wahrscheinlich in einer anderen Wohnung etwas passiert ist. Ich wollte es glauben, verstehen Sie? Aber dann habe ich versucht, sie anzurufen, und es ist niemand drangegangen.« Sie lachte schluchzend auf. »Ich habe versucht, mir einzureden … dass es bloß Zufall war. Aber als ich dann zu Victor gegangen bin und er sagte, dass sie nicht zur Arbeit gekommen war, wusste ich es. Ich wusste, dass etwas Schreckliches passiert war.«
Zitternd zückte Maeve ein Taschentuch und schnäuzte sich. Sie wirkte ähnlich erschüttert wie Angeline Judd, schien ihren Gefühlen jedoch nicht nachgeben zu wollen. Sie lächelte Jonah mit tränenverschleiertem Blick an. »Sie müssen schon Fragen stellen.«
»Das ist in Ordnung«, sagte er so freundlich wie möglich. »Dies ist bestimmt keine leichte Zeit für Sie. Wir können auch eine Pause machen, wenn Sie möchten.«
»Nein, alles okay. Machen Sie weiter.«
Lightman stand auf und füllte einen Becher mit Wasser aus dem Spender in der Ecke, den er Maeve wortlos überreichte.
»Danke«, sagte Maeve und lächelte erneut.
»Waren Sie am Donnerstagabend irgendwo in der Nähe von Zoes Wohnung?«, fragte Jonah und beobachtete ihre Miene genau. Maeves Blick folgte Lightman, als der wieder Platz nahm, doch ansonsten zeigte sie keine erkennbare Reaktion. Kein Anzeichen von Stress.
»Aaah, nein. Ich war beim Ladies’ Supper.« Jonah sah sie fragend an, und sie erklärte: »Von der Kirche. Alle jüngeren Frauen treffen sich zum Essen. Abwechselnd eine Woche die Frauen, die andere Woche die Männer.«
»Und um wie viel Uhr war das?«
»So gegen sieben. Ich war ehrlich gesagt ein bisschen zu spät.« Sie warf Lightman ein kurzes bescheidenes Lächeln zu und sah dann wieder Jonah an. »Dort war ich schätzungsweise bis … gegen halb zehn. So ungefähr. Dann bin ich nach Hause gegangen.«
»Was für einen Eindruck hat Zoe an dem Abend davor gemacht?«, fragte Jonah. »Am Mittwoch.«
»Es schien ihr gut zu gehen«, sagte Maeve. »Ich meine, seit ihrer letzten Trennung von Aidan war sie nicht mehr sie selbst. Sie war ziemlich fertig.«
»Glauben Sie, dass sie psychische Probleme hatte?«, fragte Jonah.
»Ja«, antwortete Maeve, ohne zu zögern. »Keine Frage. Ich glaube, sie war schon vorher ein wenig fragil. Sie hat in kürzester Zeit drastisch abgenommen, und sie hat ihr Augen-Make-up nicht mehr nur zu speziellen Anlässe getragen, sondern immer.«
»Verzeihung«, unterbrach Jonah sie. »Ihr Augen-Make-up?«
»Oh, also … sie hat gern extravagante Looks ausprobiert. Unglaubliche Farben und Muster, schwarze oder goldene Wirbel mit Pailletten. Fast wie winzige Gemälde. So als hätte sie ihr Gesicht als Leinwand für ihre Kunst benutzt.«
Jonah nickte langsam. »Und Sie glauben, dass es ein Ausdruck von … Unsicherheit war, dass sie das immer öfter getan hat?«
»Na ja, ich weiß nicht. Es ist nur eine Theorie.« Maeve schien ein wenig verlegen. »Die Augenbemalung ist mir bloß immer vorgekommen wie … ein Weg, um die Aufmerksamkeit abzulenken. Es war auffällig, und die Leute haben immer irgendwas dazu gesagt. Dahinter kann man sich vermutlich ganz gut verstecken, oder? Und als es dann so aussah, als wäre Aidan vielleicht doch noch enger mit seiner Frau zusammen, als Zoe gedacht hatte, wurde es fast ein bisschen zwanghaft. Sie musste immer perfekt aussehen, nicht nur wenn sie ihn getroffen hat.«
»Hatte sie wegen Aidan noch andere Befürchtungen?«, fragte Jonah. »Was seine Treue ihr gegenüber anging?«
»Ich glaube nicht«, sagte Maeve. Sie lief kurz zartrosa an, was Jonah interessiert bemerkte. »Seine Ehefrau hat völlig gereicht.«
»Er hat nie … versucht, mit Ihnen zu flirten?«
»Ah, nein, natürlich nicht«, antwortete sie und wurde diesmal richtig rot. Sie betrachtete ihre Hände, statt Jonah oder Lightman anzusehen. »Er wollte nur, dass ich auf seiner Seite war.« Dann fügte sie hastig hinzu: »Angeline sagt, Zoe und Aidan seien wieder zusammengekommen.« Sie schaute Jonah wieder an. »Glauben Sie, dass das vor kurzem geschehen ist? Ich wusste nichts davon.«
»Es scheint noch nicht lange her gewesen zu sein«, bestätigte Jonah.
»Mein Gott«, sagte Maeve, zog ein weiteres Taschentuch aus der Tasche, zerknüllte es in ihrer Hand und wischte sich damit die Augen. »Ich hatte das Gefühl, dass sie mir irgendwas verheimlicht. Ist es nicht schrecklich, dass sie es keinem von uns erzählt hat? Nicht mal mir, obwohl ich die Einzige war, die ihr nicht geraten hat, ihn endgültig abzuschießen?«
»Ihrer Ansicht nach hatte die Beziehung der beiden also nichts Ungesundes?«, fragte Jonah.
»Nein«, sagte Maeve mit einem Kopfschütteln. »Ich meine, ich glaube, es ist nie gut zu betrügen. Aber abgesehen davon, dass er ihr lange verheimlicht hat, dass die Scheidung noch nicht einmal beantragt war, hat er sie wirklich gut behandelt. Er hat sie mit Zuwendung überhäuft und sich um sie gekümmert.« Maeve blickte beinahe flehend zu Lightman. »Sonst war Zoe immer diejenige, die allen anderen geholfen hat, und es war schön zu sehen, dass sie etwas zurückbekam, verstehen Sie? Außerdem schienen die beiden immer so viel Spaß miteinander zu haben. Er ist so anders als die bedürftigen Wichser, mit denen sie vorher zusammen war.«
Der Kraftausdruck ließ Jonah unwillkürlich lächeln. Christin oder nicht, Maeve war offenbar nicht darüber erhaben, ihre Mitmenschen mit wenig Nächstenliebe zu beurteilen. »Und wie war das nach ihrer Trennung?«, fragte er weiter. »Es gibt Andeutungen, dass er sie belästigt haben soll.«
»Ach, ich glaube nicht, dass es Belästigung war«, sagte Maeve und wurde wieder rot. »Mir hat er ehrlich gesagt leidgetan. Er wollte alles erklären und die Sache irgendwie wiedergutmachen. Und dann ist sie weggezogen. Ich glaube, als sie dachte, dass es wirklich vorbei ist, war sie am Boden zerstört, und sie wollte nichts sehen, was sie an ihn erinnerte. Nicht das Haus, nicht ihn, eine Zeitlang nicht einmal uns.«
Jonah beobachtete, wie sie ihr Taschentuch wieder zur Hand nahm. »Warum haben sie sich getrennt?«
»Also das erste Mal, weil Aidan mit seiner Frau im Urlaub gewesen war. Victor hat es herausgefunden …«
»Victor hat es herausgefunden?«
»Er hat es auf Facebook gesehen. Aidan hatte einige Posts vor Zoe verborgen, aber Victor konnte sie sehen. Wahrscheinlich hatte Aidan vergessen, dass er ihn als Freund hinzugefügt hatte, oder er wusste nicht, dass es Victor war. Er hat dort irgendeinen abgedrehten Gamer-Namen.«
»Glauben Sie, dass Victor ein persönliches Interesse daran hatte, dass die Beziehung zerbrach?«, fragte Jonah leise.
»Ah, Sie meinen … ob er verliebt in sie ist?«, erwiderte Maeve seufzend. »Ja, ist er. Und wahrscheinlich wollte er auch das Beste für sie. Aber er ist nicht gewalttätig. Ich meine, er ist jähzornig, aber das ist … nur ein Strohfeuer. Eine kurze Laune, die gleich wieder verflogen ist.«
»Und Zoe hatte definitiv kein Interesse? Zwischen den beiden ist nie etwas passiert?«
»Nein«, sagte Maeve leise. »Und das wird es jetzt auch nie mehr. Armer Victor.«
Juliette warf ihre Tasche auf ihren Stuhl und schälte sich aus Sheens’ nasser Regenjacke. Zum Glück war die Jacke zu lang für sie, sodass ihre Oberschenkel im Gegensatz zu den durchnässten Unterschenkeln trocken geblieben waren.
»Das war’s«, erklärte sie O’Malley. »Ich gehe da nicht noch mal raus. Du und Ben, ihr könnt alles andere übernehmen, während ich mich mit einem Tee vor eine Heizung hocke.«
»Ich sollte eigentlich überhaupt nicht arbeiten«, entgegnete O’Malley.
»Und warum machst du es dann?«, erwiderte Juliette grinsend.
»Ich bin ein Opfer«, antwortete O’Malley seufzend.
»Sind sie noch mit Maeve Silver drinnen?«, fragte sie und wies mit dem Kopf in Richtung Vernehmungsraum.
»Ja, die fromme Freundin.«
»Ist sie das?«
»Sehr, würde ich sagen«, antwortete O’Malley salbungsvoll. »Sie trägt ein Kruzifix und versucht die ganze Zeit, schrecklich nett zu sein, trotz der grausamen Versuchung, es nicht zu sein.«
»Eine von denen«, sagte Juliette und schob ihren Stuhl so nah an die Heizung, wie es ging, wenn sie gleichzeitig noch die Tastatur auf ihrem Schreibtisch erreichen wollte. Der Chef kam aus dem Vernehmungsraum, dicht gefolgt von Lightman in Begleitung einer jungen Frau mit Locken, bei der es sich um Maeve handeln musste. Sie sah aus, als sei sie noch vor kurzem sehr aufgewühlt gewesen, doch im Moment lächelte sie und lachte über etwas, das Ben Lightman gesagt hatte.
Juliette verdrehte unwillkürlich die Augen. Woher kam diese niemals endende Schlange von Bewunderinnen, die nur darauf warteten, dass Lightman sich in sie verliebte? Ein hübsches Gesicht war nicht alles.
Der DCI kam zu ihrem Tisch. »Was Felix Solomon betrifft, lagen Sie absolut richtig«, sagte er leise. »Er war früher DCI in Brighton. Vorzeitiger Ruhestand wegen posttraumatischer Belastungsstörung. Ich habe die Details angefragt.«
»Oh, super!«, sagte Juliette und gab sich Mühe, nicht zu selbstzufrieden auszusehen.
»Ich habe O’Malley darauf angesetzt herauszufinden, ob er Zugriff auf polizeiliche Daten hat, die er nicht einsehen dürfte«, fügte der Chef hinzu.
»Dann bist du also schuld«, sagte O’Malley und blickte zu ihr auf.
»Mir ist noch ein Gedanke zu Felix Solomon gekommen«, sagte Juliette. »Wenn er die Angewohnheit hat, in die Wohnung seiner Mieterin einzudringen, hat die Vormieterin vielleicht ähnliche Erfahrungen gemacht. Ich könnte ihre Personalien ermitteln.«
»Kein schlechter Gedanke«, sagte der DCI und warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. »Als Nächster kommt Victor Varos.«
»Möchten Sie bei der Befragung vielleicht von einer charmanten jungen Constable begleitet werden?«, fragte Juliette.
Sheens grinste sie an. »Einverstanden.«
»Danke, Chef«, erwiderte Juliette und loggte sich in die Datenbank ein, um Felix Solomons Telefonnummer nachzusehen.
Sie versuchte, sich nicht zu sehr darüber zu freuen, erneut ausgewählt worden zu sein. Sie wusste, dass es nicht um Talent ging. Der Chef wählte seine Partner bei Befragungen allein danach aus, wer ihm in der Situation am meisten helfen würde. Es spielte keine Rolle, wie gut man bei der letzten Vernehmung gewesen war oder ob man das Gefühl hatte, an der Reihe zu sein. Wenn man nicht ausgewählt wurde, wurde man nicht ausgewählt. Aber er leitete ja auch keine verdammte Demokratie, wie ihr Englischlehrer immer gesagt hatte.
»Stehe ich unter Verdacht?«, fragte Victor, als Jonah die Hand zu dem Aufnahmegerät ausstreckte.
»Zur Zeit behandeln wir niemanden als Tatverdächtigen«, beruhigte Jonah Victor. »Wir zeichnen die Befragung sämtlicher Personen auf, die eine Verbindung zu dem Opfer hatten, für den Fall, dass uns im Gespräch etwas Entscheidendes nicht auffällt. Mit Hilfe der Bänder und einer späteren Abschrift können wir Details nachsehen. Das ist alles.«
Victor warf ihm einen gereizten Blick zu. Das konnte der junge Brasilianer ziemlich gut. Er hatte den intensiven bohrenden Blick, die markanten, wie gemeißelten Gesichtszüge und den dunklen Vollbart, die perfekt zu einer mürrischen Miene passten. Außerdem wirkte er kräftig. Kein Gramm Fett zu viel, die Venen und Muskeln an seinen Armen zeichneten sich deutlich ab.
Als Jonah ihn weiter mit ausdrucksloser Miene ansah, nickte er schließlich, und Jonah startete das Band.
»Ich möchte Sie gern fragen, wann Sie Zoe zum letzten Mal gesehen haben«, begann er.
»Mittwoch«, antwortete Victor. »Mittwochabend.«
»Können Sie die Umstände beschreiben?«
Victor zuckte die Schultern. »Wir waren im La Mejican essen. Wir vier. Angeline, Maeve, Zoe und ich.«
»Sind Sie oft zusammen ausgegangen?«, fragte Hanson.
»Ja«, antwortete Victor knapp. »Wir waren Freunde.«
»Und welchen Eindruck hat Zoe gemacht?« Die Frage kam wieder von Jonah.
»Wie immer.«
»Sie wirkte nicht unglücklich?«, hakte er nach. »Oder als würde sie etwas verheimlichen?«
Es entstand eine Pause. Victor sah aus, als würde er die Frage lieber unbeantwortet lassen. »Am Ende ist sie überstürzt aufgebrochen«, erklärte er schließlich. »Sie hat gesagt, sie sei müde, aber ich habe gesehen, wie sie eine Nachricht auf ihrem Handy gelesen hat, bevor sie gegangen ist. Ich dachte, dass es vielleicht ein Mann war. Ich wusste nicht, dass sie wieder mit Aidan Poole zusammen war. Jetzt ergibt es Sinn.«
»Sie glauben, dass sie sich mit ihm treffen wollte?«
»Ja, und ich glaube, das Schwein hat sie umgebracht.«
»Aber das war der Abend davor«, wandte Jonah ein.
»Ich meine nicht dann«, sagte Victor abschätzig. »Ich meine, dass er offensichtlich zurück in ihrem Leben war und sie manipuliert hat, und ich glaube, dass er sie umgebracht hat.«
»Aidan Poole hat selbst die Polizei alarmiert.«
»Dann hat er sie eben umgebracht und es anschließend bereut«, sagte Victor voller Wut. »Er würde es bereuen. Sie war das Beste in seinem Leben, und er hatte sie nie verdient.«
Jonah wählte die nächsten Worte mit Bedacht. »Sie scheinen unbedingt glauben zu wollen, dass Aidan verantwortlich war. Was haben Sie persönlich für Zoe empfunden?«
»Sie war eine gute Freundin«, sagte Victor gepresst.
»Und wie haben Sie reagiert, als Sie erfahren haben, dass die beiden zusammen sind?«
Victors Kopf schnellte zur Seite wie eine Katze. Sein Blick zuckte zu Hanson und zurück. »Jemand hat Ihnen erzählt, dass ich mutwillig seinen Computer zerstört habe, oder? Das war keine Absicht. Ich habe einen Becher Kaffee umgestoßen, weil ich wütend war.«
»Wütend, weil er mit der Frau zusammen war, die Sie begehrten?«, fragte Hanson und beugte sich ein wenig vor.
»Nein«, erwiderte Victor aggressiv. »Er war … er war grob zu mir.«
Hanson lächelte knapp. »Kommen Sie, Victor, ich habe auch schon als Barista gejobbt. Die Kunden sind regelmäßig unhöflich zu einem. Damit kommt man klar. Da ging es doch um mehr, oder?«
Victor sah sie mit einem verächtlichen Blick an, der Jonah überraschte. Es war ungewöhnlich, dass potenzielle Verdächtige sich so offen feindselig gegenüber der Polizei verhielten.
Aber Hanson bohrte, wie er erfreut feststellte, unverdrossen weiter. »Sie haben Zoe immer gemocht, oder?«, fragte sie. »Sie haben Aidan gehasst, weil er Ihnen im Weg war. Wann hat sich dieser Hass auf Zoe übertragen?«
Victor schüttelte den Kopf. »Ich habe Zoe nicht gehasst. Nie. Keine Minute lang.« Er fixierte Hanson mit einem wütenden Blick. »Sie war nur das Opfer eines manipulativen Mannes.« Er blickte unvermittelt zu Jonah. »Wer hat das erzählt? Das mit dem Kaffee? Maeve, oder? Natürlich war sie es, verdammt noch mal.« Er stieß mit dem Finger auf den Tisch. »Maeve würde alles sagen, um Aidan besser dastehen zu lassen, selbst wenn sie damit alle anderen reinreißt. Sie ist besessen von ihm.«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Jonah ruhig, überaus interessiert, dass Victor zu diesem Schluss gekommen war, während Maeve ihn in Wahrheit verteidigt hatte.
Victor schnaubte. »Wegen ihres Verhaltens im letzten Jahr. Sie hat weiter mit Aidan geredet, offenbar über Zoe. Und sie hat Zoe bedrängt, bei ihm zu bleiben oder wieder mit ihm zusammenzukommen. Die ganze Zeit.« Er sah angewidert aus.
»Warum sollte sie gewollt haben, dass die beiden zusammenblieben?«, fragte Hanson.
»Weil sie ihn dann weiter sehen konnte«, antwortete Victor, als ob das offensichtlich wäre. Die Art, wie er Hanson mit gekräuselter Oberlippe fixierte, war unangenehm. »Außerdem hat sie selbst Probleme. Sie will keinen Sex vor der Ehe haben, aber sie hat den beiden verdammt gern beim Knutschen zugeguckt. Als ob es sie aufgegeilt hätte.«
Jonah dachte kurz über diese Antwort nach und hielt sie in Stichworten schriftlich fest. Er wusste nicht, wie er reagieren sollte, und fragte sich, ob es stimmte, was Victor über Maeve Silver erzählte. »Glauben Sie, dass Maeve Zoe vielleicht verletzen wollte?«
»Ich weiß nicht«, sagte Victor und wandte sich unvermittelt mit einem Achselzucken ab. Nachdem er nicht mehr direkt unter Druck stand, schien seine Wut plötzlich abzuebben. »Vermutlich nicht. Aber wenn sie wüsste, dass Aidan es getan hat, würde sie alles tun, um es zu vertuschen, da bin ich mir sicher.«
Nachdem Victor gegangen war, saß Jonah etliche Minuten in seinem Büro und versuchte zu entscheiden, was er von den Anschuldigungen halten sollte. Auf einer Ebene kam es ihm kindisch vor. Andererseits würde es Maeves Verlegenheit erklären, als Jonah sie gefragt hatte, ob Aidan je versucht hatte, sich an sie heranzumachen.
Aber die Andeutung, Maeve könnte Aidan decken, machte ihm keine allzu großen Sorgen. Dafür wies zu viel darauf hin, dass Aidan Poole zur Tatzeit zu Hause gewesen war. Jonah bezweifelte stark, dass Aidan der Mann mit der Kappe war. Es wäre absolut unlogisch, die Polizei zu alarmieren und auf den Tatort aufmerksam zu machen, wenn er sich zu der Zeit irgendwo in der Nähe von Zoes Wohnung aufgehalten hätte.
Trotzdem war es möglich, dass Aidan Maeve zu irgendetwas angestachelt hatte, während er selbst sicheren Abstand gewahrt hatte. Ebenso denkbar war es, dass sie von sich aus gehandelt hatte. Als Zoe und Aidan sich getrennt hatten, hatte sie vielleicht geglaubt, nun sei sie an der Reihe. Womöglich hatte Aidan ihr sogar Hoffnungen gemacht. Und wenn Maeve dann später erfahren hatte, dass Zoe wieder mit Aidan zusammen war, hätte sie das zu einer Gewalttat treiben können.
Nicht zu vergessen, dass Victor selbst von Zoe besessen gewesen war. Jonah war sich zwar nicht sicher, ob er Victors sprunghaftem Charakter die sorgfältige Planung eines Verbrechens zutraute, doch es war möglich, dass ein lange schwelender Groll kalte Berechnung statt brennende Wut hervorgebracht hatte.
Der andere Punkt, an dem Jonah nicht weitergekommen war, war die Rekonstruktion von Zoes Aktivitäten am Donnerstag. Bis auf Angelines Aussage, die Zoe am Vormittag getroffen hatte, und Felix’ Telefonat mit ihr, hatten sie nichts Konkretes, bis Felix sie am Abend zwischen acht und halb neun angeblich hatte nach Hause kommen sehen. Wenn das stimmte, musste sie die Wohnung auch irgendwann verlassen haben.
Victor hatte angedeutet, dass Zoe sich am Abend zuvor mit jemandem getroffen haben könnte, den sie verheimlicht hatte. Das war in keiner der anderen Aussagen erwähnt worden. Wenn Zoe die Wohnung am nächsten Tag verlassen hatte, dann vielleicht, um dieselbe Person zu treffen.
Ein paar Minuten später riss ihn Lightmans Klopfen aus seinen Gedanken. »Ich habe auf den Aufnahmen der Überwachungskameras noch einiges Interessantes gefunden.«
Jonah folgte ihm und zog sich einen der vielen leeren Stühle an Lightmans Schreibtisch. Lightman klickte auf einen von mehreren Schnappschüssen, die er gespeichert hatte, um ihn zu vergrößern. Das angehaltene Bild zeigte den Blick durch den Torbogen, stammte also von der Kamera auf dem Parkplatz hinter dem Wohnkomplex. »Das ist am Donnerstag um 17:20 Uhr«, sagte Lightman. »Die Kamera befindet sich ein Stück die Hill Lane hinunter, also Richtung Stadtzentrum.«
Er klickte auf Play, und Jonah sah einen Wagen, der auf der Straße Richtung Stadt fuhr, gefolgt von einer punkig aussehenden Frau mit Lederjacke und Brille. Dann tauchte eine weitere Gestalt auf, die in dieselbe Richtung ging. Beide Personen hatten es offenbar eilig, als sie, die Hände in den Jackentaschen, mit hastigen Schritten den Torbogen passierten.
Lightman hielt das Video an, kurz bevor die zweite Gestalt aus dem Bildrahmen trat. Es war offensichtlich Zoe, das Haar zu einem Dutt hochgebunden wie zum Zeitpunkt ihres Todes.
Jonah lief ein Schauer über den Rücken. Es war immer verstörend, Tote in einer Filmaufnahme lebendig zu sehen. »Und sie wurde auch beim Nachhausekommen erfasst«, sagte Lightman.
Er startete einen weiteren Clip, aufgenommen von der Kamera in der Nähe des Wohnkomplexes um 20:31 Uhr. Mehr als drei Stunden nachdem Zoe ihre Wohnung verlassen hatte und fast genau zu der Zeit, als Felix sie laut eigener Aussage hatte heimkommen sehen.
Wenig später tauchte Zoe im Bildausschnitt auf. Diesmal hatte sie es weniger eilig. Sie schob die rechte Hand in die Tasche, vermutlich um ihren Schlüssel herauszuholen. Aber bevor sie die Haustür erreichte, verlangsamte sie ihre Schritte und blieb stehen. An ihren Bewegungen konnte man erkennen, dass sie mit jemandem sprach, der nicht im Bild war. Mit jemandem, der wahrscheinlich direkt vor der Haustür auf sie gewartet hatte.
»Bekommen wir die Person zu sehen?«, fragte Jonah.
»Leider nicht«, sagte Lightman.
Das Gespräch dauerte einige Minuten, dann machte Zoe ein paar Schritte nach vorn, zögerte und ging aus dem Bild zur Haustür. Sie tauchte nicht wieder auf.
»Auf welcher Seite liegt Felix Solomons Wohnung?«, fragte Jonah nachdenklich.
»Juliette hat sie auf dieser Seite des Gebäudes eingezeichnet«, antwortete Lightman und zeigte nach rechts. »Mit Blick auf die Straße.«
»Das heißt, er hätte jemanden, der vor der Haustür gewartet hat, wahrscheinlich nicht bemerkt«, stellte Jonah fest. »Er behauptet, nur Zoe gesehen zu haben. Die Uhrzeit stimmt auch. Aber natürlich könnte er auch selbst auf sie gewartet haben.«
Jonah sah sich den Clip erneut an und achtete diesmal genauer auf Zoes Haltung. Die zögernden Schritte. Der Abstand zwischen ihr und der Person außerhalb des Bildes, die auf sie gewartet hatte. Die Art, wie sie ihr Gewicht auf die Fersen verlagerte und nervös von einem Fuß auf den anderen trat.
»Ist das nur mein Eindruck«, fragte er, »oder sieht sie aus, als hätte sie Angst?«