Jonah erwachte mit bohrenden Kopfschmerzen und spürte eine bedrückende Angst auf seiner Brust. So fühlte er sich oft, wenn er verkatert war. Er würde große Reue und Furcht wegen allem empfinden, was er getan hatte, und den Fehler, zu viel zu trinken, nahtlos mit jeder anderen Entscheidung in Verbindung bringen, die er getroffen hatte.

Dass er in einem unbekannten Hotelzimmer aufwachte, half auch nicht. Als er sich aufrichtete und zu Michelle blickte, die, das Gesicht von ihrem Haar verdeckt, noch fest schlief, war ihm, als wäre er in einem seltsamen Paralleluniversum aufgewacht, einem, in dem sie sich nie getrennt hatten und das letzte Jahr nicht passiert war.

Er brauchte Wasser, Paracetamol und sein eigenes Bett. Bevor er nicht ausgeschlafen war, konnte er nicht klar denken. Danach konnte er entscheiden, ob er alles vermasselt oder etwas verloren Geglaubtes wieder geborgen hatte.

Michelle rührte sich nicht, als er seine Kleider zusammensuchte und sich anzog. Sie zeigte auch keine Reaktion, als er einen Streifen Paracetamol aus seiner Jackentasche zog und vier Tabletten herausnahm. Zwei legte er auf den Nachttisch, füllte ein Glas mit Wasser aus der Minibar und stellte es daneben. Sie murmelte nur undeutlich, als er sich über sie beugte und erklärte, dass er losmüsse. An der Tür zögerte er, weil er fürchtete, sie könnte denken, dass er sie irgendwie ausgenutzt hatte.

Aber es würde auch nicht helfen, wenn sie in diesem Zustand miteinander redeten. Er würde dumme Sachen sagen, die sie verletzen würden. Er schlüpfte aus dem Zimmer und verzog das Gesicht, als die Tür hinter ihm zufiel.

Dass die ganze Episode am Morgen und umgeben von Hotelgeräuschen sehr viel weniger bedrohlich erschien, half auch nicht. Sie fragte sich, ob sie überreagiert und einundsechzig Pfund verschwendet hatte, die sie auch sinnvoller hätte ausgeben können.

Eigentlich hatte sie vorgehabt, den Chef anzurufen und ihm alles zu erzählen, doch das kam ihr jetzt zu peinlich vor. Denn was hatte sie letztendlich gesehen? Jemand, der vor ihrem Haus gewartet und geklingelt hatte, bevor er wieder gegangen war, als niemand aufgemacht hatte. Das waren die nackten Tatsachen, wenn man ihr Gefühl der Angst abzog.

Vielleicht könnte sie es erwähnen, wenn der Chef sie das nächste Mal auf den neuesten Stand brachte. Sie stand träge auf und spürte, wie ihre harten Muskeln sich anspannten. Nachdem sie geduscht und sich angezogen hatte, sah sie eine Nachricht des Chefs, dass bis Montag weder neue Kameraaufnahmen noch die Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchung vorliegen würden, weshalb er vorschlug, dass sie das Wochenende genießen sollten, bis mehr zu tun war.

Sie versuchte, es positiv zu sehen. So konnte sie ihre Mutter besuchen und alle ihre Jobsorgen bei ihr abladen. Eine tröstliche Aussicht, auch wenn sie die Gestalt vor ihrer Tür nicht erwähnen durfte.

Kurz darauf schrieb Lightman ihr, um sich zu vergewissern, dass sie die Nachricht des Chefs erhalten hatte, und um zu fragen, wie

Aber Lightman hatte deutlich gemacht, dass er seine privaten Probleme nicht mit ihr teilen wollte, deshalb wäre es ihr peinlich gewesen, ihm ihre zu offenbaren, zumal sie auf einem vermutlich unbegründeten Gefühl von Angst beruhten. Sie schrieb zurück, dass es ihr gut gehe und sie froh sei, einen freien Tag zu haben. Dann machte sie sich fertig für die Fahrt zu ihrer Mutter nach Birmingham.

Maeve verließ das Haus gut zehn Minuten später als geplant. Es hatte offenbar nichts geholfen, dass sie in den letzten Tagen alles abgesagt hatte, was nicht unerlässlich war. Anstatt ihrem zu vollgepackten Terminkalender permanent hinterherzuhecheln, schien ihre Zeit jetzt zu verrinnen, während sie ins Leere starrte, so tief versunken in furchtbaren Gedanken, dass sie manchmal regelrecht verwirrt wieder auftauchte. Trotzdem kam sie sich wegen ihrer Verspätung vor wie eine Versagerin und war überzeugt, dass die Leute sie auch so beurteilten.

Sie hatte ihr Fahrrad vor der Haustür angeschlossen, wo sie es mittlerweile gewohnheitsmäßig abstellte. Es gab zwar einen Hinterhof, wo das Rad viel sicherer gewesen wäre, doch irgendwie fehlte immer die Zeit, es dorthin zu bringen.

Als sie den Schlüssel aus der Tasche zog, sah sie, dass ein durchnässtes Flugblatt an dem Rad haftete. Sie riss es ab und fluchte, weil ein Teil des Papiers am Rahmen kleben blieb.

Als sie das Blatt aufklappte, erkannte sie, dass es kein Flugblatt war, sondern eine handgeschriebene Nachricht. Der dicke Filzstift war nicht verwischt, sodass die Worte klar und deutlich lesbar waren.

Halt deine schmutzige kleine Klappe.

Sie starrte darauf. Ihr Herz pochte bis zum Hals. Es fühlte sich krank an. Gebrochen.

Im Fallen klammerte sie sich an ihr Fahrrad, was ihr jedoch nur einen Bluterguss an der Hand einbrachte, während sie trotzdem hart auf Knie und Ellbogen landete. Das Gefühl, völlig wehrlos zu sein, war grauenhaft. Sie ruderte mit den Armen, versuchte aufzustehen und fühlte sich wie in einem Traum, in dem sie sich nicht bewegen konnte. Sie rappelte sich auf alle viere und verzog das Gesicht, als ihre Hände und Knie den feuchten Bürgersteig berührten. Als sie aufblickte, sah sie einen Jogger im Trainingsanzug um die Ecke verschwinden.

Nachdem er kurz gecheckt hatte, ob es neue Nachrichten gab, und seinem Team bis auf weiteres freigegeben hatte, schlief Jonah fast den ganzen Vormittag. Als er aufwachte, hatte er ein schlechtes Gewissen, so lange außer Gefecht gewesen zu sein. Er hatte gehofft, dass eine Nachricht von Michelle auf ihn warten würde, aber nichts dergleichen.

Wahrscheinlich war es besser, wenn er sich meldete, schließlich war er grußlos gegangen. Also schrieb er, dass es sehr schön gewesen sei, sie wiederzusehen, entschuldigte sich für seinen Zustand und fragte, ob sie Lust habe, ihn später in der Stadt oder in London zu treffen.

Als er aus der Dusche kam, war ihre Antwort eingegangen. Sie war schmerzhaft kurz.

Bin schon zu Hause. Melde mich vielleicht im Laufe der Woche.

Und das war’s. Kein Ausdruck der Freude darüber, was geschehen war, aber auch kein Bedauern. Nichts, das ihm verriet, was sie empfunden hatte; nichts, was erkennen ließ, dass sie verstand, dass bei ihm kaum vernarbte Wunden geöffnet und alte Gefühle geweckt worden waren.

Die Runde auf dem Fahrrad half Jonah, den Kopf wieder freizubekommen und die Gedanken an Michelle in den Hintergrund zu drängen, sodass er sich wieder auf Zoe Swardadine und die Menschen konzentrieren konnte, die sie umgebracht haben konnten. Während er der Straße durch Godshill folgte, sortierte er die verschiedenen Aspekte des Falles: die fehlenden drei Stunden; die Gestalt mit der Kappe; Zoes angespannte, ängstliche Körperhaltung, als sie vor ihrer Haustür mit jemandem gesprochen hatte, der jeder ihrer Verdächtigen hätte sein können, mit Ausnahme von Aidan, der nicht gewusst hatte, wo sie wohnte.

Seine Gedanken kehrten zu Zoe zurück. Allem Anschein nach hatte sie sich in den letzten Monaten ihres Lebens stark verändert. Er erinnerte sich, was Maeve über Zoes Gewichtsverlust und ihr Augen-Make-up gesagt hatte. Als man sie in ihrer Badewanne gefunden hatte, hatte sie keine Spur von Make-up im Gesicht, was jedoch nicht unbedingt überraschend war. Jonah rief sich ihr Gesicht auf den Bildern der Überwachungskamera ins Gedächtnis und war sich ziemlich sicher, dass Zoe darauf ebenfalls kein kunstvolles Augen-Make-up getragen hatte. Das hätte man auch auf den Schwarz-Weiß-Bildern erkannt.

Bedeutete das, dass sie gar nicht vorgehabt hatte, jemanden zu treffen, als sie die Wohnung verlassen hatte? Nachrichten, die einen überstürzten Aufbruch provoziert haben könnten, hatte sie jedenfalls nicht bekommen. Das hatte der Einzelverbindungsnachweis ihres Telefons bestätigt. War es denkbar, dass sie jemandem

Zoes völlig ungeschminktes Gesicht könnte allerdings auch auf etwas anderes hindeuten, einen kompletten Nervenzusammenbruch nämlich. Vielleicht hatte sie den Punkt erreicht, an dem sie ganz aufgehört hatte, sich zurechtzumachen.

Am seltsamsten bei der Rückschau auf Zoes letzten Tag fand er jedoch, dass ihre Aktivitäten ausgesprochen untypisch für sie erschienen. Alle hatten sie als geduldige, stets hilfsbereite Freundin beschrieben. Selbst als Maeve Symptome ihrer möglichen Depression geschildert hatte, war von der Missachtung der Gefühle anderer oder ihrer eigenen Erscheinung nicht die Rede gewesen. Trotzdem hatte Zoe ihrer Freundin unverblümt ins Gesicht gesagt, dass diese ein gebrochener Charakter sei, und am Abend hatte sie mit jemandem gestritten.

Er fragte sich, ob der Schlüssel zu allem womöglich der Mittwochabend war. Vielleicht hatte einer ihrer Freunde das Fass zum Überlaufen gebracht und Zoe wütend auf alle um sich herum gemacht. Vielleicht hatte dieser Bruch den fraglichen Freund ebenso hart getroffen und den Entschluss ausgelöst, sie zu töten. Oder Zoes unvermittelt rigorose Laune hatte sie am nächsten Tag dazu getrieben, etwas zu tun, was ihre Ermordung provoziert hatte.

Als er am weitesten Punkt seiner Runde sein Handy aus der Tasche zog, wartete eine neue Nachricht von Michelle auf ihn.

Tut mir leid, dass ich eben so kurz angebunden war. Hab bloß einen höllischen Kater und komme mir vor wie eine Idiotin. Im Laufe der Woche können wir gern reden. xx

Jonah seufzte, als er die Worte las. Sie klangen nach wie vor nicht besonders positiv, doch er fühlte sich weniger so, als hätte er sie gerade noch einmal verloren.

Als Jonah am Montagmorgen auf dem Weg zum Kommissariat war, erhielt er einen Anruf von einer unbekannten Nummer.

»Hi«, sagte eine Frauenstimme und zögerte. »Hier … hier ist Maeve Silver. Ich wollte Ihnen nur etwas erzählen, was mir gestern passiert ist.«

Er hörte zu, während Maeve schilderte, wie sie die Nachricht an ihrem Fahrrad gefunden hatte und von einem Unbekannten zu Boden gestoßen worden war.

»Sie haben keine Ahnung, wer es gewesen sein könnte?«, fragte Jonah. »Keine Vermutung, was Alter oder Geschlecht betrifft?«

»Nein«, antwortete Maeve elend. »Es war … Er oder sie hatte einen Trainingsanzug an. Ein Jogger. Ich glaube, er hat so getan, als wäre er ein Jogger.«

Jonah dachte an die Gestalt mit der Kappe auf den Kamerabildern. Durchaus möglich, dass es dieselbe Person gewesen war, die Maeve umgestoßen hatte. Aber vielleicht hatte die Nachricht an sie auch nichts damit zu tun, und sie war nur von einem schlechtgelaunten Freizeitsportler angerempelt worden.

Immer vorausgesetzt, dass der Zwischenfall tatsächlich passiert war.

»Haben Sie die Nachricht noch?«

»Ja«, sagte Maeve. »Sie ist noch feucht, aber …«

»Können Sie sie ins Kommissariat bringen?«, fragte Jonah. »Wir nehmen eine offizielle Aussage zu Protokoll, wenn Sie nichts dagegen haben. Ich bin ohnehin zuversichtlich, dass wir Zoes Mörder bald

»Gut«, sagte Maeve. »Das ist eine Erleichterung.«

Er legte auf und fragte sich, ob sie das wirklich ernst meinte.

Sein Optimismus erhielt einen Dämpfer, als er seine E-Mails öffnete. Immer noch keine Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchung, dafür eine Nachricht von Wilkinson. Der DCS hatte die Anforderung der Kameraaufnahmen weitergeleitet, bat jedoch gleichzeitig für den nächsten Tag um einen Zwischenbericht über die Fortschritte in dem Erpressungsfall. Er erinnerte Jonah sanft an seine Zusage, die Hälfte seiner Leute darauf anzusetzen. Sie dürften diesen prominenten Fall nicht schleifen lassen, fuhr Wilkinson fort, so wichtig die Mordermittlung auch sein mochte.

Jonah rief O’Malley an und bat ihn, so bald wie möglich ins Büro zu kommen.

»Ich möchte, dass Sie heute ausschließlich an dem Erpressungsfall arbeiten«, erklärte er ihm.

O’Malley willigte ohne Widerspruch ein. Als er eine Viertelstunde später nur leicht zerzaust eintraf, vergrub er sich sofort in den Akten.

Zehn Minuten später rief Linda McCullough an.

»Die Ergebnisse des Fingerabdruckabgleichs liegen jetzt vor«, sagte sie. »Wollen Sie eine Zusammenfassung?«

»Bitte«, sagte er, rief seine E-Mails ab und entdeckte eine Nachricht von ihr.

»Die erste männliche Person, deren Abdrücke wir auf den Gläsern, an der Tür und an dem Lichtschalter gefunden haben, ist Victor Varos.«

Victor könnte also an dem Abend dort gewesen sein, dachte Jonah mit Genugtuung, und sich entweder mit Zoe gestritten oder sie umgebracht haben, möglicherweise auch beides.

»Frische Abdrücke Ihrer Ansicht nach, oder?«, fragte er.

»Ja, kaum überlagert«, bestätigte sie. »Die zweite männliche

»Okay. Das war zu erwarten.«

»Männliche Person Nummer drei, deren Fingerabdruck wir nur am Schloss der Badezimmertür gefunden haben, ist Aidan Poole. Der Freund, soweit ich weiß.«

Jonah hielt die Luft an. »Aidan Poole?«

»Ja.«

»Daran besteht kein Zweifel?«

»Nicht der geringste«, sagte McCullough. »Die Abdrücke sind deutlich und frisch.«

Jonah bedankte sich und versicherte ihr, dass er den Rest später lesen würde. Als er auflegte, war er außer sich vor Wut. Empört darüber, dass Aidan im Vernehmungszimmer gesessen, dreist gelogen und behauptet hatte, er wisse nicht, wo Zoe wohnte. Er hatte von Anfang an alles getan, um den Eindruck zu erwecken, er kenne ihre Adresse gar nicht.

Jonah seufzte angewidert, öffnete die Tür und rief Lightman und Hanson.

»Machen Sie sich fertig. Wir fahren gleich los, um Aidan Poole zu verhaften.«