21. November 16:45 Uhr – sechs Stunden vorher

Zoe war stundenlang herumgelaufen, manchmal überwältigt von Selbstverachtung, manchmal so wütend auf jede einzelne Person in ihrem Leben, dass es sich anfühlte, als würde in ihrem Kopf ein Inferno toben, dessen schreckliche lodernde Flammen gegen die Menschen um sie herum auszuschlagen drohten.

Sie war deren Scheiße einfach so leid. Und ihre eigene auch. Sie hatte sich wirklich angestrengt zu glauben, Anteil zu nehmen am Glück anderer Menschen könne genug sein, aber es war, als ob gestern Abend irgendein Schalter in ihr umgelegt worden wäre. Sie hatte begriffen, dass ihr ganzes Denken auf einem Hirngespinst beruht hatte.

Sie hatte endlich verstanden, dass das Glück anderer Menschen nichts bedeutete. Überhaupt nichts. Vielleicht lag es daran, dass keiner von ihnen glücklicher zu werden schien. Es war egal, wie oft sie sie wiederaufbaute. Es spielte keine Rolle, wie viele Male sie mit ihnen geduldig die Ursachen ihres Unglücks erörterte. Keiner von ihnen änderte je etwas. Nicht Maeve. Nicht Victor. Nicht Felix. Und ihr Vater auch nicht.

Die Einzige, die sich veränderte, war sie selbst. Sie versank mit ihnen, sie ging in dem ganzem Mist unter.

Und vielleicht lag es auch daran, dass das Glück der anderen einen zerreißen konnte. Es konnte sich durch einen hindurchschneiden, dass man aufheulen wollte.

Es war Greta Pooles Glück, das Zoe schließlich gebrochen hatte. Sie hatte sich so lange eingeredet, dass Aidans Frau ihn ruhig haben

Aber dann hatte sie sie gestern Abend gesehen. Sie hatte ihre Freunde zurückgelassen, um ihrem Vater zu helfen, und in einem Restaurant nur zwei Türen weiter zufällig Greta und Aidan erblickt, beleuchtet an einem Fenstertisch. Sie hatten strahlend und schön zusammen ausgesehen. Zoe musste sich über den Rinnstein beugen und ihren Magen entleeren wie ein jämmerlicher Betrunkener.

Als sie sich wieder aufgerichtet hatte, hatte sie sich eigenartig leicht gefühlt. Sie hatte sich vorgestellt, dass irgendeine schreckliche Last plötzlich von ihr abgefallen war und sie ohne Anker und Orientierung zurückgelassen hatte.

Weil sie nicht wusste, wohin sie sonst gehen sollte, war sie ihrem Vater zur Hilfe geeilt. Es fühlte sich an wie eine Gewohnheit, mehr nicht. Dieselbe Gewohnheit hatte sie gesteuert, als sie sich um ihn kümmerte, während sie gleichzeitig wusste, dass es hohl und falsch war. Während sie ihn gleichzeitig gehasst hatte.

Die Gewohnheit hatte sie bis zum Bahnhof und zum Bahnsteig geführt, und dann hatte sie sie verlassen und war einer unkontrollierbaren Wut gewichen. Als ihr Vater in den Zug steigen wollte, hatte sie ihn so heftig gestoßen, dass er sich vor dem Sturz an einem der vertikalen Geländer der Zugtür den Kopf gestoßen hatte. Sie hoffte voller Gemeinheit, dass man es am nächsten Morgen noch sehen könnte, damit alle seine Kollegen ihn als Trunkenbold erkennen würden.

Sie hatte keine Scham empfunden, als er stöhnend auf dem Boden gelegen hatte. Nichts von dem Entsetzen, was angemessen gewesen wäre. Nur eine seltsame Freiheit. Sie hatte ihm lächelnd aufgeholfen und Besorgnis geheuchelt, ihm erklärt, dass er gestolpert sei und sie versucht habe, ihn aufzufangen.

Er hatte ihr am Morgen eine Nachricht geschickt, um sich zu entschuldigen. Sie hatte nur Verachtung gespürt. Und nicht geantwortet. Heute nicht. Heute war es ihr egal. Die Gefühle von ihrem Vater oder von Angeline kümmerten sie nicht mehr. Es war beinahe eine

Sie hatte die Wohnung pünktlich verlassen, das Gesicht wunderbar nackt und ohne Make-up, doch dann war sie nicht zur Uni, sondern genau in die entgegengesetzte Richtung losgelaufen und hatte sich selbst und alle anderen Menschen gehasst. Erst nach sehr langer Zeit hatte sich eine dumpfe Leere eingestellt, die beinahe erträglich war.

Knapp einen Kilometer von zu Hause entfernt hatte ihr Telefon geklingelt. Es war ganz unten in ihre Tasche gerutscht, sodass sie es nicht sofort zu fassen bekam. Gott, wie sie diesen fröhlichen Klingelton hasste. Warum zum Teufel hatte sie ihn ausgewählt? Die reinste Folter.

»Halt’s Maul!«, brüllte sie das Telefon an und wühlte hektisch in ihrer Tasche, um den Anruf wegzudrücken. »Halt’s Maul, halt’s Maul, halt’s Maul!«

Für einen seligen Moment verstummte das Handy tatsächlich und klingelte dann sofort wieder los. Dieses egoistische Arschloch gab nicht so leicht auf.

Schließlich stießen ihre Finger auf das Handy. Sie zerrte es aus der Tasche, las Felix’ Namen und überlegte, den Anruf erneut wegzudrücken. Aber sie war so wütend, dass es nicht reichte, ihn einfach nur zum Schweigen zu bringen.

Sie nahm das Gespräch an und hörte ihn hektisch und gestresst atmen. Das hatte sonst immer ihr Mitgefühl geweckt. Und sie hatte ihn immer beruhigt. Immer. Aber heute berührte es sie überhaupt nicht. Es war nur die grässliche Last einer Verantwortung, die sie nicht wollte.

»Ich kann jetzt nicht reden«, sagte sie. »Tut mir leid. Es geht mir nicht gut.«

Sie beendete das Gespräch. Drei Sekunden später klingelte ihr Handy wieder. Sie nahm den Anruf an und hatte das Gefühl, ein Gewicht würde sich auf ihre Schultern legen. Auf ihre Brust. Auf ihren Kopf. Es war unerträglich.

»Du musst jemand anderen finden«, sagte Zoe. »Es tut mir leid, Felix. Ich kann jetzt nicht. Ruf jemand anderen an.«

Sie beendete das Gespräch erneut, doch das Telefon klingelte wieder, und sie spürte, wie sie von einer hilflosen Wut übermannt wurde. Sie meldete sich mit einem bösartigen »Was?«.

»Kannst du nicht vorbeikommen? Nur für eine Minute?«, bat Felix.

»Interessierst du dich eigentlich für niemanden außer dich selbst?«, fragte sie.

»Doch, natürlich.« Er schien überrascht. Erschrocken. Und das klang gut.

»Warum hörst du mir dann nicht zu?«

»Weil ich … weil es mir nicht gut geht. Ich brauche … ich brauche Hilfe.«

»Wann brauchst du je etwas anderes?«, fragte Zoe laut. »Aber dir selbst helfen willst du nicht, oder? Du sagst, es liegt am National Health Service oder an der Polizei. Aber du hörst verdammt noch mal nicht zu! Du suchst dir keinen Therapeuten, du nimmst deine verdammten Medikamente nicht, und irgendwie sind immer alle anderen schuld. Ich bin dann diejenige, die mit deiner Scheiße klarkommen muss, oder nicht? Immer ich.«

»Wie kannst du das sagen?«, erwiderte er halb schluchzend, halb wütend. Er hyperventilierte. »Ich bin nicht mit Absicht so!«

»Doch, bist du«, sagte sie. »Sonst würdest du versuchen, wirklich etwas zu ändern. Ich werde mein Glück nicht mehr wegschmeißen, nur weil du dich weigerst, auch nur einen verdammten Finger zu rühren. Das mache ich nicht mehr mit, Felix.«

Sie beendete das Gespräch und schaltete ihr Handy aus. Sie zitterte am ganzen Körper vor Wut und freudiger Erregung. Es fühlte sich genauso gut an wie heute Morgen, als sie Angeline erklärt hatte, dass sie ein gebrochener Mensch war. Verzichtbar.

Sie spürte den Drang, noch jemanden anzurufen, auf den sie

Als sie in ihre Wohnung zurückkehrte, war ihr Gesicht so verkniffen, dass sie Kopfschmerzen bekam. Sie konnte nicht still sitzen. Musste in Bewegung bleiben.

Sie sah, dass Monkfishs Fress- und Wassernapf leer waren, was sie wütend und widerwillig gegen eine weitere Form der Fürsorge machte. Aber als sie die Näpfe wieder auf den Boden stellte und ihn rief, kam Monkfish nicht einmal heraus. Vielleicht spürte er ihre Stimmung und war klug genug, Abstand zu halten. Er war eine verdammte Katze. Die waren nie da, wenn man Trost brauchte. Interessierten sich nur für sich selbst.

Ich hasse sie, dachte sie. Ich hasse sie alle. Warum können sie mich nicht einfach in Ruhe lassen?

Minute um Minute tat sie nichts, als alle und alles zu hassen, bis ein anderes Gefühl einsickerte. Bedauern. Entsetzen. Irgendwas.

O Gott. Was machte sie da? Was machte sie bloß?

Ihr rationaleres, gütigeres Ich sagte ihr, dass ihre Freunde auch gut zu ihr waren, wenn sie konnten. Dass ihnen genauso viel an ihr lag wie umgekehrt. Warum glaubte sie das nicht mehr? Warum spürte sie nichts außer dieser glühend roten Wut?

Sie ging zu dem Fenster am Schreibtisch und stieß es auf. Am Tag ihres Einzugs hatte sie die Arretierung abgeschraubt, sodass das Fenster sich weit auf die Straße öffnete und die kalte Novemberluft ungehindert hereinließ. Sie beugte sich weiter als nötig hinaus, doch sie wollte die frische Luft an ihrem ganzen Körper und in ihren Lungen spüren, um die Hitze abzukühlen. Sonst würde sie womöglich vor Wut verbrennen.

Sie sah sich selbst als Gemälde vor sich, ihre Gestalt von Flammen umlodert. In der Ölfarbenvariante war um sie herum nichts als Staub. Die gesammelten schwebenden Partikel der Menschen, die einmal um sie gekreist waren.

»Nein, nicht mehr lange«, sagte sie. »Ich muss nur noch eine Kette finden, dann mache ich mich auf den Heimweg … Ja.« Ein leises Lachen. »Es ist auf jeden Fall offenherzig. Ich zeig es dir. Tschüss.«

Zoe beugte sich noch ein Stück weiter hinaus, bis sie die Tür und die Frau sehen konnte, die gerade die Straße überquerte.

Als Zoe sie erkannte, wäre sie um ein Haar vor Schock aus dem Fenster gefallen. Was machte sie hier? Sie hatte hier nichts zu suchen. Dies war Zoes Zuhause. Sie hatte ihr schon alles genommen. Wollte sie ihr auch noch ihren Frieden rauben?

Ohne nachzudenken, setzte Zoe sich in Bewegung. Sie konnte sich kaum erinnern, auf dem Weg hinaus den Schlüssel abgezogen zu haben. Sie konnte nur an das Profil und die lächelnden Lippen dieser Frau denken. An die Fröhlichkeit in ihrer Stimme.

Als Zoe aus dem Haus kam, war die Frau noch in Sichtweite, und Zoe fragte sich keine Sekunde lang, was sie da eigentlich tat. Sie würde sie zur Strecke bringen. Sie würde ihr wehtun, und es würde der dummen Schlampe recht geschehen.