Aidan wachte vollständig bekleidet in einem Zimmer auf, das er nicht sofort erkannte. Das Premier Inn. Hierher war er gegangen, direkt nachdem die Polizei ihn hatte laufenlassen. Er konnte sich nicht daran erinnern, sich hingelegt zu haben.

Als er sich aufrichtete, hatte er das Gefühl, aus einem Traum zu erwachen, der Tage gedauert hatte. Einem Traum, in dem er nur an seinen eigenen Schmerz und Verlust denken musste. Warum hatte er nicht an Zoes Mörder gedacht? Warum war die Tatsache, dass sie ermordet worden war, nicht das Wichtigste gewesen?

Er warf einen Blick zurück auf alles, was er seit Donnerstag getan hatte, und erkannte sich in seinen Handlungen selbst nicht wieder. Vermutlich war es ein Effekt seiner Trauer gewesen, aber auch dumm. Wenn die Polizei nicht so scharfsinnig gewesen wäre, hätte man ihn längst wegen Mordes angeklagt.

Nun, es wurde Zeit aufzuwachen. Nicht nur aufzuwachen, sondern zu handeln. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für Zoe.

Der Anruf, den Lightman zu gleichen Teilen erwartet und befürchtet hatte, kam, als er gerade auf den Parkplatz der Polizeistation fuhr. Er atmete aus und nahm ihn an.

»Hi, Mum«, sagte er. »Wie geht’s?«

»Oh, Ben«, sagte sie, und er musste gar nicht weiter fragen.

»Es ist okay, Mum«, sagte er. »Es ist okay.«

Er hörte sie fast lautlos weinen und fragte sich, was er überhaupt sagen konnte, um sie zu trösten.

Jonah blickte zu ihm auf, versunken in Gedanken über Maeve Silvers Lüge, am Donnerstagabend zu Hause gewesen zu sein, und über Felix Solomons Schlüssel. Er nickte langsam.

»Nur auf dem Weg in die Stadt? Können Sie sie weiterverfolgen?«, fragte Jonah.

»Wahrscheinlich«, erwiderte O’Malley. »Aber interessant ist, dass die Frau mit der Brille immer noch vor ihr geht.«

Jonah runzelte die Stirn und hievte sich aus seinem Stuhl, um sich die Bilder anzusehen. O’Malley lud das Video hoch und spielte es ab. Man sah die unbekannte Frau von der Seite, die diesmal in Richtung Stadt marschierte. Ihre stachelige Frisur, die schmuddelige Jacke, die Jeans und die Stiefel waren leicht wiederzuerkennen. Es war definitiv dieselbe Frau, wie O’Malley gesagt hatte. Und dicht hinter ihr folgte Zoe, offenbar immer noch in Eile.

»Was meinen Sie?«, fragte O’Malley. »Für mich sieht das aus wie eine Verfolgung.«

»Ja, stimmt.« Jonah nickte. »Aber warum? Warum sollte sie die unbekannte Frau verfolgt haben? Vielleicht ist es eine Kommilitonin von der Kunsthochschule. Eins von Zoes Werken wurde mutwillig beschädigt. Aber das ist ziemlich weithergeholt.«

»Ich suche weiter«, sagte O’Malley. »Nachdem wir sie nun ein Stück weiter stadteinwärts entdeckt haben, sollte es mit den Kameras in der City leichter werden, ihren Weg zu verfolgen.«

»Danke«, sagte Jonah und seufzte kurz. »Sie haben nicht zufällig Maeve Silver irgendwann irgendwo gesehen? Auf einem Fahrrad vielleicht?«

»Noch nicht«, sagte O’Malley. »Wieso?«

»Victor hat mir erzählt, dass er sie noch spät angerufen hat, also deutlich nach elf, und sie auf dem Fahrrad unterwegs war.« Er

»Sollen wir Sie vorladen?«, fragte O’Malley.

»Ja«, antwortete Jonah und nickte langsam. »Aber machen Sie es beiläufig. Sagen Sie, Lightman habe noch etwas zu fragen vergessen.«

Als er wieder an seinem Schreibtisch saß, ging eine E-Mail ein. Annette Lock hatte Wort gehalten und ein Foto von Zoes verschwundenem Gemälde geschickt.

Er lud es hoch und betrachtete die blasse, fragile, von einem Schatten umhüllte Gestalt mit dem wie vor Schmerz oder in Ekstase gewölbten Rücken. Die schattenhafte Figur, die sich um sie wand. Aber der eigentliche Bildmittelpunkt war die Gestalt im Hintergrund, die den Kopf in den Nacken gelegt gen Himmel starrte. Ihre Augen fehlten oder waren … irgendwie versiegelt. Ein greller roter Streifen in ihrem Unterleib durchschnitt die aufgewühlten Blau-, Grau- und Weißtöne der übrigen Figur, und es war schwer, den Blick von diesem klaffenden Schnitt zu wenden.

»O’Malley«, rief er. »Wie gut kennen Sie sich mit Kunst aus?«

»So gut wie gar nicht«, rief sein Sergeant zurück. »Aber ich bin bereit, eine Meinung zu riskieren. Maeve Silver geht nicht ans Telefon«, fügte er hinzu.

Der Sergeant kam in Jonahs Büro und trat hinter ihn. Gemeinsam betrachteten sie das Bild. O’Malley atmete vernehmlich aus und sagte: »Es ist gut, oder?«

Wieder klopfte es. Hanson stand mit rosigen Wangen und leuchtenden Augen in der Tür. »Ich habe nützliche Informationen über Maeve Silver, Sir.«

»Was denn?«, fragte Jonah, ohne aufzublicken. Er konnte ihr nicht die gewohnte Aufmerksamkeit widmen, denn das Gemälde sprach irgendwie zu ihm.

»Sie hat den ehemaligen Pastor der Gemeinde belästigt«, sagte Hanson in der Tür. »Sie hat ihn und seine Familie gestalkt, sodass er in eine andere Stadt ziehen musste.«

»Vor acht Monaten«, antwortete Hanson.

»Das heißt, sie könnte ihre Aufmerksamkeit auf Aidan Poole umgelenkt haben«, sagte er.

»Das dachte ich auch.«

Sein Blick wurde wieder von dem Bild angezogen.

»Was gucken Sie sich da an?«, fragte Hanson.

»Entschuldigen Sie. Es ist Zoes vermisstes Gemälde«, sagte er. »Wir haben ein Foto. Was halten Sie davon?«

Er drehte den Bildschirm in ihre Richtung und beobachtete ihre Reaktion.

»Oh«, sagte sie. »Also, ich finde es ziemlich eindeutig.«

Jonah sah sie verwirrt an. »Inwiefern eindeutig?«

»Was den Grund für den Diebstahl betrifft. Wahrscheinlich jedenfalls.« Hanson drehte den Bildschirm zurück zu ihm und O’Malley. »Sie fanden es seltsam, dass jemand etwas von einem Menschen stiehlt, den er hasst, und ich habe erwidert, vielleicht würde es etwas über den Mörder verraten. Aber eigentlich ist dieses Bild eine Rechtfertigung für den Mord.«

Jonah blickte wieder auf das Gemälde. »Das müssen Sie mir erklären«, sagte er.

»Die beiden Gestalten im Vordergrund sind Zoe und Aidan«, sagte Hanson.

»Aber das ist Angeline Judd«, widersprach O’Malley.

»Ja, Angeline ist das Modell«, erklärte Hanson, »aber im Grunde ist es ein Selbstporträt. Sie malt die gebrochen aussehende Angeline, um sich selbst darzustellen.« Sie grinste, als sie O’Malleys skeptische Miene sah. »Schauen Sie. Annette Lock hat gesagt, Zoe hätte erst angefangen, eine zweite Figur hinzuzufügen, seit sie mit Aidan zusammen war, richtig? Davor war die zentrale Gestalt immer allein.«

»Zoe und Aidan sind also in ihrem Liebesakt miteinander verwoben«, sagte Jonah, »und nun gibt es eine dritte Figur, die durch Zoe und Aidan verletzt wird.«

»Okay …«, sagte Jonah, betrachtete erneut das Gesicht mit den geblendeten Augen und die grelle blutige Wunde.

»Deshalb glaube ich, dass das Bild als Beweis dafür gestohlen wurde, dass Zoe genau wusste, was sie mit Aidan Poole tat.« Hansons Blick war durchdringend, als sie Jonah wieder ansah. »Sie wusste, dass sie jemanden verletzt hatte, deshalb war ihre Ermordung gerechtfertigt. So würde ich es jedenfalls deuten. Und wenn Sie mich fragen, war es mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit eine Frau, die es getan hat, weil die Figur auf dem Gemälde weiblich ist.«

Jonahs Blick wanderte wieder zu der geblendeten Frau, und er erkannte allmählich, was Hanson meinte.

Lightman ließ sein Handy sinken und atmete lange aus. Dann sah er, dass er eine Nachricht hatte. Sie musste eingegangen sein, als er telefoniert hatte.

Können Sie zu mir nach Hause kommen? Es gibt einige Dinge, über die ich wirklich sprechen muss.

Er blickte stirnrunzelnd auf das Display und fragte den Absender, wer er sei. Und dann ging es ihm auf, noch bevor die Antwort kam. Er seufzte. Vermutlich war das eine der Kehrseiten seines aufgeschlossenen Wesens.

»Entschuldigen Sie«, sagte er zu dem Taxifahrer. »Können Sie mich zu einer anderen Adresse bringen?«

Jonah war sich bewusst, dass O’Malley darauf wartete, dass er etwas sagte, aber er konnte jetzt keine Gedanken aufs Reden verschwenden. Mit einem Mal begann vieles, einen Sinn zu ergeben.

Natürlich war es eine Frau. Es war eine Frau, die sich einen

Juliette ertappte sich dabei, wie sie die Unterhaltung mit Luke Searle im Kopf immer wieder durchging, nur gelegentlich unterbrochen von Gedanken an Victor Varos’ Aussage. Die Tatsache, dass Victor und der Gemeindevorsteher Maeve in den gleichen Worten beschrieben hatten, beunruhigte sie. Die Tatsache, dass Maeve so offensichtlich gewollt hatte, dass Aidan Poole nicht aus ihrem Leben verschwand, beunruhigte sie noch mehr, und die Tatsache, dass Maeve wahrscheinlich falsche Angaben darüber gemacht hatte, wo sie am Donnerstagabend gewesen war, machte alles noch schlimmer.

Dem Anschein nach schien Maeve nie ein starkes Motiv gehabt zu haben, Zoe zu ermorden. Aber was, wenn das gar nicht stimmte? Was, wenn sie sich mit Aidan getroffen und geglaubt hatte, er würde sich in sie verlieben, nachdem er nicht mehr mit Zoe zusammen war? Was, wenn er sie abgewiesen hatte?

Sie mussten mit Aidan Poole sprechen. Sofort.

Sie war schon aufgesprungen, als sie sah, wie Felix Solomon mit einem entschlossenen Funkeln in den Augen das CID betrat. Der uniformierte Constable, der ihn begleitete, klopfte an die Tür des DCI, und Juliette setzte sich seufzend wieder an ihren Schreibtisch.

Sie brauchte ein paar Minuten, bis es ihr gelang, die Gedanken an Maeve beiseitezuschieben und sich zu fragen, warum Felix hier aufgetaucht war.

Jonahs Handy klingelte, als er gerade aufstehen wollte, und er lächelte knapp, als er Angeline Judds Namen auf dem Display las. Seine Gedanken eilten dem, was sie sagen wollte, schon weit voraus, doch er nahm den Anruf trotzdem an.

»Ihre Kollegin hat sich auf einen Kaffee mit Luke Searle getroffen«, sagte sie mit vollkommen klarer Stimme und ohne die übliche Zerstreutheit. »Ich möchte wissen, warum.«

»Ich fürchte, ich kann Ihnen keine Informationen zu den laufenden Ermittlungen geben«, entgegnete Jonah.

Es klopfte. Er drehte sich um und sah einen uniformierten Kollegen mit Felix Solomon vor seiner Tür stehen. Er hob einen Finger, um zu signalisieren, dass es nicht lange dauern würde.

»Stellen Sie sich nicht dumm«, sagte Angeline. »Ich frage nicht nach Informationen über den Fall. Ich will wissen, was für einen Mist Luke über Maeve verbreitet hat.«

»Noch einmal …«

»Er ist eine Schlange«, unterbrach sie ihn. »Was hat er gesagt? Dass Maeve eine Stalkerin ist oder irgendetwas in der Richtung? Das ist Bullshit.«

Jonah grunzte unverbindlich. Zum einen weil er sie gerne weiterreden lassen wollte, zum anderen weil er schon überlegte, was er Felix Solomon fragen wollte.

»Sie hat Isaac nie gestalkt. Er hat sie verführt«, sagte Angeline. »Er hat sie ein ganzes verdammtes Jahr lang hingehalten und ist immer wieder auf sie zugekommen. Ich habe sie zusammen gesehen, ich habe seine Nachrichten gelesen. Als dann alles rausgekommen ist, hat er gelogen, und Luke Searle, der sexistische Wichser, hat sich auf seine Seite geschlagen.«

Obwohl er mit dem Kopf nur halb bei der Sache war, staunte Jonah, wie Angeline für ihre Freundin einstand. Alles, was er bisher von ihr gesehen hatte, wies auf einen schwachen und manipulativen Menschen hin. Dass sie einer Freundin in der Klemme loyal zur Seite sprang, war sowohl überraschend als auch ein wenig herzerwärmend.

»Können Sie das auch beweisen?«

Angeline lachte. »Ja, das kann ich. Wenn Sie einen kleinen Beleg wollen: Warum hat Isaac Maeve am Donnerstag eingeladen, eine

»Davon wussten wir nichts«, sagte Jonah und nahm ein Blatt. Nicht um sich Notizen zu machen, sondern um eine Liste von Namen aufzuschreiben. »Maeve hat gesagt, sie wäre nach Hause gefahren.«

»Wahrscheinlich dachte sie, die zeitlichen Abläufe seien nicht so wichtig, und eigentlich wollte sie auch nicht darüber sprechen«, sagte Angeline. »Er hat ihr am Dienstag erklärt, dass er seine Frau für sie verlassen hätte. Und am Donnerstag hat sie endlich nachgegeben und mit ihm geschlafen, weil sie dachte, es sei wahre Liebe. Und raten Sie mal, was dann passiert ist? Nachdem er bekommen hatte, was er wollte, hat er sich zurück nach Cardiff verpisst und sich seitdem nicht mehr gemeldet. Er hat ihr das Herz gebrochen, und jetzt versucht Luke, ihre Position in der Gemeinde zu untergraben, während er eigentlich diesen Typen aus der Kirche werfen lassen sollte.«

»Das ist alles sehr hilfreich.«

»Sie glauben mir nicht, oder?«, fragte Angeline verbittert. »Sie glauben, sie hat Zoe getötet.«

»Nein«, entgegnete Jonah leise. »Das glaube ich nicht. Ich weiß, dass sie sie nicht getötet hat.«

Daraufhin herrschte lange Schweigen, bevor Angeline hastig sagte: »Ich muss jetzt Schluss machen. Ich … Tschüss.«

Und dann hatte sie aufgelegt.

Jonah legte sein Handy zurück auf den Schreibtisch und stand mit einem Gefühl wachsender Dringlichkeit auf. Er bat den uniformierten Beamten und Felix herein.

»Sie hätten zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können«, sagte Jonah, als Felix auf einem Stuhl Platz nahm. Er winkte Hanson heran und gab ihr den Zettel, den er geschrieben hatte.

»Können Sie für mich Fotos von all diesen Leuten ausdrucken?«

Allerdings, dachte sie und blickte mit einem Stirnrunzeln auf die Fotos, die die Maschine ausspuckte, nicht alle.

Jonah erkannte, dass Felix wieder das Gefühl hatte, alles unter Kontrolle zu haben. Nichts erinnerte mehr an den Schatten eines Mannes, der er am Vortag gewesen war. Er nahm das Angebot eines Kaffees an und lehnte sich entspannt auf dem Stuhl gegenüber von Jonah zurück. Jonah war sich ziemlich sicher, dass Felix am liebsten auf seinem Platz auf der anderen Seite des Schreibtischs gesessen hätte.

Während sie darauf warteten, dass Hanson die Fotos brachte, sagte Jonah: »Können Sie uns noch einmal schildern, was am Donnerstagnachmittag passiert ist?«

»Am Nachmittag?«, fragte Felix und zog eine Braue hoch.

»Ja«, sagte Jonah. »Als Sie Ihre Freundin Esther zum Tee getroffen haben.«

Felix runzelte die Stirn. Diese Frage hatte er offensichtlich weder erwartet noch gewünscht. »Nun, das habe ich doch schon gesagt. Sie ist um vier gekommen.«

»War das verabredet?«, fragte Jonah. »Oder spontan?«

»Spontan«, sagte Felix. »Kein vorher arrangiertes Alibi …«

»Sie haben Sie zufällig getroffen?«

Felix blickte zu O’Malley und zurück zu Jonah. »Ja«, antwortete er. »Sie hatte nach Ihrer Wohnung gesehen. Ich bin ihr im Treppenhaus begegnet und habe sie auf eine Tasse Tee eingeladen.«

»Welche Wohnung gehört ihr genau?«, fragte Jonah.

»Ich weiß nicht«, sagte Felix achselzuckend. »Ich habe sie nie gefragt.«

»Und sie hat es auch nie von sich aus erzählt?«

»Nein.«

»Kam sie aus dem zweiten Stock?«

»Sie helfen uns«, erwiderte Jonah, stand auf und öffnete Hanson die Tür, die ihm einen Packen Fotos hineinreichte. Er bedankte sich mit einem Lächeln und kehrte an den Schreibtisch zurück. »Ist Esther eine dieser Frauen?«

Jonah legte die Fotos auf den Tisch, und Felix griff sofort nach einem von ihnen. »Das ist sie«, sagte er. »Sie hat eine andere Frisur und trägt normalerweise eine Brille, aber das ist sie.«

Jonah schenkte ihm ein knappes Lächeln, das nichts von seiner Genugtuung verriet.

»Können Sie mir jetzt verraten, warum Sie mir all diese Fragen stellen?«, verlangte Felix.

»Weil Esther nicht die ist, für die Sie sie halten«, erwiderte Jonah. »Die Frau, die Sie identifiziert haben, ist Greta Poole.«