»Darf ich Sie noch einen Moment lang unter vier Augen sprechen, Mike? Ich habe eine dringende Bitte an Sie.«
Gabriel warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Wenn es schnell geht, Thomas. Ich muss noch nach Canterbury und Herne Bay.«
»Ich beeile mich, Mike«, beteuerte Thomas. Dann ging er seinem Chef voran in sein Büro. Dort rang er die Hände. »Es geht um meine Frau. Sie haben sie ja bei der diesjährigen Feier kennengelernt. Und dabei sicherlich den richtigen Eindruck von ihr gewonnen.«
Gabriel runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«
»Nun, ich liebe Samantha über alles. Aber sie hat in ihrer Kindheit nie gelernt, wirklich selbstständig zu sein. Und nun ist ihr schon wieder ein Missgeschick passiert.«
Gabriel spürte, dass sich sein Pulsschlag beschleunigte. Das darf doch nicht wahr sein, schoss es ihm durch den Kopf.
»Sammy ist am Sonntag von der Leiter gefallen und hat sich dabei schwer am Kopf verletzt«, fuhr Harris fort. »Neben einer Platzwunde hat sie eine schwere Gehirnerschütterung davongetragen. Außerdem hat sie sich die rechte Hand verstaucht. Im Augenblick liegt sie in Canterbury im Krankenhaus.«
Gabriel wurde es heiß und kalt. Doch er bemühte sich darum, äußerlich gelassen zu bleiben. »Soso. Diesmal ist sie von der Leiter gefallen«, wiederholte er, ohne seinen Sarkasmus ganz verbergen zu können.
Thomas wurde sichtlich nervös. »Daher habe ich eine riesige Bitte«, fuhr Harris hastig fort. »Eigentlich müsste Sammy noch bis nächsten Sonntag im Krankenhaus bleiben. Ich habe ihr zwar selbstverständlich ein Einzelzimmer besorgt, aber Sie wissen ja, wie furchtbar es in Krankenhäusern zugeht. Deshalb würde ich sie gerne vorzeitig nach Hause holen, müsste sie dort allerdings mindestens bis zum Ende der Woche pflegen.«
Gabriel steckte die Hände in die Taschen seines Jacketts und ballte sie dort zu Fäusten. Wenn Harris schuld an den Verletzungen seiner Ehefrau war, musste er sie sehr heftig geschlagen haben. Da ihm zunächst keine Erwiderung auf Thomas’ Schilderung einfiel, schwieg er.
»Und daher …« Jetzt verlor Harris sogar einen Moment lang den Faden. »Ich würde gern die nächsten Tage unbezahlten Urlaub nehmen«, setzte er noch einmal an. »Um Sammy rund um die Uhr betreuen zu können. Mein reguläres Urlaubskontingent ist ja leider bereits verbraucht.«
Jetzt endlich fand Gabriel wieder Worte. Er holte tief Luft. »Wissen Sie, was mir seltsam vorkommt, Thomas?« Er machte eine kleine Pause.
Harris’ Blick begann zu flackern.
»Ihrer Frau stoßen für meinen Geschmack zu viele Unfälle zu, bei denen sie sich immer wieder so schwer verletzt, dass sie in einer Klinik behandelt werden muss.« Er tat so, als würde er überlegen. Dabei hatte er alle Fakten parat. »Zuletzt erst vor ungefähr sechs Monaten. Und auch schon vorher mindestens einmal in jedem Jahr, in dem ich Sie kenne, Thomas. Manchmal sogar öfter.«
Zu Gabriels Genugtuung wurde Harris käsebleich. »Ja, da haben Sie recht. Meine Frau ist ein echter Unglücksrabe.«
Am liebsten hätte Gabriel jetzt erwidert: Das nehme ich Ihnen nicht ab. Also spielen Sie mir jetzt nicht den treusorgenden Ehemann vor! Doch er verkniff sich die Bemerkung und sagte stattdessen: »Urlaub kann ich Ihnen diesmal nicht gewähren. Ich glaube, Ihre Frau sollte sich im Krankenhaus auskurieren, wenn ihr die Ärzte das empfehlen.« Dann sah er erneut demonstrativ auf seine Armbanduhr. »Aber ich gebe Ihnen einen guten Rat, Thomas. Sorgen Sie dafür, dass Ihre Frau nicht weiterhin verunglückt. Sonst werden Sie die Konsequenzen dafür tragen müssen.« Mit diesen Worten ging er hinaus.
Als sich die Tür ihres Zimmers noch einmal öffnete, sah Sammy überrascht von ihrer Zeitschrift auf. Denn die offizielle Besuchszeit war längst vorüber. Zu ihrem Schrecken trat Tommy ein.
»Guten Abend, mein geliebter Schatz.« Mit einem breiten Lächeln trat er auf ihr Bett zu. In der rechten Hand trug er eine große Tasche. »Du hast mir so unendlich gefehlt!« Er küsste sie auf den Mund, ehe Sammy zurückweichen konnte.
»Ich dachte … Ich dachte …«, stammelte sie. »Du hast doch heute noch Besuchsverbot. Ich habe dich frühestens morgen Abend erwartet.«
Tommys Lächeln wurde etwas starrer. Er legte verschwörerisch einen Zeigefinger auf die Lippen. »Verrate mich ja nicht, mein Schatz! Ich sagte doch schon, ich hatte solche Sehnsucht nach dir. Deshalb habe ich mich hier regelrecht eingeschlichen.« Dann sah er sich suchend um. »Sind meine Rosen denn schon verwelkt?«
Sammy zuckte zusammen. Bei ihrem gestrigen Besuch hatten Mabel und Lily sie so lange bearbeitet, bis sie zugestimmt hatte, die Blumen in den Müll zu werfen. Hätte ich das nur nicht getan. Tommy wird sicher wieder wütend werden. Jetzt bereute sie, den beiden nachgegeben zu haben. »Nein«, log sie. »Die Rosen waren wunderschön, aber verströmten einen so starken Duft, dass mir davon etwas übel wurde. Das liegt an meiner Gehirnerschütterung, erklärte mir die Ärztin. Deswegen haben die Schwestern die Rosen anderswohin gestellt.«
Zu ihrer Erleichterung schien Tommy die Lüge zu glauben. »Das ist schade. Aber ich hätte ja selbst daran denken können, dass dir starke Gerüche im Moment nicht guttun. Selbst wenn es Rosendüfte sind.«
Sammys Herz setzte einen Schlag aus. Hinter ihren Schläfen begann es bereits zu pochen. Verzweifelt überlegte sie, wie sie Tommy schnellstmöglich wieder loswerden konnte. Aber ihr fiel nichts ein.
»Zum Glück habe ich zwei weitere Überraschungen für dich dabei«, sagte er geheimnisvoll. »Diese hier gebe ich dir sofort. Du wirst dich freuen, wenn du mein Geschenk auswickelst. Das andere Geschenk ist allerdings unverpackt.«
Er hielt die Tasche hoch, in der Sammy eine leichte Bewegung wahrzunehmen glaubte. Folgsam packte sie den großen Geschenkkarton mit der riesigen goldfarbenen Schleife aus. Es waren Leonidas, ihre belgischen Lieblingspralinen.
»Freust du dich?« Tommys Miene zeigte Sammy, dass er keine andere Antwort als Ja akzeptieren würde. »Ich habe sie eigens im Chocolate-Shop für dich zusammenstellen lassen. Von jeder Sorte ist mindestens eine Praline dabei. Von denen, die du am liebsten magst, sogar zwei.«
Unter anderen Umständen hätte sich Sammy über Tommys ungewohnte Großzügigkeit gefreut. Denn Leonidas-Pralinen hatte er ihr zuletzt höchstens zu Weihnachten oder zu ihrem Geburtstag zugestanden. Warum ausgerechnet jetzt? Ahnte er etwas?
Morgen Vormittag, gleich nach der Visite, wollte Lily mit einer Polizeibeamtin aus Canterbury zurückkommen, die ihre Anzeige gegen Tommy wegen Körperverletzung aufnehmen sollte. Auch dazu hatte sich Sammy gestern nach langem Zögern überreden lassen. Danach sollte sie entlassen werden und ins Frauenhaus einziehen. »Ja, ich freue mich sehr«, antwortete sie und hörte, wie piepsig ihre Stimme klang.
Tommy sah sie prüfend an. »Über mein zweites Geschenk wirst du dich noch viel mehr freuen. Aber zuerst sollten wir uns wieder miteinander versöhnen. Ich habe dir ja schon gesagt, dass es mir leidtut. Wenn du dich jetzt auch dafür entschuldigst, mich beleidigt und sogar angegriffen zu haben, verzeihe ich dir, und alles ist wieder gut.«
Auch dieser Aufforderung wäre Sammy unter anderen Umständen sofort nachgekommen. Doch ihr schien, als würde der Samen des Widerspruchsgeists, den Mabel und Lily in den letzten Tagen in ihr gesät hatten, nun aufkeimen. »Ich muss mich für gar nichts entschuldigen«, erwiderte sie so energisch, wie es ihr möglich war. »Schließlich liege ich wegen dir hier im Krankenhaus. Und das nicht zum ersten Mal!«
Erwartungsgemäß verfinsterte sich Tommys Miene. »Wie redest du denn mit mir? Glaubst du etwa, das, was du mir angetan hast, spielt überhaupt keine Rolle? Ich bin sogar in Gefahr, wegen dir nicht befördert zu werden. Mr Gabriel ist nämlich aufgefallen, dass du recht häufig im Krankenhaus bist. Und weißt du, warum ihm das aufgefallen ist?« Er machte eine Pause und blickte Sammy wütend an.
Die schüttelte, bereits eingeschüchtert, den Kopf.
»Weil ich mir jedes Mal freigenommen habe, um bei dir sein zu können«, klärte er sie auf. »Deshalb habe ich das diesmal gar nicht gewagt. Denn einen Filialleiter, der dauernd überraschend fehlt, kann er womöglich nicht brauchen.«
Sammy nahm all ihren Mut zusammen. »Ich möchte, dass wir uns trennen, Tommy. Jetzt, wo wir keine gemeinsamen Kinder mehr haben können, hat unsere Beziehung für mich keinen Sinn mehr.«
Einen kurzen Moment lang verzerrte sich Tommys Gesicht vor Wut. Sammy befürchtete, er wollte sie selbst im Krankenbett wieder schlagen. Doch dann entspannten sich seine Gesichtszüge. Er lächelte sie an. »Die Sterilisation war ein Fehler. Das sehe ich jetzt ein. Aber es bedeutet doch nicht, dass wir keine Kinder mehr haben können.«
Sammy starrte ihn verständnislos an.
Tommy griff ein weiteres Mal in die große Tasche. »Hier, schau! Diese Papiere habe ich aus dem Internet ausgedruckt.«
Fassungslos las Sammy die Überschrift Antrag auf Adoption eines Kindes. »Aber … Aber ich wollte doch eigene Kinder«, stammelte sie.
Tommy runzelte die Stirn. »Eigene Kinder, eigene Kinder«, äffte er sie nach. »Warum brauchen wir eigene Kinder? Du und ich sind noch jung genug, um einen neugeborenen Säugling zu adoptieren. Damit ersparst du dir sogar die ganzen Probleme einer Schwangerschaft. Aber das ist natürlich an eine Voraussetzung gebunden.« Wieder machte er eine Kunstpause.
Gegen ihren Willen stellte Sammy die Frage, die er zu erwarten schien. »Was denn für eine Voraussetzung?«
»Natürlich muss ich meine gut dotierte Vorgesetztenposition behalten. Das geht aber nur, wenn Mr Gabriel niemals erfährt, warum du heute wieder im Krankenhaus liegst. Sonst werde ich nämlich zurückgestuft und im schlimmsten Fall sogar entlassen.«
Sammy fehlten die Worte.
Wieder verwandelten sich Tommys drohende Gesichtszüge zu einer freundlichen Miene, bei der nur die Augen nicht mitlächelten. Erneut griff er in die Tasche. »Schau mal, was ich dir noch mitgebracht habe.«
»Oh, wie süß!«, entfuhr es Sammy.
Tommy hatte ein kleines Kätzchen hervorgezogen, das leise miaute. »Das ist mein Ersatz dafür, dass wir erst einmal keine Kinder haben werden. Denn eine Adoption dauert mindestens ein paar Monate.« Er hielt ihr das Kätzchen entgegen. Sein Fell war weiß mit braunen und schwarzen Flecken.
Vorsichtig umfasste Sammy das kleine Wesen und drückte es an ihre Brust.
»Das ist eine Glückskatze«, erklärte Tommy. »Sie ist dreifarbig. Das kommt nur bei Weibchen vor. Ich habe sie gerade noch aus dem Tierheim geholt, bevor es für heute geschlossen hat. Wie möchtest du sie denn nennen?«
»Mimi will ich sie nennen«, antwortete Sammy spontan. Schon früher hatte sie sich so sehr ein Kätzchen gewünscht, war damit bei Tommy aber auf taube Ohren gestoßen.
»Nun siehst du, dass ich guten Willen zeige«, sagte Tommy, während Sammy das zarte Wesen, das sich gleich an sie schmiegte, streichelte. »Ich habe dir deine Lieblingspralinen mitgebracht und gestehe dir das ersehnte Kätzchen zu. Außerdem werden wir gemeinsam einen Adoptionsantrag stellen, sobald du wieder nach Hause gekommen bist. Ich verzichte sogar auf deine Entschuldigung, wenn du mir versprichst, mich nie wieder so zu behandeln.«
Sammy blieb stumm. Widerstreitende Gefühle tobten in ihrer Brust. Wenn sie Tommy morgen anzeigte, würde er ihr das niemals verzeihen. Erst recht nicht, wenn er dadurch berufliche Nachteile hatte. Und was sollte dann aus dem Kätzchen werden? Sicher brachte er es sofort wieder ins Tierheim zurück.
Andererseits, wenn sie ihm ein letztes, aber wirklich allerletztes Mal verzieh, könnte sie bald ein Kind haben. Zwar kein eigenes, aber doch ein Wesen, um das sie sich kümmern und das sie liebhaben konnte. Würde Tommy wieder zum einfachen Bankmitarbeiter degradiert, sänken ihre Chancen für eine rasche Adoption. Und verlöre er seine Stelle sogar, gäbe es diese Chance erst einmal gar nicht.
»Also, was sagst du?« Der drohende Unterton in seiner Stimme war ein eindeutiges Warnsignal. Er wird sich nicht ändern, wurde ihr mit erschreckender Deutlichkeit klar.
»Ich weiß es noch nicht. Ich brauche Bedenkzeit«, antwortete sie.
»Nun, dann möchte ich deiner Entscheidung ein wenig auf die Sprünge helfen.« Tommys Tonfall wurde eiskalt. »Gehen lasse ich dich nämlich nie, Sammy. Du gehörst mir. Merke dir das! Wenn du mich verlässt, bringe ich dich um. Also, überlege dir, was du tust.«
Sammy lag wie erstarrt. Damit hatte Tommy noch nie gedroht. Doch sie spürte, dass er es todernst meinte.
»Morgen komme ich wieder und hole mir deine Entscheidung ab«, kündigte er an. Dann nahm er ihr das Kätzchen so grob aus den Händen, dass es vor Schmerz aufjaulte, und steckte es wieder in die Tasche.
»Morgen ist schlecht«, antwortete sie mit leiser Stimme, ohne nachzudenken. »Morgen bekomme ich schon Besuch.«
»Das ist aber schön, mein Schatz.« Das war wieder die freundliche Maske. »Und wer kommt dich besuchen?«
»Eine … eine alte Freundin«, stammelte Sammy. Es war eine dämliche Antwort, denn Tommy wusste, dass sie schon seit vielen Jahren keine Freundinnen mehr hatte. Aber etwas anderes war ihr nicht eingefallen.
»Dann richte ich mich selbstverständlich nach deinen Wünschen und komme erst am Mittwoch wieder«, gab Tommy völlig überraschend nach. »Und wünsche dir morgen einen angenehmen Tag.«