»Es tut mir sehr leid, mein Schatz, aber du kannst heute wieder nicht raus.«
Als würde Mick jedes ihrer Worte verstehen, maunzte der Kater Lily kläglich an. Dann lief er zu seiner verschlossenen Katzenklappe und stieß vergeblich mit dem Kopf dagegen. Der traurige Blick, mit dem er Lily dann aus seinen grünen Augen anschaute, untermalt von neuen Jammerlauten, schnitt ihr ins Herz.
Sie ging zu Mick und streichelte ihm den Kopf. »Was soll ich nur mit dir tun?« Auch sie war traurig. »Wenn Mr O’Brian dich noch einmal dabei erwischt, wie du an der Vogeltränke jagst, tut er dir womöglich etwas an. Damit hat er zumindest gedroht. Immerhin hat er sich schon eine Schreckschusspistole gekauft, um dich aus seinem Garten zu vertreiben«, fuhr sie fort, als Mick weiterhin miaute und die Vorderpfote an die Klappe drückte. »Wer weiß? Beim nächsten Mal ist es vielleicht ein Luftgewehr.«
Mick jammerte weiter.
»Warum kannst du dich denn nicht woanders herumtreiben?« Jetzt wurde Lilys Tonfall vorwurfsvoll. »Ich habe jedenfalls getan, was ich konnte. Aber du bist einfach zu schlau! Du hast schon nach zwei Tagen erkannt, dass du nicht mehr rauskannst, wenn du mittags in die Wohnung kommst, um zu fressen.« Lily hatte die Klappe so eingestellt, dass sie nur nach innen, aber nicht mehr nach außen aufging, sobald Mick morgens die Wohnung verlassen hatte.
»Aber wenn du draußen bleibst, ohne etwas zu fressen zu kriegen, bis ich abends heimkomme, wirst du erst recht jagen. Und ich könnte nicht ertragen, wenn dir etwas passiert.« Sie sah auf die Uhr und griff nach ihrer Tasche. Zeit, in die Praxis aufzubrechen.
Sie seufzte. »Ich muss jetzt gehen, Mick. Heute Abend wird es sogar besonders spät. Ich muss die Sondersitzung mit Vera Osmond abhalten. Und vorher noch ein Geschenk für Ivys und Dylans Baby besorgen. Aber ich komme so schnell heim, wie ich kann. Das verspreche ich dir.«
Vorgestern hatte sich ihre Mutter Abigail bei Lily gemeldet. Zum ersten Mal seit Lilys überstürztem Aufbruch an ihrem Geburtstag vor knapp drei Monaten. »Ivy hat heute Nacht ihre kleine Tochter geboren und das arme Ding tatsächlich Andrea genannt«, hatte sie am Telefon berichtet. »Dessen ungeachtet bin ich nun stolze dreifache Großmutter und lade euch deshalb alle am Sonntag ein, um die Ankunft der Kleinen bei mir zu feiern.«
Der arme Mick, der bei Abigail ja nicht mehr willkommen war, würde jetzt auch am Sonntag allein in der Wohnung bleiben müssen.
Lily schob den Gedanken beiseite. Als sie ihre Jacke anzog, beäugte Mick sie misstrauisch. Dann legte er sich demonstrativ quer vor die Wohnungstür.
»Oh nein! Nun mach es mir doch nicht so schwer!« Obwohl sie spät dran war, holte Lily ein Knabberstäbchen für Mick, zerpflückte es in kleine Stücke und warf sie in den Flur. Mick stürzte sich sofort darauf.
Während er fraß, schlüpfte Lily mit schlechtem Gewissen aus der Tür. Das konnte auf keinen Fall so weitergehen. Doch eine Lösung hatte sie nicht parat.
Lily sah wohl zum zwanzigsten Mal auf die Uhr. Mittlerweile war es halb sieben. Doch ihre Patientin, deren Sitzung um achtzehn Uhr beginnen sollte, hatte sie offensichtlich ohne Entschuldigung versetzt.
Kurz entschlossen sprang Lily auf. Sie würde der Patientin die ausgefallene Sitzung zwar in Rechnung stellen, aber nicht länger auf sie warten. Nun würde sie das Geschenk für Ivys Baby im nahe gelegenen Primark , das zum Shoppingcenter White Friars gehörte, besorgen. Umso besser, wenn sie schon vor zwanzig Uhr zurück wäre.
Die Rose Lane und alle Geschäfte des Shoppingcenters waren bereits weihnachtlich geschmückt. Doch Lily war alles andere als weihnachtlich zumute. Dem nahenden Fest sah sie mit Grausen entgegen. Denn sie würde es entweder allein verbringen müssen oder erneut in Gesellschaft ihrer Familie in Eastbourne.
Im vergangenen Jahr hatte sich Dan am zweiten Weihnachtsfeiertag drei Stunden lang von Jocelyn weggestohlen, um Lily sein Weihnachtsgeschenk, einen herzförmigen goldenen Anhänger, vorbeizubringen. An diesem Tag hatten sie zum letzten Mal miteinander geschlafen. Den Anhänger hatte Lily Dan vor die Füße geworfen, als sie ihn mit seinem letzten Verrat konfrontierte.
Die Erinnerung daran machte den Gang durch die Säuglingsabteilung für Lily nicht angenehmer. Lustlos musterte sie die ausgestellte Ware. Trotzig beschloss sie zunächst, auf keinen Fall rosa Strampler für die kleine Andrea zu besorgen. Kurz überlegte sie sogar, aus reiner Provokation nur hellblaue Sachen zu kaufen. Doch schließlich fand Lily ein gelbes Kleidchen mit der Applikation eines Marienkäfers als Glückssymbol.
Auch heutzutage können weibliche Wesen jeden Alters nicht genug Glück haben, dachte sie mit einem ironischen Lächeln. Ein zum Kleid passendes Mützchen und ein Kuscheltier in Form eines Elefanten vervollständigten das Ensemble.
Ungeduldig trat Lily von einem Fuß auf den anderen, als die Schlange vor der Kasse kein Ende nehmen wollte. Jetzt war es fast halb acht.
Als sie die Rose Lane entlanghastete, sah sie im Licht der Weihnachtsbeleuchtung eine Frau vor der Eingangstür des Hauses stehen, in dem ihre Praxis lag. Vera ist aber pünktlich, dachte sie erfreut, als sie die letzten Meter zurücklegte. Vielleicht schaffe ich es dann doch noch früher heim zu Mick.
Doch als sich die wartende Frau umdrehte, erschrak Lily bis ins Mark.
Es war Samantha Harris. Obwohl sie ihr Gesicht weitgehend unter einem Schal verborgen hatte, erkannte Lily das rechte zugeschwollene Auge auf den ersten Blick. Auch das Taschentuch, das sich Sammy auf die Nase presste, war blutgetränkt.
Mein Handy klingelt, als ich gerade vom Parkplatz des Shoppingcenters auf die Rose Lane trete. Es ist Lily Brown.
Verwundert nehme ich den Anruf an. Es ist erst zehn Minuten vor acht. Lily hat mir doch gesagt, dass ich möglicherweise sogar ein wenig auf sie warten müsse.
Ihre Stimme klingt gehetzt, als sie sich meldet. »Vera, es tut mir unendlich leid, aber mir ist heute Abend etwas dazwischengekommen. Können wir uns morgen Abend um die gleiche Zeit in der Praxis treffen?«
»Das weiß ich noch nicht«, antworte ich ohne weitere Überlegung. »Aber wenn ich es schaffe, habe ich noch mehr zu berichten als heute. Ich melde mich, sobald ich absehen kann, ob ich um acht Uhr wieder in Canterbury bin.«
Bevor Lily weitere Fragen stellen kann, verabschiede ich mich und lege auf.