TEIL 2

Kapitel 31

August 1988

Er sah auf die Uhr, als die Wohnungstür krachend ins Schloss fiel. Der Barbetrieb würde frühestens in zwei Stunden beginnen. Was hatte sie also bis dahin zu tun?

Wütend riss er die Kühlschranktür auf und fand zum Glück noch eine letzte Dose Bier. Von mir aus kann sie zur Hölle fahren, fluchte er innerlich. Wenn die Kinder nicht wären, hätte ich mich längst aus dem Staub gemacht.

Doch die Kleinen wollte er nicht im Stich lassen. Mitnehmen konnte er sie nicht. Denn er war nie mit Cindy, wie sie sich jetzt nannte, verheiratet gewesen und galt offiziell auch nicht als leiblicher Vater ihrer Kinder. In den Geburtsurkunden stand »Vater unbekannt«. Das hatte Cindy vorgeschlagen.

Damals hatte er das für eine gute Idee gehalten. Denn so war er nicht unterhaltspflichtig, und Cindy erhielt Geld für die Kinder von der Sozialfürsorge. Beide waren sie damals arbeitslos gewesen. Mit dem Geld vom Staat kamen sie eine Zeit lang ganz gut über die Runden. Bis Cindy in Clubs in Soho als Bardame anfing, hatte es auch selten Streit gegeben.

Seither war sie immer unzuverlässiger geworden. Sie blieb oft nächtelang weg und kümmerte sich kaum noch um die Kinder. Die warmen Mahlzeiten, die sie ihnen in den letzten Monaten gekocht hatte, ließen sich an den Fingern einer Hand abzählen. Wenn nicht immer wieder eine ihrer Tanten oder Schwestern aus Schottland ausgeholfen hätte, wären die Kinder schon völlig verwahrlost.

Denn er selbst war oft unterwegs. Er arbeitete schwarz auf weit von London entfernten Baustellen und kam meistens nur am Wochenende nach Hause. Auch darunter hatten die Kinder zu leiden, d

enn Cindy ging immer brutaler mit ihnen um. Erst am vergangenen Samstag hatte sie das Mädchen grün und blau geschlagen, weil es mal wieder eingenässt hatte. Er war gerade von der Arbeit heimgekommen, als sich die Ärmste in ihrer Not ganz zusammenkrümmt in eine Ecke gekauert hatte, die Arme über dem Kopf als Schutz vor den Schlägen. Sofort hatte er seiner brutalen Frau den hölzernen Kleiderbügel aus der Hand gerissen und ihn ihr wütend einmal selbst über den Rücken gezogen.

Doch Cindy ließ sich nicht so leicht einschüchtern. »Das Miststück pisst ins Bett wie ein Baby«, schrie sie ihn an, das hübsche Gesicht zu einer Fratze verzerrt.

Er warf den Kleiderbügel weg und hob die zur Faust geballte Hand. »Mach, dass du fortkommst!«, brüllte er. »Sonst schlage ich dir deine Visage zu Brei. Dann kannst du deine Stelle in dieser miesen Bar auf Wochen vergessen.«

Türenschlagend verließ sie die Wohnung, während er die Kleine tröstend in den Armen hielt. Gesicht und Haare stanken nach dem Urin, in den Cindy das Mädchen getaucht hatte. Wieder einmal bereute er zutiefst, auf seine rechtlichen Möglichkeiten als Vater so leichtfertig verzichtet zu haben.

»Du kannst ja ruhig mal versuchen, mir die Kinder wegzunehmen«, hatte Cindy mit einem hämischen Lachen entgegnet, als er ihr schon vor Jahren damit gedroht hatte. »Dann hetze ich dir die Bullen auf den Hals und lasse dich wegen Kindesentführung einbuchten.«

Dabei wusste er so gut wie Cindy, dass es ihr nicht um die Kleinen ging, sondern nur um das Geld, das sie von der Sozialfürsorge für sie einsackte.

Erschwerend kam hinzu, dass die Kinder nicht einmal selbst wussten, dass er ihr richtiger Vater war. Zwar brachten sie ihm das gleiche Vertrauen entgegen, nannten ihn aber nicht Dad, sondern dachten, er wäre ihr Onkel.

Der Clip der Bierdose riss ab, als er in seinem Zorn über Cindy zu heftig daran zerrte. Verdammt, wie bekam er das Ding jetzt auf?

Hektisch wühlte er in den Schubladen des Küchenschranks nach einem Dosenöffner. Ohne Erfolg. Natürlich hielt die Schlampe auch keine Ordnung in ihrer Küche. Er sah sich um. Wo könnte der Dosenöffner hingeraten sein?

Vielleicht in die Lade vom Küchentisch, der mit einer billigen Plastiktischdecke bedeckt war. Er zerrte die Tischdecke zur Seite und zog an der Schublade. Sie war abgeschlossen und rührte sich keinen Millimeter.

Seine Wut suchte sich nun ein Ventil. Obwohl er nicht glaubte, den Dosenöffner in der verschlossenen Tischlade zu finden, holte er einen Schraubenzieher aus seiner Werkzeugkiste und hebelte das Schloss kurzerhand auf. Dann zog er die Schublade auf.

Verblüfft starrte er auf mehrere dicke Umschläge. Sie enthielten Polaroid-Fotografien. Er zog einige davon heraus.

Im nächsten Augenblick stürzte er würgend zum Spülbecken und übergab sich, bis nur noch saure Galle seine Kehle hinaufstieg. Ohne den Dreck zu beseitigen, riss er das Fenster auf und wischte sich mit einem Küchentuch übers Gesicht.

Dann breitete er die Fotografien auf dem Tisch aus. Dass Cindy illegal als Hure arbeitete, vermutete er schon seit Langem. Für ihren Körper in den billigen Spitzenfummeln, in denen sie ihre Reize präsentierte, hatte er daher kaum einen Blick. Aber dass sie das Mädchen mit hineingezogen hatte, wäre ihm in seinen schlimmsten Albträumen nicht eingefallen.

Wie lange ging das schon so? Auf einigen Aufnahmen war die Kleine höchstens vier oder fünf Jahre alt. Kein Wunder, dass sie seit dieser Zeit wieder ins Bett machte.

Schon als er den Inhalt des ersten Umschlags durchgeblättert hatte, wurde es ihm zu viel. Er hatte genug gesehen. Er ballte die Hände zu Fäusten, so stark, dass ihm die Fingernägel ins Fleisch schnitten.

Das wirst du büßen, Cindy! Diesmal kommst du nicht ungeschoren davon, schwor er sich. Du wirst dein blaues Wunder erleben, wenn du heute Nacht heimkommst.