Kapitel 47

Caffè Nero
Samstag, 12 . Januar 2019

Lily sah Mabel schon an, dass sie etwas bedrückte, als sie sich dem Tisch näherte, an dem die Sozialarbeiterin im Caffè Nero saß. Nach der Begrüßung bestellten beide erst einmal Tee und Blaubeermuffins.

»Ich muss dich gar nicht fragen, wie es dir geht, Mabel, es steht dir ins Gesicht geschrieben«, sagte Lily.

Jetzt verzog Mabel sogar den Mund, als wollte sie weinen. Sie riss sich zusammen, stieß einen trockenen Schluchzer aus und trank einen Schluck Tee.

»Obwohl ich jetzt fast zwanzig Dienstjahre auf dem Buckel habe, kann ich mich an manches noch immer nicht gewöhnen«, sagte sie kryptisch.

Lily wartete schweigend.

»Hast du von der alten Frau gehört, die man in Dover in ihrer Wohnung überfallen hat?«

Lily bejahte. »Es stand in der Zeitung.«

»Das ist meine alte Tante. Es geht ihr sehr schlecht. Sie wird vielleicht sterben.«

»Wie furchtbar!« Lily schlug sich die Hand vor den Mund. »Dann wäre sie ja das zweite Opfer dieser verfluchten Räuberbande.«

»Sie hat einen komplizierten Oberschenkelhalsbruch erlitten, als der Täter sie zu Boden warf. Viele alte Leute sterben an den Folgen einer solchen Verletzung. Und Auntie Daisy hat die OP nicht gut überstanden. Ob sie je wieder gehen kann, steht in den Sternen. Auntie, die bislang fast völlig eigenständig in ihrer Wohnung lebte, ist jetzt also pflegebedürftig.«

Lily nickte verständnisvoll. »Und du suchst einen Platz im Pflegeheim für sie, weil sie nicht mehr in ihre Wohnung zurückkann.«

»So ist es. Aber als ich vorhin noch mal in der Klinik angerufen habe, teilte man mir mit, dass Auntie nur noch apathisch im Bett liegt, mit niemandem spricht, die Nahrung verweigert und sogar einnässt.« Jetzt schluchzte Mabel doch auf. »Ich denke, sie will sterben. Dabei war sie früher so fröhlich und lebenslustig und genoss jeden Tag.«

»Ich hoffe, man schnappt diese elenden Schufte bald«, knurrte Lily grimmig.

»Es heißt sogar, man habe einen Profiler von der MET eingeschaltet, der demnächst mit Auntie sprechen will. Die sollen ja was von ihrem Handwerk verstehen. Hoffentlich lässt sie sich darauf ein.«

Lily durchfuhr ein Stich. Offensichtlich gab es vor dem Thema Dan kein Entrinnen. Denn genau davon wollte sie sich durch ihre Verabredung mit Mabel eigentlich ablenken.

Gestern hatte sie den ganzen Tag geheult und sich abwechselnd bemitleidet und dafür verwünscht, wieder mit Dan geschlafen zu haben. Damit muss Schluss sein, hatte sie sich heute Morgen geschworen.

Leider hatte sie hier in Canterbury noch kaum Bekannte oder gar Freunde. Matt wäre sicher nicht der richtige Partner für ein Treffen gewesen, um sich von Dan und ihrem Rückfall abzulenken. Also war nur Mabel übrig geblieben.

Aber auch Mabel sollte natürlich nicht wissen, dass sie mit genau jenem Profiler, den sie gerade erwähnt hatte, eine Affäre gehabt hatte.

Wenigstens ging es Mick wieder gut. Er hatte gestern fast nur geschlafen und war heute Morgen ganz der Alte gewesen. Bevor Lily in die Innenstadt aufbrach, hatte sie ihn ins Freie gelassen und danach bei Mr O’Brian geklingelt.

»Mick ist jetzt draußen. Er wird ins Haus kommen, sobald ich zurück bin«, sagte sie grußlos. »Sollte ihm jedoch wieder etwas zustoßen, mache ich Sie dafür verantwortlich!«

»Ich bin doch nicht der Hüter Ihres Katers!«, protestierte O’Brian.

»Nein! Aber sein Schinder!«, entgegnete Lily und wandte sich abrupt um. Gut möglich, dass der Nachbar einen Teil ihres Zorns über Dan abbekam, aber im Augenblick wusste sie sich nicht anders zu helfen.

Von diesen Gedanken abgelenkt, schnappte sie von Mabels nächsten Worten nur den Namen »Harris« auf.

»Was hast du gerade gesagt? Sorry, ich war einen Moment lang abwesend.«

»Ich sagte, dass meine Tante so dankbar für jede Unterstützung wäre, wenn sie dadurch wieder in ihre Wohnung zurückkehren könnte. Dagegen war alle Mühe, die wir beide uns mit Samantha Harris gegeben haben, verschwendet.«

»Hast du wieder etwas von ihr gehört?«

»Wenig. Ich wollte diesem Fall wahrlich keine Zeit mehr opfern. Sammy verließ das Frauenhaus schon nach zwei Tagen. Kurz nach dem Überfall auf dich. Ihr sauberer Gatte scheint unter falschem Absender einen Brief an sie eingeschmuggelt zu haben.«

»Einen Brief? Ich dachte, die Adresse des Frauenhauses wäre geheim.«

Mabel zuckte die Achseln. »So geheim, wie eine Adresse eben sein kann, an der ein ständiges Kommen und Gehen herrscht. Ein Privatdetektiv bräuchte wahrscheinlich nur ein paar Stunden, um sie zu ermitteln. Irgendwie hat Harris Samanthas Aufenthaltsort herausgefunden. Mit was er sie diesmal bewogen hat, zu ihm zurückzukehren, weiß nur Sammy allein. Aber es interessiert mich auch gar nicht.«

Lily sparte sich die Frage, ob Sammy tatsächlich zu Thomas Harris zurückgekehrt war. Sie wusste nur zu gut, dass ihre ehemalige Patientin keine Alternative zu haben glaubte. Sammy war in dieser toxischen Beziehung gefangen, so wie sie selbst in der zu Dan Baker.

Plötzlich überfiel Lily ihre ganze Erbitterung über Veras Tod. »Auch ich bereue zutiefst, mich um Sammy gekümmert zu haben anstatt um eine andere Patientin, die mich viel nötiger gebraucht hätte und nun tot ist«, entfuhr es ihr.

»Hat sie sich etwas angetan?«

Da Lily ihre unbedachte Bemerkung bereits bedauerte, bejahte sie. »Sie hat vor ihrem Tod noch eine Freundin aufgesucht, als sie mich nicht erreichen konnte.« Sie bog die Wahrheit weiter zurecht, da sie Mabel auf keinen Fall in die ganze Angelegenheit einweihen wollte. »Mit der würde ich für mein Leben gern sprechen. Um zu erfahren, was Vera zu ihrem Suizid veranlasst haben könnte.«

Mabel tätschelte Lily mitfühlend die Hand. »Und warum tust du es nicht?«

»Ich kenne nur den Namen der Freundin und dass sie im Londoner Stadtteil Ealing wohnt. Aber ich kann im Internet weder ihre Adresse noch ihre Telefonnummer finden.«

»Das Einwohnermeldeamt müsste sie haben«, sagte Mabel nachdenklich. »Sofern sie sich nicht illegal im Land aufhält.«

»Das ist ausgeschlossen.«

Mabel blickte auf. »Warum fragst du dann nicht jemand von deinen Polizeikontakten? Zum Beispiel die nette Police Constable, die im November Sammys Anzeige aufnehmen wollte. Die haben doch sicher Zugang zu den entsprechenden Datenbanken. Es ist doch nicht verwerflich, wenn ein Gespräch mit dieser Freundin dir deinen Seelenfrieden wiederbringt.«

Lily fand Mabels Idee auf Anhieb gut. »Warum nicht?«, überlegte sie laut. »Einen Versuch ist es jedenfalls wert.«