Kapitel 51

Lilys Wohnung
Donnerstag, 17 . Januar 2019

Es war schon halb vier Uhr nachmittags, als Lily erkannte, dass sie erneut in einer Sackgasse gelandet war. Eine Amy Tyson im Großraum London über das Internet ausfindig machen zu wollen, glich der Suche nach einer Stecknadel im Heuhaufen.

Also hatte sie sich zunächst auf den Gebäudekomplex Arden Estate in Hoxton konzentriert. Dort fand sie über verschiedene Telefonbucheinträge zwar sieben Amys, wenn man die Langform Amelia dazurechnete. Aber keine davon hieß mit Nachnamen Tyson. Geburtsdaten waren im Internet schon gar keine ausfindig zu machen.

Ohne Erfolg hatte es Lily danach bei Facebook und Instagram versucht. Da gab es sechs Profile von Frauen mit dem Namen Amy Tyson, aber diese verteilten sich nicht nur über das ganze Land, sondern eine Dame stammte sogar aus Australien. Die einzige Amy Tyson aus London hatte dankenswerterweise ihr Geburtsdatum angegeben und viele private Fotos von sich gepostet. Es war eine Achtzehnjährige aus Greenwich.

Schließlich hatte Lily probehalber den Namen ohne Eingrenzung durch die Adresse »Arden Estate« gegoogelt. Anstatt mit ein paar tausend Bewohnern, die in diesem Gebäudekomplex lebten, hatte sie es jetzt mit über neun Millionen Londonern zu tun. Entnervt gab sie nach wenigen Minuten auf.

Allein der Name Amy oder Amelia Tyson tauchte über zweihundertfünfzigmal auf. Dabei wusste Lily gar nicht, ob die Amy, die sie suchte, überhaupt in einem Telefonverzeichnis stand. Schließlich hatte sie Rosie Granger darüber auch nicht gefunden.

Zahlreiche andere Möglichkeiten waren ihr außerdem eingefallen. Viele Einträge wiesen nur eine Initiale des Vornamens auf. Lily verzichtete darauf, nach »Tyson A.« zu suchen, da sie mit Tausenden von Treffern rechnete.

Aber das Hauptproblem bestand darin, dass es höchst zweifelhaft war, ob sie mit dem Nachnamen Tyson überhaupt weiterkam. Amy hatte ja irgendwann geheiratet und dabei womöglich den Namen ihres Ehemanns angenommen, den Lily nicht kannte.

Je länger sie über ihr gestriges Gespräch mit Rosie nachdachte, desto deutlicher spürte sie, dass Rosie mehr wusste, als sie preisgegeben hatte. Sicher – ein Privatdetektiv verfügte über andere Recherchemöglichkeiten; aber Lily vermutete trotzdem, dass der, den Vera angeblich beauftragt hatte, deutlich bessere Anhaltspunkte zur richtigen Amy Tyson gehabt haben musste. Sonst wäre er nicht so rasch fündig geworden, und die Kosten für Vera wären explodiert.

Lily machte sich eine Tasse Tee und ließ den jammernden Mick in den Garten. Draußen schien nach den letzten trüben Tagen ausnahmsweise einmal die Sonne. Lilys Polo stand auf einem Parkplatz direkt vor der Haustür. Mr O’Brian würde nicht wagen, Mick erneut etwas anzutun, wenn er annehmen musste, dass Lily zu Hause war.

Beim Tee ordnete sie zuerst ihre Gedanken, danach ihre Notizen. Amy Tyson musste unter ihrem neuen Namen irgendwo in Arden Estate wohnen, vielleicht sogar im oder ganz in der Nähe des Titania House, von dem Vera in den Tod gestürzt war. Lily googelte noch einmal und hatte diesmal Glück. Der Lageplan, vor dem sie vor ein paar Wochen ratlos gestanden hatte, fand sich auch im Internet.

Lily vergrößerte das Foto und druckte es aus. Auf den zweiten Blick erwies sich der Plan als gar nicht so unübersichtlich wie bei ihrem Besuch vor Ort im Dezember. In unmittelbarer Nachbarschaft des Titania House befanden sich die Häuser mit den Namen Hamlet, Romeo und Lear. Hamlet lag gleich neben Titania, Romeo und Lear dahinter.

Ohne viel Hoffnung suchte Lily unter diesen Adressen noch ein letztes Mal vergeblich nach einer Bewohnerin mit dem Namen Amy Tyson. Sie fand nicht einmal eine mit den Vornamen Amy oder Amelia. Dann überdachte sie die Optionen, die ihr noch blieben.

Sie könnte natürlich noch einmal nach Hoxton fahren und die Namen auf den Klingelschildern dieser vier Häuser lesen. Vielleicht traf sie dabei sogar den Hausmeister wieder, der ihr möglicherweise weiterhelfen konnte.

Aber wobei helfen? , meldete sich ihr innerer Advocatus Diaboli zu Wort. Sie hatte ja keinen Anhaltspunkt, wie Amy heute mit Nachnamen hieß, sollte sie ihn nach der Heirat geändert haben. Und wenn Lily zu erkennen gab, dass sie Nachforschungen im Zusammenhang mit Veras Selbstmord anstellte, würde sie wahrscheinlich ohnehin keine Auskünfte kriegen. Schließlich hatte der Mann ja deutlich zu verstehen gegeben, dass ihm diese Sache schon genug Scherereien eingebracht hatte.

Nelly Wilson noch einmal um Hilfe zu bitten, schloss Lily ebenfalls aus. Nelly hatte ihr unmissverständlich bedeutet, dass die Suche nach Rosie über die Datenbank des Einwohnermeldeamtes der erste und letzte Freundschaftsdienst dieser Art gewesen war.

Es blieb also wieder einmal – nur Dan.

An diesem frustrierenden Punkt ihrer Überlegungen hörte Lily Mick über die Katzenklappe zurück in die Wohnung kommen. Er begrüßte sie kurz und lief dann, wie üblich, sofort zu seinem Fressnapf. Als sie nach Futter für Mick suchte, stellte sie bestürzt fest, dass sie nur noch ein einziges Portionsschälchen im Haus hatte. Sie musste also heute noch Nachschub besorgen.

Lily sah auf die Uhr. »So ein Mist!«, fluchte sie vor sich hin. Es war kurz nach fünf. Der Laden im Viertel hatte bereits geschlossen. Also würde Lily in die Innenstadt fahren müssen. Aber das würde sie immerhin ablenken.

 

Um halb sechs betrat Lily einen Laden namens Wilko , der sich in der Fußgängerzone befand. Lily deckte sich mit einem großen Vorrat Katzenfutter ein, wobei sie sicherheitshalber nur Sorten kaufte, die Mick garantiert mochte. Das neue Notebook inklusive der Datenrettung von ihrer defekten Festplatte und der Installation hatte ein großes Loch in ihre Kasse gerissen. Da wollte sie nicht auch noch Futter wegwerfen müssen, das Mick verschmäht hatte. Seitdem sie ihn meistens in der Wohnung behielt, war der Kater sehr wählerisch geworden.

Sie war schon auf dem Weg zur Kasse, als ihr Blick auf ein Vogelhaus inklusive Tränke fiel, das auf einen hohen Pfahl montiert war. »Absolut katzensicher« verkündete das Werbeschild. Grübelnd blieb sie davor stehen.

In der Tat wäre es für Mick unmöglich, an dem Pfahl aus glatt poliertem Holz emporzuklettern. Und wenn man das Vogelhaus so aufstellte, dass Mick nicht von einem Baum aus daraufspringen konnte, wären Mr O’Brians Lieblinge wirklich vor ihm sicher.

Das Preisschild versetzte Lily erst einmal einen Schock. Das Vogelhaus kostete über einhundert Pfund. Eigentlich konnte sich Lily eine solche Ausgabe gerade nicht leisten.

Andererseits war ihr für die Wiederherstellung des nachbarlichen Friedens kein Preis zu hoch. Daher erstand Lily schließlich das Vogelhaus, zumal es das einzige war, das noch da war. Bis sie ihre Kreditkartenabrechnung erhielt, hoffte sie, wieder flüssig zu sein.

 

Eine halbe Stunde später klingelte Lily an der Tür von O’Brians Einfamilienhaus. Die Fenster waren erleuchtet, der alleinstehende Nachbar musste also daheim sein. Schon hörte sie ihn zur Tür schlurfen.

Als er ihr öffnete, musterte er sie und das Vogelhaus und wirkte zunächst völlig verblüfft. Dann begann er, laut zu lachen. Anfangs glaubte Lily, er wollte sie auslachen, bis sie merkte, dass es ein echtes, herzliches Lachen war. »Kommen … Kommen Sie herein, Mrs Brown!«, schnaufte er, als er wieder zu Atem gekommen war.

Verwirrt folgte Lily ihm mit dem schweren Vogelhaus durch den Flur und das Wohnzimmer auf die Terrasse.

Doch sobald O’Brian das Außenlicht angeknipst hatte, musste auch sie herzlich lachen. Mitten auf dem Rasen, weit weg von jedem Baum, stand das gleiche Vogelhaus. O’Brian stimmte in ihr Gelächter ein.

»Es sollte ein Friedensangebot sein«, schmunzelte er, als sich beide beruhigt hatten. »Weil ich Ihrem Kater neulich wehgetan habe, was mir hinterher leidtat. Ich wollte mich schon eine ganze Zeit lang entschuldigen, habe es aber nicht gewagt, weil Sie so wütend auf mich waren. Dann habe ich das da gestern bei Wilko entdeckt und heute Nachmittag aufgestellt. Und konnte mich auch gleich davon überzeugen, dass es funktioniert. Mick strich zwar eine Weile darum herum, konnte aber nicht hinaufklettern und gab schließlich auf. Ich wollte es Ihnen eigentlich schon gezeigt haben, aber da waren Sie wohl gerade unterwegs.«

»Um Futter für Mick zu besorgen, wobei ich dieses baugleiche Modell entdeckt habe. Und ich habe es in der gleichen Absicht erstanden. Damit der Frieden zwischen uns wiederhergestellt wird.«

»Nun, dann können Sie es ja zu Wilko zurückbringen. Denn ich weiß, wie teuer es war.«

Lily schüttelte energisch den Kopf. »Das kommt überhaupt nicht infrage! Ihr Garten ist groß genug für zwei. Und außerdem«, sie betrachtete Mr O’Brians Vogelhaus im schwachen Licht, »ist meines grün und Ihres blau gestrichen. Sie passen also auch farblich wunderbar zueinander.«

Sie diskutierten noch eine Weile hin und her, bis O’Brian schließlich einverstanden war. Zum Dank lud er Lily noch zu einem selbst gemachten Punsch ein.

Vom guten Ende dieses ansonsten frustrierenden Tages beschwingt, ging Lily schließlich zurück in ihre Wohnung. Und stellte überrascht fest, dass sich ihre Friedensstimmung auch auf Dan übertrug.

Ich habe mehr von ihm erwartet, als realistisch war, und mich ziemlich unmöglich aufgeführt, gestand sie sich ein. Dass Dan Jocelyn nach einer einzigen Liebesnacht mit mir sofort verlässt, war wirklich zu viel verlangt.

Eine Weile grübelte sie darüber nach, ob ihre Beziehung nach diesem missglückten Neuanfang noch zu retten war. Dann traf sie die Entscheidung, sich, davon unabhängig, bei Dan zu entschuldigen, ihn so schlecht behandelt zu haben.

Erst danach werde ich ihm von meinem Gespräch mit Rosie Granger berichten, beschloss sie. Amy Tyson hat schon als Kind dreimal gemordet. Und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein viertes Mal. Dan ist Profi genug, um mir seine Hilfe bei der weiteren Aufklärung von Veras Tod nicht zu verweigern.