Kapitel 56

Vera Hamlet House
Zwei Monate vorher, Freitag, 30 . November 2018

Als ich den Klingelknopf entdecke und mehrmals läute, öffnet mir niemand. Frustriert blicke ich mich um. Doch nirgendwo ist ein Café oder eine andere Gaststätte zu sehen.

Innerlich schelte ich mich selbst eine Närrin. Dass Felicity Walker, wie sich Amy Tyson heute nennt, nicht zu Hause sein könnte, hatte ich gar nicht im Kalkül. Schließlich hat der Privatdetektiv, der sie für eine Unsumme ausfindig gemacht hat, behauptet, sie würde als Buchhalterin in der City arbeiten und jeden Tag um ungefähr siebzehn Uhr nach Hause kommen. Jetzt ist es schon Viertel nach fünf.

Als ich noch missmutig überlege, was ich nun tun soll, öffnet sich die Eingangstür des Hamlet House. Ein Mann im grauen Kittel kommt heraus. Er scheint der Hausmeister zu sein.

Ich spreche ihn an. »Guten Abend. Mein Name ist Vera Osmond. Ich möchte dringend Felicity Walker sprechen, die hier im sechsten Stock wohnt. Wissen Sie zufällig, wann sie ungefähr nach Hause kommt oder ob sie möglicherweise sogar verreist ist?«

Der Mann mustert mich prüfend, bevor er antwortet. »Verreist ist sie nicht. Ich hab sie nämlich heute Morgen noch gesehen. Aber freitags kommt sie manchmal später nach Hause, weil sie noch einkaufen geht.«

Ich stoße entnervt die Luft aus. »Gibt es hier in der Nähe einen Pub oder so was Ähnliches, wo ich warten könnte?«

»Gibt es, die Straße runter und dann rechts im Caliban Tower.« Er blickt mich weiter durchdringend an. »Aber das ist kein Aufenthaltsort für ’ne feine Lady. Wie war noch mal Ihr Name?«

»Vera Osmond«, gebe ich Auskunft.

»Und was woll’n Sie von Mrs Walker?«

Eigentlich empfinde ich die Frage als unangemessen, antworte aber trotzdem. »Ich kenne sie schon aus Kinderzeiten. Wir haben damals beide in Notting Dale gewohnt. Jetzt habe ich sie neulich zufällig wiedergetroffen und hatte heute gerade hier in der Gegend zu tun. Ich bin leitende Marketingmanagerin in einer großen Werbeagentur in Canterbury.« Als der Mann mich skeptisch ansieht, füge ich rasch hinzu: »Die Betreibergesellschaft von Arden Estate, Hoxton Housing, hat uns beauftragt, ein Marketingkonzept für den Gebäudekomplex zu entwerfen.«

Der Blick des Hausmeisters bleibt skeptisch. Aber zum Glück hinterfragt er meine lahme Ausrede nicht. Stattdessen macht er mir ein überraschendes Angebot. »Warten Sie doch in meiner Hausmeisterloge, bis Felicity heimkommt!«

Ich nehme die Einladung an und folge dem Mann in den öffentlichen Wartebereich seines Büros. Dort serviert er mir sogar einen Becher Tee und verabschiedet sich dann, weil er noch im Haus zu tun hat. Er murmelt etwas von irgendwelchen Dacharbeiten im Nachbarhaus und einer möglicherweise nicht verschlossenen Tür.

Eine halbe Stunde lang schlage ich die Zeit tot. Ich rufe eine Nachrichtenseite auf meinem Handy auf. Der Hausmeister kommt nicht zurück. Um Viertel vor sechs beschließe ich, jetzt in den sechsten Stock zu fahren und nachzusehen, ob Felicity inzwischen nach Hause gekommen ist.

Tatsächlich erkenne ich einen Lichtschein, der durch den Spion ihrer Wohnungstür fällt. Offenbar ist sie jetzt daheim. Ich läute mehrmals. Das Guckloch verdunkelt sich, wahrscheinlich schaut sie nach, wer draußen steht, reagiert jedoch nicht. Ich habe schon Angst, dass sie mir nicht öffnet.

Deshalb poche ich heftig an die Tür. »Ich muss dringend mit Ihnen reden, Mrs Walker. Oder soll ich Sie lieber Amy Tyson nennen? Sie werden sich sicherlich noch an Chrissy und Vera Osmond erinnern. Ich bin Vera und heute gekommen, um mit Ihnen über Chrissy zu reden. Ich habe schon mit Rosie Granger gesprochen und bin sicher, dass Sie uns alle noch kennen.«

Dass ich derart in die Offensive gegangen bin, zahlt sich aus. Amy öffnet mir die Tür.

Vor mir steht eine überraschend schick gekleidete, schlanke Frau. Im Gegensatz zu Rosie wirkt Amy heute nicht so, als wäre sie unter ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen. Sie ist sorgfältig geschminkt und noch genauso hübsch, wie sie als Mädchen war. Mit ihren schwarzen Haaren und Augen und den feinen Gesichtszügen gleicht sie noch immer dem Kind aus meinen Erinnerungen. Ob ich sie auf der Straße erkannt hätte, weiß ich nicht. Aber jetzt, als ich vor ihr stehe, sehe ich, dass sie es wirklich ist.

»Machen Sie doch bitte nicht so einen Lärm!«, sagt sie, bevor sie mich hineinwinkt.

Ich folge ihr durch den Flur in ein geschmackvoll eingerichtetes Wohnzimmer. Auf der Couch sitzt zu meinem großen Erstaunen der Hausmeister William Holsten. Noch bevor er sich erklärt, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Rosie konnte sich nicht mehr an den Namen von Amys Dad erinnern, nur noch, dass sie ihn Onkel Billy genannt hat. Billy, der Kosename für William.

Amy bietet mir einen Platz gegenüber ihrem Vater an. Allerdings kein Getränk. Dann setzt sie sich neben ihn. »Was wollen Sie von uns, Mrs Osmond?«, fragt sie.

»Dass Sie endlich zu dem stehen, was Sie Chrissy und zwei kleinen Jungen als Kind angetan haben«, erkläre ich. Damit sie es gar nicht erst abstreitet, gebe ich ihr einen kurzen Bericht über meine Erkenntnisse in der Psychotherapie und aus meinen Gesprächen mit Mrs Ackroyd und Rosie Granger.

»Ich verlange, dass Sie sich der Polizei stellen. Ich habe das alles sorgfältig mit meiner Psychotherapeutin in Canterbury besprochen. Sie heißt Lily Brown und hat ausgezeichnete Kontakte zur Polizei, denn sie hat früher dort gearbeitet. Sie wird daher nicht zögern, mir zu helfen, Sie zur Anzeige zu bringen, wenn Sie sich nicht selbst stellen.«

Amy hat mir die ganze Zeit schweigend zugehört. Doch die Anspannung zeigt sich deutlich in ihrem Gesicht.

Trotzdem ergreift zuerst ihr Vater das Wort. »Woher soll’n wir wissen, dass Sie nicht bluffen und gar nix gegen meine Tochter in der Hand haben?«

»Ich habe Rosie Granger als Zeugin. Sie ist bereit auszusagen.«

Aber Holsten hat recht, das ist wirklich Bluff. Denn Lily weiß gar nicht, was ich heute vorhabe. Und Rosie hat mir unmissverständlich gesagt, dass sie nicht weiter in diese Sache hineingezogen werden will. Doch darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Wenn Amy sich nicht selbst stellt, werde ich Anzeige gegen sie erstatten und Rosie und die alte Edith Ackroyd als Zeuginnen benennen.

Amy ist mittlerweile weiß wie die Wand geworden. Sie sagt immer noch nichts. Ihre Hände zittern. Sie verkrampft sie im Schoß, als sie sieht, dass ich es bemerkt habe. Aber das nützt ihr nichts.

Ich ziehe meinen letzten Trumpf aus dem Ärmel und werfe die Kopien der Artikel aus der London Times und der Sun auf den Tisch. Nach dem Besuch bei Rosie habe ich sie in deren Archiven gefunden. Darin wird über die angeblichen Unfälle von Chrissy und mir sowie zwei kleinen Jungen berichtet.

»Sie haben genau eine Woche Zeit, um mir eine Kopie Ihres Aussageprotokolls zu übergeben. Erhalte ich bis zum nächsten Freitagabend nichts, erstatte ich nämlich nicht nur selbst Anzeige, sondern informiere auch diese beiden Zeitungen über meine Erkenntnisse. Ich bin sicher, zumindest die Sun wird einen reißerischen Artikel daraus machen. Wie Sie heute aussehen, kann ich meinem Bericht gleich hinzufügen.«

Ich lege einige Fotografien der erwachsenen Amy, die ich ebenfalls dem Privatdetektiv verdanke, zu den Zeitungsartikeln. Auf einer davon ist sogar der Firmenname des Steuerbüros, in dem sie arbeitet, zu erkennen.

Amy sagt immer noch nichts.

Stattdessen fragt mich ihr Vater: »Was haben Sie denn nach der langen Zeit davon, Amys Leben kaputtzumachen?« Ehe ich antworten kann, fährt er fort. »Sie hat sich nach diesen Taten nie mehr was zuschulden kommen lassen und sehr hart drum gekämpft, da zu sein, wo sie heute ist.«

Dann erklärt er mir, dass er zur Zeit des Mordes an Chrissy im Gefängnis war, verschweigt mir aber wohlweislich den Grund. »Nach meiner Entlassung habe ich Amy aus dem Heim geholt. Sie hat einen guten Schulabschluss gemacht und eine Ausbildung zur Buchhalterin begonnen. Dann hat sie geheiratet. Der Mann hat zwar nix getaugt, aber auch durch die Scheidung hat sie sich nicht unterkriegen lassen. Sie hat heut ein gutes Einkommen und ’ne gesicherte Existenz. Warum woll’n Sie ihr das kaputtmachen, nur weil sie als Kind unbedacht Dinge getan hat, die ihr noch immer sehr leidtun?«

»Unbedacht?«, frage ich spöttisch. »Wenn ich Rosie Granger richtig verstanden habe, hat Amy genau gewusst, was sie tat. Sie hat die Morde mit Absicht begangen. Daran besteht überhaupt kein Zweifel. Ebenso wenig daran, dass sie wusste, dass sie jedes Mal ein Verbrechen beging.«

»Aber heute ist sie doch völlig resozialisiert«, erwidert ihr Vater.

Ich bin erstaunt, dass dieser einfach gestrickte Mann dieses Wort kennt. Doch die Erklärung folgt auf dem Fuße.

»Ich war fünf Jahre lang im Gefängnis«, sagt er. »Ich hab sehr viel Zeit gebraucht und viel Unterstützung von der staatlichen Fürsorge, bis ich da war, wo ich heute bin. Ich hab schon im Knast an allen Programmen teilgenommen. Trotzdem hab ich Jahre gebraucht, bis ich ’nen anständigen Job bekam. Keiner wollt mit ’nem Vorbestraften zu tun haben. Auch die Stelle als Hausmeister hab ich nur deshalb bekommen, weil es ’ne staatliche Förderung dafür gab.«

Ich merke, dass mich Holstens Ausführungen ungeduldig machen. »Im Gegensatz zu Ihnen hat Amy nie für ihre Taten büßen müssen. Und das ist nicht fair. Denn sie hat meine Familie und mein Leben zerstört.«

Ich setze Amy und ihren Vater kurz darüber in Kenntnis, welche Folgen der Mord an Chrissy für mich bis heute hat.

Während ich spreche, laufen Amy die Tränen über die Wangen. Zum ersten Mal spüre ich ihr gegenüber so etwas wie Nachsicht. Immerhin scheint es ihr wirklich leidzutun.

»Es hat keinen Zweck, Daddy«, sagt sie schließlich mit leiser Stimme. »Du hast mich all die Jahre davor bewahrt, für das Furchtbare zu büßen, was ich als Kind getan habe. Doch Unrecht bleibt Unrecht. Außerdem siehst du ja selbst, dass Mrs Osmond nicht nachgeben wird.«

»Und was willst du tun, Amy?« In der Stimme ihres Vaters klingt Panik.

»Am Montag stelle ich mich«, antwortet sie. Sie wirkt entschlossen.

»Du wirst deine Stelle verlieren«, beschwört sie ihr Vater. »Und alles, was du dir mühsam aufgebaut hast. Denk nur an deinen Bruder! Für den konnt ich nix mehr tun. Er hat sich mit achtzehn den Goldenen Schuss gesetzt.«

Amy antwortet nicht.

»Aber du bist deinen Weg immer weiter nach vorn gegangen, Amy! Hast alles hinter dir gelassen. Du hast den Kontakt zu deiner Mum abgebrochen, die dir so Schlimmes angetan hat. Du hast deine Scheidung von diesem Idiot, auf den du trotz meiner Warnung reingefallen bist, verkraftet. Und dich danach Felicity genannt, weißt du noch? Damit dir in Zukunft das Glück hold sein wird , hast du geschwollen gesagt. Aber hattest recht damit. Willst du das jetzt alles draufgeh’n lassen?«

Amy hebt entschlossen den Kopf. »Du meinst es gut, Daddy. Aber was du nicht weißt, ist, dass ich noch immer von diesen Untaten träume, die ich als Kind begangen habe. Dass die Schuld mich fast täglich plagt und quält. Vielleicht kann ich mich davon endlich befreien, wenn ich mich stelle.«

Ich verfolge das Gespräch zwischen Vater und Tochter schweigend. Eine solche Reaktion habe ich von Amy nicht erwartet. Sie stimmt mich tatsächlich ein wenig milder. Deshalb sage ich: »Wenn Sie sich stellen, Amy, und ich den Beweis dafür mit der Kopie Ihres Aussageprotokolls in Händen halte, werde ich nichts weiter gegen Sie unternehmen.«

Ich hole tief Luft, aber da ich wirklich beeindruckt von Amys Verhalten bin, fahre ich fort. »Ich weiß nicht, ob man Sie über dreißig Jahre nach diesen Vorfällen dafür noch belangen wird, zumal Sie damals ein unmündiges Kind waren. Vielleicht nimmt man auch einfach nur zu den Akten, was Sie aussagen, und lässt Sie danach ungeschoren davonkommen. In diesem Fall werde auch ich die Sache auf sich beruhen lassen. Aber der Gerechtigkeit muss Genüge getan werden. Das bin ich meiner kleinen Schwester und meinen Eltern schuldig.«

Amy nickt und steht auf. »Ich werde zu meinem Versprechen stehen, Mrs Osmond. Aber jetzt bitte ich Sie zu gehen.«

An der Wohnungstür merke ich, dass Amys Vater mir folgt. Ich nehme die Treppe, nicht den Aufzug, weil ich mich bewegen muss. Er hält sich dicht hinter mir. Vor seiner Hausmeisterloge ergreift er meinen Arm.

»Bitte, nur noch auf ein einziges Wort, Mrs Osmond. Sie wissen nicht, wie schrecklich es Amy als Kind hatte. Vielleicht versteh’n Sie dann besser, warum sie das alles damals gemacht hat.«

Ich zögere. »Eigentlich ist alles gesagt, Mr Holsten. Mein Entschluss steht.«

»Bitte!« Er sieht mich geradezu flehentlich an. »Geben Sie Amy noch eine Chance und hören, was ich zu sagen habe. Und wenn Sie Ihre Meinung nicht ändern, werd ich das akzeptieren.«

Ich überlege kurz. Was auch immer Amys Vater mir sagen wird, an dem, was ich mir vorgenommen habe, gibt es nichts zu rütteln. Warum ihm also nicht den Gefallen tun? Außerdem bin ich neugierig, was es mit Amys angeblich schwerem Schicksal auf sich hat.

Deshalb nicke ich schließlich und folge ihm wieder in den Wartebereich der Hausmeisterloge, wo ich schon vorher gesessen habe.

»Ich dank Ihnen sehr, Mrs Osmond. Aber bevor ich Ihnen von Amy als Kind erzähl, mach ich uns erst noch mal ’ne schöne Tasse Tee.«