Nach dem Telefonat mit Matt konzentrierte sich Dan zunächst auf die digitale Akte über den Suizid von Vera Osmond, die noch auf dem frei zugänglichen Server lag. Anders als vor einiger Zeit, als er sie auf Lilys Bitte hin nur oberflächlich überflogen hatte, las er sie heute so gründlich, wie es die knappe Zeit erlaubte. Dabei konzentrierte er sich auf den Namen des Hausmeisters William Holsten. Tatsächlich tauchte der gleich zweimal in der Akte auf.
Holsten hatte die Polizei zum Tatort gerufen – das hatte ihm Matt bereits erzählt. Als Hausmeister war er aber auch mitverantwortlich dafür, dass die Tür zum Dach des Titania House offen geblieben war. Denn er hätte bemerken müssen, dass ihm die Handwerker den Schlüssel nicht zurückgebracht, sondern in der Tür stecken gelassen hatten.
Je intensiver sich Dan trotz der drängenden Zeit in die Akte einlas, desto unplausibler erschien ihm nunmehr die Beschreibung des Tathergangs. Der Dachbereich sei für die Hausbewohner gar nicht zugänglich, stand da. Vera Osmond musste sich also schon hinaufgeschlichen und versteckt haben, als die Handwerker noch oben waren. Aber wie sollte sie das bewerkstelligt haben? Und woher hätte sie wissen sollen, dass sie die Tür offen vorfinden würde?
Der Notruf des Hausmeisters war gegen 19:30 Uhr bei der Polizei eingegangen. Die Handwerker hatten aber sicher nicht so lange gearbeitet. Was hatte Vera also bis kurz vor 19:30 Uhr auf dem Dach getan? Dass ihre Leiche längere Zeit auf dem Pflaster gelegen haben könnte, schloss Dan aus. Dazu war die Gegend zu belebt.
»Shit!« Lily hatte mit ihrem Verdacht, Vera könnte durch Fremdverschulden ums Leben gekommen sein, tatsächlich recht gehabt. Jetzt erst fiel ihm auf, wie viele Ungereimtheiten allein der mögliche Tathergang aufwies.
Welche Rolle spielte dabei dieser Hausmeister? Was konnte er mit Felicity Walker zu schaffen haben? Einen regulären Polizeieinsatz konnte Dan nur veranlassen, wenn er etwas Greifbares vorzuweisen hatte.
Ohne viel Hoffnung rief er eine weitere Datenbank auf. Hier waren alle aktenkundig gewordenen Straftäter der vergangenen Jahrzehnte verzeichnet. Er tippte den Namen »William Holsten« ein und erstarrte nur wenige Sekunden später vor Schreck. William Holsten war ein mehrfacher Straftäter. Anfangs war er nur durch Bagatelldelikte aufgefallen, die sich allerdings so stark häuften, dass er immer wieder kurze Haftstrafen abbüßen musste.
Doch zu der längsten Gefängnisstrafe von fünf Jahren war er verurteilt worden, weil er seine Lebensgefährtin im August 1988 fast zu Tode geprügelt hatte. Diese Lebensgefährtin hieß Margaret Tyson .
»Shit!«, fluchte Dan ein weiteres Mal, während er bereits mit zitternden Fingern die Nummer der Polizeidienststelle in Hackney wählte. Chief DI Jonathan Anderson, der Leiter des örtlichen CID , hatte zum Glück Rufbereitschaft. Dan wurde sofort zu ihm durchgestellt.
Aufgeregt schilderte er Anderson sein Anliegen. Und hörte zunächst entgeistert, dass der Chief die ganze Sache abwiegeln wollte.
Nach drei Minuten fruchtlosem Hin und Her platzte Dan der Kragen. »Sie schicken sofort zwei Streifenwagen zum Hamlet House in Arden Estate. Ich stoße dazu, so schnell ich kann.« Anderson versuchte einen letzten Einwand, doch Dan schnitt ihm das Wort ab. »Hier ist Detective Inspector Dan Baker, forensischer Psychologe und Profiler beim Department Forensic Sciences der MET «, wiederholte er noch einmal in scharfem Ton. »Es ist mir scheißegal, dass Sie im Rang über mir stehen! Wenn Sie Ihren Arsch nicht sofort hochkriegen und zwei Streifenwagen losschicken, reiße ich ihnen denselben höchstpersönlich auf! Darauf können Sie sich verlassen, wenn Lily Brown etwas zustößt.«