Kapitel eins
An einem goldenen Abend im Juli versammelten sich über zweihundert Kunstliebhaber vor einer unglaublich hippen Galerie in Somerset.
Sie ließen per Fernbedienung die Verriegelung ihrer teuren Autos zuschnappen und mäanderten anschließend durch das wogende Gras der umliegenden Gärten zu einem Fiberglaspavillon, der geformt war wie ein riesiger Mutterleib auf Stelzen.
Unter den Erwählten waren Kritiker, Londoner Kunsthändler, Prominente aus der Musik- und Fernsehbranche sowie Freunde der Künstlerin.
Im lärmigen Inneren des Pavillons wurden Wangenküsse ausgetauscht und Selfies gemacht, Gläser funkelten, nackte Schultern glänzten, Kellner mit Pferdeschwanzfrisur und Tabletts voller Kanapees und Champagner schwebten durch das Gewühl. Eine verunsicherte Gruppe lokaler Würdenträger drängte sich neben dem Eingang zusammen, der die Form einer Vagina hatte.
Ringsherum flackerte ein körniger Film über die halbrunden Wände. Die kultivierte Menge musste nicht extra daran erinnert werden, dass es sich bei den stummen Bildern einer nackten und schockierend schönen, jungen Künstlerin – den Kopf zurückgeworfen in Ekstase, die Glieder verschlungen mit denen ihres Geliebten –, um Szenen ihrer berühmt-berüchtigten Studienarbeit mit dem Titel Preconception handelte, eine Art Wortspiel, was so viel wie »Vor der Schwangerschaft« bedeutete oder auch einfach »Vorurteil«, »vorgefasste Meinung«.
Es war nicht nur der Film, der vor Elektrizität knisterte. Auch die Tatsache, dass gleich die verrufene Performance-Künstlerin Kristal Havfruen höchstselbst vor die Menge treten würde, die sich viele Jahre von der Kunstszene ferngehalten hatte, ließ die Luft vor angespannter Vorfreude vibrieren. Wenn Kristal den heutigen Abend ausgewählt hatte, um aus der Versenkung aufzutauchen, dann würde das nicht ohne eine Explosion vonstattengehen.
Es gab Gerüchte, dass ein weiteres Happening stattfinden sollte.
Havfruens Fans waren hellauf begeistert: Die Frau war eine Naturgewalt – eine Künstlerin mit der Vorstellungskraft einer Frida Kahlo und dem theatralischen Gehabe einer Marina Abramović. Am Rand der Menge murrten ein paar Skeptiker über eine Karriere, die sich über Fördermittel definierte. Havfruen war eine Künstlerin, an der sich die Geister schieden.
»Ist sie nun da oder nicht?«, fragte ein bärtiger Mann im Rock.
»Selbstverständlich ist sie da«, erwiderte sein Begleiter. »Schließlich ist Kristal das Kunstwerk!«
Um exakt neunzehn Uhr fünfundvierzig wurde die trubelige Menge im Pavillon durch den silbrigen Klang eines Löffels, der auf eine Champagnerflöte traf, zum Schweigen gebracht. Alle Augen richteten sich auf einen kantigen Mann in einem Anzug mit Schottenmuster, der ein ironisches Menjoubärtchen über seiner leicht schweißig glänzenden Oberlippe zur Schau trug.
»Meine Damen und Herren, willkommen in der Meat Hook Gallery. Für diejenigen, die mich nicht kennen: Mein Name ist Saul Spencer. Es ist mir eine gewaltige Ehre, Kurator dieser bahnbrechenden Retrospektive zu sein. Ich bin mir sicher, Sie finden es genauso aufregend wie ich, einen Blick auf das Lebenswerk der berühmten Künstlerin Kristal Havfruen werfen zu dürfen, das endlich an einem Ort versammelt ist. Ich habe jede Menge Spekulationen darüber vernommen, ob Kristal heute Abend zu uns stößt, und ich könnte Sie sicher noch länger auf die Folter spannen – ich kann Ihnen aber auch verraten, dass die Künstlerin tatsächlich anwesend ist. Kristal hat fast einen Monat damit zugebracht, die atemberaubende Show auf die Beine zu stellen, die wir gleich genießen werden.
Die Ausstellung ist in chronologischer Reihenfolge aufgebaut, und es freut mich über alle Maßen, Ihnen verkünden zu dürfen, dass Kristal ein bedeutendes neues Werk exklusiv für die Meat Hook Gallery geschaffen hat. Wir werden es als Höhepunkt des heutigen Abends in der Hauptgalerie enthüllen. Dieses Kunstwerk war bis dato ein streng gehütetes Geheimnis, das nicht einmal ich zu Gesicht bekommen habe. Es liegt also ein spannender Abend vor uns. Wenn Sie so freundlich wären, mir zu folgen – ich führe Sie zu den weiteren Räumlichkeiten der Galerie. Bitte nehmen Sie sich Zeit, die Gärten zu genießen, die heute Abend absolut prächtig aussehen, und geben Sie acht, wenn wir an den Teichen vorbeikommen.«
Wie Kinder dem Rattenfänger folgten die Gäste Spencers hagerer Gestalt, strömten aus dem Mutterleib und über die gekiesten Wege zu den Ausstellungsräumen. Eine einzelne Libelle schwebte über dem Wasser, die letzten Sonnenstrahlen warfen Giacometti-Schatten über die Rasenflächen, und wegen der plötzlichen Frische zogen die Damen ihre Pashmina-Schals enger um die Schultern.
Nun betraten sie die prächtige Meat Hook Gallery – eine elegante Verbindung von elisabethanischen Landwirtschaftsgebäuden und postmodernem Glas und Stahl.
Über ihren Köpfen verkündete ein Banner:
KRISTAL HAVFRUEN – EIN LEBEN
Hinter der Tür warnte ein kleinerer Hinweis:
Manche Ausstellungen sind für Kinder unter achtzehn Jahren nicht geeignet.
Es werden Werke gezeigt, die Ihr sittliches Empfinden verletzen könnten.
Im ersten Raum wurden sie von einem weiteren Film empfangen, der auf die gesamte Breite einer Wand projiziert wurde. Es handelte sich um die Fortsetzung des Films im Pavillon, und obwohl die Aufnahmen einen leichten Gelbstich hatten, was an dem damals verwendeten Klebstoff lag, gelang es ihnen noch immer, die Gäste scharf nach Luft schnappen zu lassen. Das hier war Kristals berühmte Abschlussarbeit an der Falmouth School of Art. Sie zeigte eine dramatisch angestrahlte Matratze auf der Bühne eines rappelvollen Theatersaals. Auf der Matratze kämpfte eine junge Kristal Havfruen mit den letzten Wehen. Mit einem finalen Pressen bäumte sich ihr elfenbeinfarbener Körper auf, und ein wimmerndes Baby glitt aus ihr heraus, um das Licht der Welt zu erblicken. Das erste Geräusch, das auf seine winzigen Ohren traf, war Applaus.
Was immer die Leute von Havfruen hielten – niemand hatte auch nur annähernd so viel Chuzpe. Das Außergewöhnlichste aber war selbstverständlich das Baby, das heute Abend hier war, mitten unter ihnen: Kristal Havfruens Sohn Art.
Mittlerweile vierundzwanzig Jahre alt, hatte es Art zu einem erfolgreichen Werbefachmann gebracht. Man hatte ihn schon früher entdeckt in seinem modisch zerknitterten Anzug und seinen langen, spitzen Stiefeln. Doch wo war er jetzt?
In exakt jenem Augenblick befand sich Art in einer der Kabinen in den Unisex-Toilettenräumen der Meat Hook Gallery, eifrig damit beschäftigt, sich schneeweiße Lines CK1 in die Nase zu ziehen, was momentan die Droge seiner Wahl war – Kokain, vermischt mit einer niedrigen Dosis Ketamin.
Als er damit fertig war, wischte er sich mit seinem zarten Handrücken die Nasenlöcher ab und wusch sich an dem Schweinetrogwaschbecken das Gesicht. Anschließend schlüpfte Art Havfruen zurück in die Ausstellungsräume, gestärkt durch den süß ausbalancierten Doppelkick von Marschpulver und Pferde-Tranquilizer, und spürte, wie der Anblick der gertenschlanken Kunst-Aficionados um ihn herum ein Kribbeln in seinem Schritt auslöste.
Die Gäste hatten sich in einem Raum mit hoher Decke versammelt, einem ehemaligen Kuhstall, der von einer frühen bildnerischen Arbeit Kristals dominiert wurde. Bei dem Ausstellungsstück handelte es sich um einen lebensgroßen Neonbaum, der vollgehängt war mit etwas, das man beim ersten Hinsehen für verschiedenfarbige Äpfel halten konnte und das sich erst bei genauerer Betrachtung als tadellos gearbeitete Föten aus Acrylharz entpuppte. Ein gedrucktes Schild erklärte, dass das Werk den Titel Forbidden Fruit – »Verbotene Früchte« – trug und dass es sich bei dem leicht verschrumpelten, schlangenähnlichen Ding in dem Formaldehydtank zwischen den Wurzeln des Baums um die Nabelschnur von Havfruens neugeborenem Kind handelte.
Kein Wunder also, dass Art Havfruen einen Anflug von Paranoia und Unwohlsein verspürte, als er auf einen kopfsteingepflasterten Hof hinaustrat, um frische Luft zu schnappen. Es war eine seltsame und schwere Last, nicht nur Sujet so vieler berühmter Werke seiner Mutter zu sein, sondern das Werk an sich.
Auf dem Hof wurde er mit einer weiteren Vision seiner Mutter konfrontiert: einer riesigen, in der Hocke kauernden Superfrau, die den Titel Pissing Kristal – »Pissende Kristal« – trug. Die hyperreelle Plastik zeigte die Künstlerin in dem für sie typischen kurzen weißen Spitzenkleid und den klobigen kirschroten Dr.-Martens-Stiefeln, wie sie mithilfe einer genialen Technik einen nicht endenden, gurgelnden Wasserstrahl aus sich herausströmen ließ.
Das Wachpersonal der Meat Hook Gallery, das während der Show diskret auf Hockern Platz genommen hatte, schnappte die gemurmelten Beobachtungen der Gäste auf, die schockiert oder fasziniert waren und von Plagiat oder Anlehnung an Künstler wie Damien Hirst, Ron Mueck und Yayoi Kusama sprachen.
Es war kein Geheimnis, dass Havfruen ihre Werke nicht selbst anfertigte; stattdessen nahm sie die Dienste hoch qualifizierter Techniker in Werkstätten und Fertigungsanlagen in ganz Südwestengland in Anspruch. Wie sie bekanntermaßen einst einer skeptischen Kunstberichterstatterin von Channel 4 erklärt hatte: »Dinge herstellen kann jeder, aber nur wenige wagen zu träumen.«
In den hell erleuchteten Galerieräumen hatte sich eine Gruppe von Familienmitgliedern und alten Freunden der Künstlerin wiedergefunden. Die Jahre hatten Falten, eine gebückte Haltung und weiße Haare mit sich gebracht, was in manchen Fällen ziemlich schockierend wirkte. Marlene Moss, die frühere Leiterin der Fakultät für Malerei an der Falmouth School of Art, wirkte in ihrem Rollstuhl wie ein zerbrechliches Vöglein. Sie wurde der Reihe nach von ihren ergebenen ehemaligen Studenten geschoben, die sie oft als ihre Kinder bezeichnete. Bemerkenswert unter ihren Protegés war Kristals Ehemann Callum Oak, selbst ein talentierter Künstler, wenngleich weitaus konventioneller als seine Frau. Die Ähnlichkeit mit dem gemeinsamen Sohn Art war deutlich zu erkennen; Callum war ein gut aussehender Mann mit lockigen Haaren, der auch mit über vierzig noch jungenhaft wirkte. Ein weiterer ehemaliger Student und lebenslanger Freund der Familie Havfruen-Oak war Oliver Sweetman, ein ewig grinsender, rothaariger Riese, der aufgrund seiner jahrelangen allgegenwärtigen Präsenz Kristals Assistant und Fotograf geworden war.
Die Gäste zogen weiter in die älteren Räumlichkeiten, ehemalige Schweineställe, Scheunen und Schlachthäuser, die in luftige, weiß gekalkte Räume verwandelt worden waren. Hier hingen noch immer die Fleischhaken, denen die Meat Hook Gallery ihren Namen zu verdanken hatte. Die Räume waren vollgepackt mit Arbeiten aus Havfruens mittlerer Schaffensperiode. Es gab glänzende Aquarien, in denen schockierend lebensechte Figuren trieben oder durch die amniotische Flüssigkeit tauchten. Modell und Star dieser aquatischen Tableaus war jedes Mal das narzisstische Abbild von Kristal höchstselbst, unheimlich klein oder von alarmierender Größe, aber immer in einem kurzen weißen Spitzenkleid und roten Dr. Martens.
Entlang eines Korridors zeigten Bildschirme Interviews von Kunstprogrammen und Archivfilmmaterial, das die Künstlerin bei der Arbeit in ihren Studios präsentierte. Es war faszinierend, Kristal zuzusehen; sie war so wortgewandt, dass man leicht vergaß, dass Englisch ihre Zweitsprache war. Das Seltsame an ihr war allerdings, dass sie nie lächelte. Ja, ihre grünen Augen funkelten, aber die wohl mit Absicht lippenstiftverschmierten Lippen blieben fest verschlossen.
Es war kurz nach zwanzig Uhr dreißig, als Saul Spencer, der Kurator im Schottenkaroanzug, vor den eisenbeschlagenen Türen der Hauptgalerie stehen blieb. Das blassgelbe Licht verlieh ihm das unheimliche Aussehen eines Zeremonienmeisters bei einer Monstrositätenshow. Ungeduldig wartete er darauf, dass auch die letzten Nachzügler eintrafen. Als alle da waren, stellte er sich auf die Zehenspitzen und flüsterte theatralisch: »Meine Damen und Herren, hinter diesen Türen werden wir … was entdecken? Wer kann das schon wissen? Ich ganz sicher nicht. Selbst die, die Kristal verunglimpft haben, werden feststellen, wie sie mit unseren Emotionen spielt. Sie ist in der Tat eine Schöpferin von Gefühlen. Ich hege keinen Zweifel daran, dass uns etwas Unvergessliches erwartet. Sind Sie bereit, meine Damen und Herren? Na dann: Türen auf!«
Hinter ihm schoben uniformierte Angestellte die gut geölten Türen auf, und Saul Spencer ließ die fiebernde Menge den letzten Ausstellungsraum betreten.
Die Hauptgalerie war ein riesiges, kathedralenähnliches Gewölbe mit hoher Decke und Steinwänden. Die Kunstliebhaber sahen sich mit zusammengekniffenen Augen im Halbdunkel um. Hier war nur eine einzige Arbeit ausgestellt. Ein düsteres Objekt, das sorgfältig auf einem Podium genau in der Mitte positioniert war. Ein rechteckiger Glastank, nicht viel größer als ein Kühlschrank, gefüllt mit Flüssigkeit wie ein Aquarium.
Die Gäste bildeten ehrfürchtig einen Kreis. Das einzige Geräusch, das die Stille durchbrach, war ein leises Schniefen von Art Havfruen sowie das Surren von Rädern, als Marlene Moss über die Steinplatten rollte.
Und dann, in einem ohrenbetäubenden Augenblick, explodierte die Stille und verwandelte sich in die tosenden Klänge von Beethovens Neunter Sinfonie. Sämtliche Gäste sprangen gleichzeitig in die Luft, aber noch bevor sie sich erholen konnten, richtete sich ein halbes Dutzend Scheinwerfer, gleißend wie Laserstrahler, auf den Glastank.
Unter die dröhnende Musik mischten sich das Lachen, Nach-Luft-Schnappen, Aufschreien und Seufzen des aufgeschreckten Publikums.
Auf dem versiegelten Deckel des Tanks stand ein Paar glänzend roter Dr.-Martens-Stiefel.
Im Inneren war eine ätherische Vision von Schönheit zu sehen – ein frappierend realistisches Modell von Kristal Havfruen, in eine fötale Position gebracht. Die grünen Augen waren weit geöffnet, die langen Finger trieben in bernsteinfarbener Flüssigkeit. Die Knie des Kristal-Modells waren angezogen wie bei einer Inka-Mumie, ihr schlanker Körper umhüllt von weißer Spitze, die sich bauschte wie bei einem Taufkleid.
Die künstlerische Ausführung war verblüffend, doch was das Stück so zutiefst verstörend machte, war, dass es Kristal – anders als alles andere, was sie bis dahin geschaffen hatte – in ihrer exakten Lebensgröße zeigte, so, wie sie jetzt aussah: eine dreiundvierzig Jahre alte Frau mit vorstehenden Knochen und feinen Falten in ihrem schönen Gesicht. Wenn man genau hinsah, stellte man fest, dass dieses Gesicht nicht aus Kunstharz oder Fiberglas geschaffen war. Nein, die Haut wirkte weich, die perfekt gearbeiteten Glieder wogten wie filigrane Tentakel. Ihr blondes Haar floss um ihren Kopf und bildete einen schimmernden Heiligenschein.
Einige Gäste, die weiter hinten standen, konnten nichts sehen und drängten sich durch die Menge zur Scheibe des phosphorisierenden Glastanks.
»Erstaunlich lebensecht«, murmelte eine Frau.
»Unglaublich«, pflichtete ihr ein anderer Gast bei.
»Bis auf die letzte Pore, jedes Detail.«
»Die Krähenfüße rund um die Augen.«
»Und ist das … ein Blutstropfen? Da, an der Seite von ihrem Hals? Sehen Sie?«
Während die Gäste alarmiert in das bernsteinfarbene Aquarium starrten, stiegen auf einmal mehrere kleine Blasen von den geschminkten Lippen auf und trieben an die Oberfläche wie eine Perlenkette.
Saul Spencer, der in einer Ecke des Raumes stand, spürte, wie ihn die Furcht umwaberte wie ein dichter Nebel. Hektisch erregte er die Aufmerksamkeit eines seiner Angestellten und deutete mit Daumen und kleinem Finger ein ans Ohr gedrücktes Telefon an, während er gleichzeitig mit den Lippen ein einziges, unmissverständliches Wort formte:
»Polizei!«