Kapitel elf

Die Tauben aus dem Paradies

Was halten Sie von ihr?«, fragte Shanti, als sie zum Wagen zurückkehrten.

»Schwer vorstellbar, dass sie es war.«

»Dann glauben Sie also nicht, dass sie Kristal zu Boden gerungen und in einen Tank mit Formaldehyd gestopft hat.«

Caines Mundwinkel zuckten. »Ich mochte sie. Ihre Kunstsammlung ist verblüffend.«

»Sie stirbt, nicht wahr?«

»Wir sterben alle, Shanti. Aber ja, ich gebe ihr noch höchstens ein Jahr. Armes, altes Mädchen.«

Sie erreichten den Saab, stiegen ein und fuhren aus Falmouth heraus, vorbei an Truro und auf die A30 in Richtung Exeter.

»Besteht die Chance, dass wir uns beim Fahren abwechseln?«, fragte Shanti.

»Tut mir leid, ich fahre nicht.«

»Können Sie nicht oder wollen Sie nicht?«

»Autofahren ist nicht so mein Ding.«

»Nicht so Ihr Ding? Was zum Teufel soll das heißen? Alle Polizisten fahren. Das gehört zu unserem Job.«

»Wie ich schon sagte, Shanti: Ich weiß nicht, ob ich ein Polizist bin.«

»Ich werde Ihnen mal was sagen: Sie sind jetzt ein großer Junge, Vincent Caine, da ist es an der Zeit, dass Sie eine Entscheidung treffen. Übrigens: Sollte ich am Steuer einschlafen und unzählige Menschen in den Tod reißen, ist das Ihre Schuld, klar?«

Während sie Bodmin Moor durchquerten, blätterte Caine in The Mother of Art.

»Es ist genauso, wie ich es in Erinnerung hatte – Hunderte Fotos von Kristal in ihren roten Stiefeln und dem weißen Kleidchen, alternativ nackt und wunderschön.«

»Das gefällt Ihnen, nicht wahr, Caine?«

»Zu gestellt, für meinen Geschmack. Ich ziehe natürliche Frauen vor. Hier ist eine Fotoreihe von Kristal oben ohne am Strand, Seetang und Mülltüten um die Beine gewunden. Ich nehme an, sie möchte eine Art Meerestier darstellen. Wirklich witzig sind die Gestalten im Hintergrund … Nicht hinschauen! Augen auf die Straße! Auf den Fotos sind mehrere Einheimische abgebildet, die anscheinend noch nie ein ›Happening‹ gesehen haben. Manche blicken ziemlich empört drein, während andere absolut fasziniert wirken.«

»Vielleicht ist auch unser Freund, der Krabbenfischer, darunter.«

»Eins steht fest: Kristal liebte es, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen.«

»Sie war unausstehlich.«

»Na schön, hier haben wir ein frühes Foto von den dreien auf dem Gelände der Hochschule, genau dort, wo wir heute Morgen entlanggeschlendert sind. Da ist Callum, rechts neben ihm sind Kristal und Ollie Sweetman … Der Kerl ist echt riesig. Die Jungs können den Blick nicht von ihr wenden. Kristal lächelt anscheinend nicht gern. Weißt du, was mich wundert, Shanti? Marlene hat erzählt, Oliver sei in Kristal verliebt gewesen, doch als sie ihn abgewiesen hat, hat er das einfach so akzeptiert. Hat sich zurückgezogen und ist Callum und ihr bis zum Ende ihres Lebens treu ergeben geblieben. Wurde Kristals rechte Hand im Atelier und ihr Fotograf. Das klingt nicht gerade normal, oder? Er müsste doch zumindest einen gewissen Groll auf sie gehegt haben – oder auf Callum. Ich schlage daher vor, dass wir Mr. Sweetman einen Besuch abstatten.«

»Ja, ich habe ihn als Nächsten auf meiner Liste, aber Callum erwähnte eine Kopfverletzung, daher könnte er einen sehr unzuverlässigen Zeugen abgeben.«

»Auch Marlene hat davon gesprochen.«

»Hm. Trotzdem kann es nicht schaden, wenn wir mit ihm reden. Vielleicht arbeitet Oliver noch für Callum Oak.« Shanti warf ihm ihr Handy zu. »Sie sind gut in so was, Caine. Rufen Sie Ihren Kumpel Callum an. Erkundigen Sie sich, wie es ihm geht, und leiern Sie ein paar Details über Oliver aus ihm heraus.«

Es klingelte lange, bis Oak abhob.

»Mangrove House, Oak am Apparat«, meldete er sich mit trauriger, förmlicher Stimme.

»Mr. Oak, hier spricht DI Vincent Caine. Wie geht es Ihnen heute, Sir?«

»Nun, das Haus wird von Presseleuten belagert. Jedes Mal, wenn ich hinausgehe, rufen sie: ›Wer hat Kristal ermordet? Wer hat Kristal ermordet?‹ Wie eine hysterische Meute von Idioten.«

»Das tut mir wirklich leid. Für die Journalisten ist das natürlich eine Riesenstory. Allerdings haben sie kein Recht, das Grundstück zu betreten.«

»Wie dem auch sei – es geht mir besser, weil ich Art sehen konnte. Wir haben gestern Abend zusammen gegessen.«

»Ah, das ist gut. Wohnt er jetzt bei Ihnen?«

»Nein. Bis die Beerdigung vorbei ist, will er in seinem Wochenendhaus in Charmouth bleiben. Wissen Sie schon, wann die Polizei die Güte hat, die Bestattung von Kristal zu genehmigen?«

»Ich versichere Ihnen, dass der Leichnam Ihrer Frau so bald wie möglich freigegeben wird.«

»Art ist ausgesprochen unglücklich über die Art und Weise, wie er behandelt wurde. Es war nicht leicht, ihn davon abzubringen, eine offizielle Beschwerde gegen Ihre Kollegin, DI Joyce, einzulegen.«

»Ich glaube nicht, dass eine Beschwerde irgendetwas bewirken würde. Es würde alles nur noch mehr verzögern. Wir müssen herausfinden, was passiert ist, und dann können Sie nach vorn blicken. Wir haben vor, Oliver Sweetman einen Besuch abzustatten, heute noch. Wenn ich es richtig verstanden habe, hat er für Ihre Frau gearbeitet, weshalb ich davon ausgehe, dass dieses Arrangement nun beendet ist. Oder haben Sie vor, ihn weiterhin zu beschäftigen?«

»Ich habe versprochen, hier und da kleinere Aufgaben für ihn zu finden, und ich werde ihm weiterhin ein kleines Gehalt zahlen, aber das ist keine große Sache. Zum Glück lebt Ollie sehr bescheiden. Allerdings muss ich Sie warnen – Sie werden nicht viel Vernünftiges aus ihm herausbekommen. Der Unfall …«

»Ja, wir haben davon gehört. Können Sie uns Näheres erzählen?«

»Es muss jetzt sieben oder acht Jahre her sein. Ollie hat damals geholfen, hier in Mangrove House eine Skulptur aus poliertem Stahl abzuladen. Die Skulptur wurde mit einem kleinen Kran von der Ladefläche eines Lastwagens herabgelassen, als plötzlich ein Seil riss und die Palette mit der Fracht ins Schlenkern geriet. Sie hat ihn direkt an der Schläfe getroffen. Wir dachten, wir hätten ihn verloren, aber Ollie ist aus härterem Holz geschnitzt als die meisten. Er kam durch – wenngleich er sich deutlich verändert hat.«

»Auf welche Weise?«

»Wenn Sie Genaueres wissen möchten, sollten Sie besser mit einem Arzt darüber sprechen. Ich persönlich glaube, dass eine Gehirnverletzung gelegentlich gewisse Fähigkeiten freisetzen kann, trotzdem war das in meinen Augen ein Wunder.«

»Ein Wunder?«

»Ja, so würde ich es nennen. Zunächst einmal ist es bemerkenswert, dass er nicht auf der Stelle tot war. Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, fing ich an, verschiedene Verständnisprobleme bei ihm zu bemerken.«

»Verstehe … Aber warum ist das in Ihren Augen ein Wunder?«

»Nun, ich meine nicht die Verständnisprobleme. Als Ollie und ich uns damals eine Bude in Falmouth teilten, war er ein durchschnittlicher Student, um es freundlich auszudrücken. Ich nehme an, die Kunsthochschule hatte damals die Verpflichtung, eine bestimmte Anzahl einheimischer Studenten anzunehmen, und Ollie ist ein Junge aus Cornwall. Das Bemerkenswerte ist, dass er nach dem Unfall anfing, wahrhaft erstaunliche Dinge zu erschaffen – Möbel, Kinderspielzeug, Taubenschläge und Miniaturgebäude. Das war ihm zuvor nicht gelungen, also hielt ich es für eine göttliche Fügung, die den entsetzlichen Unfall mit der Skulptur quasi kompensierte.«

»Wurde die Verletzung von einer der Skulpturen in Ihrem Garten verursacht?«

»Das ist richtig. Eine Skulptur, die mich und Kristal … Die ein Paar beim Liebesakt zeigt.«

»Trägt das Werk den Titel Preconception 2?«

»Ja. Es ist eine Interpretation jener grauenhaften Studenten-Performance. Ich habe das Ding schon immer gehasst, aber Kristal setzte stets ihren Willen durch. Um ehrlich zu sein, denke ich, dass die Skulptur eine permanente Mahnung an uns alle sein sollte – an mich, Art und den bedauernswerten Ollie –, ihren Einfluss auf unser Leben betreffend. Und tatsächlich führte das Ding zu einer anhaltenden Schlacht. Nach dem Unfall ließ ich einen Zaun errichten und versuchte, Sträucher anzupflanzen, um es zu verstecken, aber Kristal wies Ollie an, die Zweige zurückzuschneiden. Was unfassbar grausam war in Anbetracht dessen, wie viel Leid es verursacht hat.«

»Wie hat Oliver auf ihren Tod reagiert?«

»Wie wir alle hat er noch nicht wirklich akzeptiert, dass sie nicht mehr da ist. Momentan wirkt er unglaublich gelassen, aber ich nehme an, früher oder später wird die Realität bei ihm einsickern. Er war Kristal voll und ganz ergeben.«

Am Ende des Gesprächs hatte Caine eine genaue Beschreibung von Paradise Park, wo Oliver Sweetman seit fünfzehn Jahren wohnte.

Er schien die Gegend zu kennen wie seine Westentasche, und er lenkte Shanti zielsicher durch die Blackdown Hills von Honiton. In etwas mehr als zwei Stunden erreichten sie den Stadtrand von Chard, und nachdem sie etwa eine Meile einer einspurigen Zufahrt gefolgt waren, erreichten sie den Ferienpark, an dessen Tor zwei prächtige Engel aus Treibholz Wache hielten.

Sie parkten vor der Rezeption, die in einem Blockhaus untergebracht war. Dort saß ein hagerer, ordnungsbeflissener Mann in Shorts, Sandalen und Khakihemd hinter einem Schreibtisch. »Willkommen in Paradise Park«, begrüßte er sie.

Er betrachtete mit großem Interesse Shantis Dienstausweis und strich sich über den sorgfältig getrimmten Bart.

»Wie bitte? Die Polizei? Wir hatten noch nie die Polizei hier.«

In der Tat sah Paradise Park nicht aus wie eine Hochburg für Bandenkriege. Am Waldrand gelegen, mit einer japanischen Brücke, die einen gurgelnden Bach überspannte, war das hier ein sorgfältig gepflegtes, untadeliges Fleckchen Erde mit akkuraten Reihen pastellfarbener Ferienhäuschen und den Wohnwagen der Dauercamper. Jede der Unterkünfte war mit einer schmalen, geteerten Einfahrt versehen und eingefasst von einem fröhlichen Blumengarten hinter einem Palisadenzaun. Überall auf dem Gelände turtelten Tauben miteinander, schnäbelten und gurrten.

»Wir sind nicht hier, um wegen eines Verbrechens zu ermitteln, Mr. …?«, erklärte Shanti.

Das Benehmen des Mannes war genauso untadelig wie sein Ferienpark. »Colin Leggit«, stellte er sich vor. »Besitzer von Paradise Park.«

»Mr. Leggit, wir sind hier, um uns mit Oliver Sweetman zu unterhalten.«

»Ah! Meine Frau hat schon vermutet, dass Sie mit Ollie reden möchten.« Leggit wirkte beinahe enttäuscht. »Er steckt aber nicht in Schwierigkeiten, oder? Doch nicht unser Ollie.«

»Warum geht Ihre Frau davon aus, dass wir ihn sprechen möchten?«, fragte Caine.

»Nun, Ollie kannte die Frau. Diese kranke Künstlerin, über die in der Zeitung berichtet wird.« Er tippte auf eine Ausgabe der Daily Mail.

 

WER HAT KRISTAL ERMORDET?

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Er schaute auf eine Uhr an der Holzwand. »Hm, das ist nicht gerade der ideale Zeitpunkt. Sie müssen wissen, dass Ollies Tag so präzise abläuft wie ein Uhrwerk. Jeden Morgen um acht Uhr fünfzehn füttert er seine Tauben, dann mäht er den Rasen und arbeitet anschließend bis um zwei an seinen Modellen. Sämtliche Figuren und Gebäude in Paradise Park hat Ollie mit seinen eigenen Händen erschaffen. Die Kinder lieben ihn, und viele Familien kommen Jahr für Jahr wieder, nur um zu sehen, was er in der Zwischenzeit gemacht hat. Im Gegenzug dafür gewähren wir ihm freie Logis. Er hat uns noch nie irgendwelchen Ärger gemacht.«

»Aber jetzt ist es doch schon nach zwei.«

»Zeit zum Minigolfspielen.«

»Okay … Vielleicht können wir mit ihm sprechen, während er spielt?«, überlegte Caine.

»Das können Sie versuchen. Am besten, Sie spielen selber. Das wird ihm gefallen.«

Leggit griff hinter den Schreibtisch und reichte jedem der beiden DIs einen Minigolfschläger und einen Ball. »Normalerweise kostet eine Runde drei Pfund, aber da Sie von der Polizei sind, mache ich Ihnen einen Sonderpreis von einem Pfund. Ist das fair? Folgen Sie dem Weg durch den Kinderspielbereich. Die Eisenbahn ist während dieser Saison wegen Maulwürfen unter den Schienen leider nicht in Betrieb. Der Minigolfplatz befindet sich am anderen Ende des Parks. Sie können ihn gar nicht verfehlen. Aber seien Sie bitte äußerst behutsam, Ollie ist sehr sensibel. Sie dürfen ihn nicht aufregen. Er hat gestern eine Stunde lang schluchzend hier drinnen gesessen, weil ihm ein Frosch unter den Rasenmäher geraten ist. Rufen Sie mich, sollte er weinerlich werden. Ich weiß, wie ich mit ihm umgehen muss.« Er drückte ihnen einen Prospekt des Ferienparks in die Hand. »Die Telefonnummer steht drauf.«

Die Minigolfschläger schwingend, machten sich Shanti und Caine auf den Weg, vorbei an einem Schild, auf dem Vorsicht, frei laufende Kinder! stand, und einem weiteren, das das Rauchen auf dem gesamten Gelände untersagte.

Überall im Ferienpark waren wunderschöne Rankgitter, handgeschnitzte Bänke und Tiere aus Treibholz verteilt. Sie kamen an einer hochschwangeren Mutter vorbei, die vor ihrem Wohnwagen Wäsche aufhängte und Caine ein breites Lächeln schenkte, außerdem an einem älteren Ehepaar, das auf zwei Plastikstühlen saß und sich von der Sonne bräunen ließ. Kinder rasten auf Dreirädern über die Wege und scheuchten die Tauben auf, die wild durcheinanderflatterten.

»Wenn die Kollegen aus Camden mich jetzt sehen könnten …« Shanti seufzte.

»Vermissen Sie London?«, fragte Caine.

»Ich habe London geliebt. London ist wunderschön, ein toleranter Schmelztiegel, und abgesehen von ein paar Verrückten, kommen alle hervorragend miteinander klar.«

»Es ist ein sehr teurer Schmelztiegel.«

»Das ist richtig. Für junge Leute mittlerweile unerschwinglich. Trotzdem – Paul und ich hatten dort eine großartige Zeit … Aber wie Sie ja wissen, ging die Sache nicht gut aus.«

»Wenn Sie darüber reden möchten …«

»Danke. Ich bin damals damit klargekommen, und jetzt komme ich ebenfalls damit klar.«

Sie hörten Kinder rufen und lachen. Ein Weg aus Holzschnitzeln führte in den Spielbereich, der mit genial konstruierten Geräten ausgestattet war – es gab Klettergerüste, Baumhäuser, ein Piratenschiff, ein Schloss, Schaukeln und Seilbrücken, wo sich Kinder aller Altersstufen austobten.

Nach einer Weile gelangten die zwei zu einer aufwendigen Minigolfanlage, die sich in alle Richtungen erstreckte – eine fantastische Miniaturstadt. Shanti und Caine entdeckten ganze Zeilen von kleinen Häusern, eine Kathedrale, einen Leuchtturm auf einem Felsen und einen Miniaturflughafen. In pfützengroßen Teichen lauerten reglose Flusspferde und Krokodile. Und auf der Spitze eines künstlichen Hügels, neben einem taillenhohen Feenschloss, stand der rothaarige Architekt dieses kunstvollen Fantasielands.

Auch ohne den eigenartigen Maßstab seiner Schöpfung war Oliver Sweetman ein strahlender Riese. In kurzärmeligem Hemd und cremefarbener Baumwollhose, über deren Bund sein Bauch schwappte wie eine Welle, beugte er sich über seinen Minigolfschläger und konzentrierte sich auf den kniffligen Schlag, den er auszuführen gedachte – eine gewundene Rampe hinunter zu einer Windmühle. Als er endlich abschlug, landete er einen perfekten Treffer, und der Ball rollte genau durch das Tor der Mühle.

Sweetman stieß triumphierend den Arm in die Luft, sein allgegenwärtiges Grinsen wurde noch breiter. »Guter Schlag!«, lobte er sich selbst mit einem leichten kornischen Akzent.

»Großartiger Schlag!«, rief Caine. »Dürfen wir uns zu Ihnen gesellen?«

Die grausame Beschreibung, die ihnen der Krabbenfischer aus Falmouth gegeben hatte, traf durchaus zu. Sweetmans Lippen waren voll und fleischig, seine Nase voller Sommersprossen, auf seinem kugelrunden Kopf prangte ein dickes Büschel flammend orangefarbener Haare.

»Nun, dann müssen Sie sich ganz schön sputen. Bevor meine Pause endet, muss ich es bis zum Eiffelturm schaffen, sonst bekommen meine Tauben kein Mittagessen.«

»Wir haben noch nie gespielt«, gab Shanti zu bedenken. »Vielleicht könnten Sie uns ein paar Tipps geben?«

»Sie haben noch nie gespielt?«, fragte Oliver ungläubig. »Nun, erst einmal müssen Sie lernen, wie man den Schläger richtig hält. Warten Sie, ich zeige es Ihnen …«

Er stellte sich hinter Shanti und legte ihre Hände vorsichtig auf den Schläger. Sie fühlte seinen weichen Körper in ihrem Rücken und seinen gleichmäßigen Atem in ihrem Nacken, aber sie spürte auch die nahezu kindliche Arglosigkeit des riesigen Mannes.

»Ich verrate Ihnen ein Geheimnis«, flüsterte er in ihr Haar. »Ich sage immer, nicht zu fest und nicht zu lasch. Aber das werden Sie bald selbst herausfinden.«

»Ich bin Shanti Joyce, und das ist mein Freund, Vincent Caine.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Shanti Joyce und Vincent Caine. In welchem Ferienhaus wohnen Sie? Oder haben Sie einen Wohnwagen? Meiner ist der blaue – Shangri-La, neben dem Taubenschlag.«

»Nein, wir machen hier keine Ferien«, sagte Shanti. »Wir sind gekommen, um Ihnen ein paar Fragen zu stellen, wenn das okay für Sie ist. Wir sind Detectives, Oliver, vom Präsidium in Yeovil. Wir möchten uns mit Ihnen über Kristal unterhalten. Sie war Ihre Freundin, nicht wahr?«

»Oh, Kristal geht es ausgezeichnet, danke der Nachfrage«, sagte Oliver. »Nicht zu fest und nicht zu lasch, das ist das Geheimnis.«

Caine und Shanti tauschten verwirrte Blicke aus.

»Wie meinen Sie das – Kristal geht es ausgezeichnet?«, hakte Shanti nach.

»Sie ist fit wie ein Turnschuh, auch wenn man sich nur schwer einen fitten oder unfitten Turnschuh vorstellen kann.« Er kicherte leise.

»Entschuldigen Sie, ich bin ein wenig verwirrt …«

Shanti holte aus, und zu ihrer Verblüffung rollte der Ball durch die Windmühlentür. Oliver war begeistert. »Genau so! Sie haben den Bogen raus, Shanti Joyce! Nicht zu fest und nicht zu lasch. Sie können von Glück sagen, dass heute kein Wind geht, denn wenn es windig ist, drehen sich die Flügel, und es ist doppelt so schwer, den Ball ins Loch zu kriegen.«

Caine kämpfte unterhalb des Hügels mit seinem Schläger. Nach mehreren Fehlschlägen verfing sich sein Ball in den Beinen einer Giraffe. Endlich hatte er ihn befreit und legte ihn weiter oben in der Nähe des Feenschlosses ab.

»Er mogelt! Ich hab’s gesehen!«, rief Sweetman.

»Vincent Caine!«, schimpfte Shanti. »Sie überraschen mich. Jetzt müssen Sie noch einmal von vorn anfangen.«

Shanti fand, dass sie ein Händchen für das Spiel hatte. Sweetman hatte recht – nicht zu fest und nicht zu lasch. »Wir haben uns Ihr Buch angesehen, Ollie. The Mother of Art …«

Er hielt inne und starrte in die Ferne, als suche er nach etwas aus einem anderen Leben. »Ich habe das Buch gemacht«, sagte er nach einer Weile.

»Das haben Sie. Sie haben sämtliche Fotos aufgenommen, und Sie haben geholfen, Kristals Ausstellung in der Meat Hook Gallery zu organisieren. Haben Sie die Stiefel auf den Deckel des Tanks gestellt?«

»Ja, ich hab sie da draufgestellt. Kristal meinte, das würde toll aussehen. Ich werde sie fragen, warum sie das dachte, wenn ich sie das nächste Mal sehe. Auf jeden Fall habe ich mich vergewissert, dass das Glas blitzsauber ist, damit sie nicht sauer wird.«

»Hätte sie sonst mit Ihnen geschimpft, Ollie?«

»Ach nein, sie gibt mir bloß einen kleinen Klaps auf die Hand, wenn die Dinge nicht so sind, wie sie sie haben will.«

»Ich wette, sie war ziemlich aufgeregt wegen der Ausstellung.«

»Kristal wird jedes Mal schrecklich nervös«, erwiderte er lachend. »Aber jetzt ist sie sehr viel glücklicher. Ständig erzählt sie mir, wie glücklich sie ist. Sie ist schlau und schön und lieb und glücklich.«

Shanti holte den Ball aus der Windmühle und setzte zum nächsten Schlag an. Der Ball flog auf die Brücke zu, doch er landete im Wasser, wo eine Koi-Karpfen-Familie halbherzig die Flucht ergriff. »Mist!«, rief sie.

»Zu fest«, sagte Oliver. »Sie haben zu fest geschlagen.«

Caine wusste, dass es nicht der vermasselte Schlag war, der Shanti frustrierte. Das Gespräch brachte sie nicht weiter. Callum Oak hatte recht: Dieser muntere erwachsene Junge akzeptierte nicht mal ansatzweise, dass sein geliebtes Idol tot war. Das war traurig, aber es war nicht ihre Aufgabe, diese verwirrende Situation aufzulösen.

Oliver legte sich seinen Minigolfschläger über die Schulter und schüttelte ihnen die Hände.

»Nett, Sie kennengelernt zu haben, Shanti Joyce und Vincent Caine. Sehen Sie die Uhr an der Kathedrale? Sie ist echt. Ich habe sie gebaut. Ich muss jetzt los. Denken Sie dran, die Schläger an der Rezeption abzugeben, wenn Sie fertig sind? Manche Gäste lassen die Dinger überall rumliegen, und immer ist es Ollie, der sie aufräumen muss.«

Sie sahen ihm nach, wie er den Weg entlangschlenderte, Urlaubern winkte und kleinen Kindern den Kopf tätschelte. Tauben landeten auf seinen breiten Schultern und dem flammend roten Schopf.

»Sie waren grottenschlecht, Caine«, sagte Shanti. »Selbst ein Fünfjähriger hätte Sie schlagen können.«

 

Zurück im Saab hakte Caine die Verdächtigen in seinem Notizbuch ab.

»Okay, wir haben mit Art Havfruen, dem Jungen namens Art, gesprochen. Er hatte definitiv Probleme mit seiner Mutter und eine Vorliebe für Drogen, eine davon hat man in ihrem Blut nachweisen können.«

»Ich setze nach wie vor auf ihn«, sagte Shanti.

»Sie sind voreingenommen, was ihn anbetrifft, und das hilft uns nicht weiter. Na schön, kommen wir zu Callum Oak, dem Ehemann. Ihm sind die Unzulänglichkeiten seiner Frau bewusst, trotzdem erweist er sich ihr gegenüber als absolut loyal. Dann haben wir noch Marlene Moss, die todkranke ehemalige Dozentin. Sie hätte jedes Recht, einen Groll auf Kristal zu hegen, aber das tut sie nicht. Und zu guter Letzt ist da der bedauernswerte Ollie Sweetman, der zu glauben scheint, Kristal würde immer noch leben.«

»Er verfügt über die nötige körperliche Kraft, Kristal in den Tank zu verfrachten, allerdings …«

»Ich weiß, was Sie meinen. Ich habe noch nie einen argloseren Mann gesehen als ihn. Außerdem bin ich mir sicher, dass er nach dem Unfall nicht in der Lage war, ein derart ausgeklügeltes Verbrechen zu planen.«

»Da könnten Sie sich täuschen, Caine. Ich meine, Sweetman hat all dieses verrückte Zeug gebaut – die Windmühle, den Uhrenturm, das Piratenschiff … Ich halte ihn für ausgesprochen intelligent.«

»Die Intelligenz liegt allein in seinen Händen«, widersprach Caine. »Und er hat Kristal vergöttert. Warum hätte er sie verletzen sollen? Außerdem ist er viel zu emotional. Er könnte es nicht verbergen, wenn er eine Tat wie diese begangen hätte.«

»Vielen Dank für nichts, Caine. Ich habe drei Tage damit verbracht, Ihre Chauffeuse zu spielen, und wir stehen genau da, wo wir angefangen haben. Aber keine Sorge, es gibt ja noch hundertfünfundneunzig weitere Zeugen, die wir befragen müssen. Und jetzt möchten Sie wahrscheinlich, dass ich Sie zurück nach Lyme kutschiere. Sehr gern – es ist für mich ja bloß ein Umweg von einer Stunde.«

Shanti sehnte sich danach, Paul wiederzusehen. Sie warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett. Wenn sie ordentlich Gas gab, könnte sie es gerade noch schaffen, ihn rechtzeitig von der Schule abzuholen.

Sie setzte Caine neben dem Kino in der High Street ab und versprach, sich bei ihm zu melden, sollte sie noch einmal seine Hilfe benötigen.

Die Situation war absurd. Wie konnte sie mit einem Partner zusammenarbeiten, der nicht selbst Auto fahren wollte? Als sie an Lambert’s Castle vorbei über die kurvenreiche, durch dichtes Waldgebiet führende Straße nach Yeovil fuhr, dachte sie an all die Stunden, die sie hinter dem Lenkrad verschwendet hatte, und überlegte, ob sie Caine still und heimlich von dem Fall abziehen und allein weitermachen sollte. Was hatte es gebracht, ihre Fertigkeiten zu kombinieren? Die legendären ermittlerischen Fähigkeiten oder der intuitive Zugang zu einem Fall, die Benno so beeindruckt hatten, hatten sich ihr bislang nicht erschlossen.

Und trotzdem hatte Caine etwas Faszinierendes an sich. Sie stellte sich vor, wie er mit übereinandergeschlagenen Beinen meditierte, rief sich die subtile Art und Weise ins Gedächtnis, mit der er seine Fragen stellte; sein Fachwissen in so verschiedenen, nicht eben alltäglichen Bereichen wie Kunst oder Natur.

Zum ersten Mal seit Paul mit der Schule angefangen hatte, gelang es ihr, eine freie Parklücke zu ergattern. Sie entdeckte ihre Mum, die plaudernd mit einer Gruppe von Eltern auf dem Spielplatz zusammenstand, und wollte sich gerade dazugesellen, als ihr Handy klingelte.

»Hallo, Benno. Ich habe zwei grauenhafte Tage hinter mir, daher hoffe ich, du hast gute Nachrichten für mich.«

»Das musst du selbst beurteilen, Chefin.«

Shanti hörte einen Anflug von Begeisterung in seiner Stimme. Hoffnung stieg in ihr auf. »Was hast du für mich?«

»Nun, der Leichnam wurde zur Beerdigung freigegeben, was die Familie erleichtern wird. Der endgültige Obduktionsbefund birgt keine großen Überraschungen. Wie Dawn von Anfang an vermutet hat, kann der Todeszeitpunkt nicht exakt bestimmt werden, weil Formaldehyd den Verwesungsprozess verlangsamt. Jedes Organ ist von dem Zeug durchsetzt. Wir können lediglich mit Bestimmtheit sagen, dass wir nach wie vor über ein Opfer reden, dem eine gewaltige Menge Ketamin verabreicht und das anschließend in einem mit Formaldehyd gefüllten Tank ertränkt wurde.«

»Richtig …«

»Allerdings ist da noch eine Information, die du vielleicht interessant findest. Wir haben das Testament einsehen können, und rate mal, wer gerade eben Anteile im Wert von mehreren Millionen von der Rasmussen Holding geerbt hat?«

»Art Havfruen?«

»Falsch. Der Ehemann, Callum Oak.«

»Mein Gott!«

Das warf ein völlig neues Licht auf das Ganze.

»Ich brauche einen Durchsuchungsbeschluss für Mangrove House.«

»Ich bin dran, Chefin.«

»Außerdem hab ich ein paar neue Fragen an unseren trauernden Witwer.«

Das Jungenhafte. Die englische Reserviertheit. Das lockige Haar. Das ganze schwermütige Kirchengedöns. Shanti verstand nicht viel von Kunst, aber selbst sie erkannte, dass in den Worten, die Callum Oak auf seine Gemälde gekritzelt hatte, etwas zutiefst Verstörendes lag. Kristal hatte ihn ihr ganzes Leben lang gedemütigt und gequält, und der bizarre Mord war womöglich seine Rache. Der Fall war seltsam, aber das Motiv war nicht ungewöhnlich – ein altmodisches männliches Ego, frustriert von einer starken Frau.

Die Kinder kamen aus der Schule, die Hemden aus den Hosen hängend, die Schulranzen hin- und herschwingend, die Knöpfe falsch zugeknöpft. Als Shanti Pauls Gesicht mit den Apfelbäckchen entdeckte, machte ihr Herz einen Satz. Sie hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft, sich von der Polizistin in die Mutter zurückzuverwandeln.

Und noch bevor die Woche zu Ende ging, würde sie den Mörder schnappen.