Kapitel dreizehn
Das kleine Dörfchen Branscombe schmiegte sich wie ein verborgener Smaragd an die Küste von Devon, doch zwei Faktoren hielten Shanti davon ab, seinen zeitlosen Charme zu würdigen: Erstens war das gesamte Tal erfüllt von dichtem Seenebel, als hätte Kristal höchstselbst einen Abgang geplant, der genauso melodramatisch war wie ihr Leben. Zweitens fühlte sich Shanti genauso vernebelt wie das Tal, nur dass es sich bei ihr um einen Nebel des Trübsinns und der Verwirrung handelte.
Eine Cola light in der Hand, saß sie unter einem Strohsonnenschirm vor dem Mason’s Arms und wartete auf Caine. Sie hatte sich so gekleidet, wie sie es dem Anlass entsprechend für angemessen hielt, weshalb sie nun einen dunklen Mantel und ein seidig glänzendes schwarzes Kleid trug. Als sie es gekauft hatte, hatte sie es wunderschön gefunden. Nun musste es im Rücken von einer Sicherheitsnadel zusammengehalten werden, weil der Reißverschluss nicht mehr schloss.
Auf dem Weg zur Bar hatte sie feststellen müssen, dass sich die dicht gedrängte Menge der Trauergäste für einen anderen Kleidungsstil entschieden hatte. Das Mason’s Arms erinnerte an eine prächtige Couture-Show, das vorherrschende Thema war Rot-Weiß. Der Lärm war unerträglich, deshalb hatte Shanti ihr Getränk und zwei Tüten Chips mit Käse-Zwiebel-Geschmack mit nach draußen an die frische Luft genommen.
Vor ihr waberte der Nebel durch die Dorfstraße, als wäre das Mason’s Arms ein Geisterschiff, das durch die Wellen glitt.
Shanti stieß mit ihrem Trinkhalm eine Zitronenscheibe an und überlegte, wie naiv sie zu Beginn der Ermittlungen gewesen war. Sie hatte gedacht, der Fall würde sich leicht lösen lassen. Jetzt hielt das Rätsel der in Fötushaltung durch den Formaldehydtank treibenden Performancekünstlerin sie nachts vom Schlafen ab und ließ sie auch tagsüber nicht los. Ihre finsterste Sorge war die, dass ihr der Mörder durch die Lappen gehen könnte und sie für einen weiteren vermasselten Fall verantwortlich sein würde. Selbst jetzt spürte sie noch die Scham und war sich der Schande bewusst, die fast fünfzehn Jahre herausragender Leistungen zunichtegemacht hatte. In Wirklichkeit hatte nicht mehr dahintergesteckt als eine Reihe kleiner Fehler, die ihr unterlaufen waren, weil sie von der Scheidung erschöpft war und verzweifelt versuchte, als alleinerziehende Mutter zurechtzukommen. Nichtsdestotrotz hatte mangelnde Detailgenauigkeit der Verteidigung die Gelegenheit gegeben, Lücken in ihrer Beweisführung aufzuzeigen, weshalb ein großer Fisch der Nordlondoner Drogenszene freigesprochen wurde. Shanti würde nie das unverfrorene Grinsen vergessen, das der Bastard ihr beim Verlassen des Gerichtssaals zugeworfen hatte. Sie durfte schlicht und einfach nicht zulassen, dass so etwas noch einmal vorkam. Das Ganze war zu deprimierend, um es in Worte zu fassen.
Caine ließ sich immer noch nicht blicken, doch vor dem Mason’s Arms hielten immer mehr Fahrzeuge, aus denen rot-weiß gekleidete Trauergäste ausstiegen, manche auf klackernden hohen Absätzen, andere in den unvermeidbaren roten Dr.-Martens-Stiefeln. Neben den allgegenwärtigen Journalisten und Fotografen hatte Shanti einige bekannte Personen im Pub entdeckt, Saul Spencer zum Beispiel, spitz und schmal wie ein Bleistift, oder den riesigen Oliver Sweetman, der unter den schwarzen Deckenbalken munter sein Bier trank. Jetzt hielt ein Taxi am Bordstein, aus dem eine beeindruckende Gruppe unerhört gesund aussehender Indoeuropäer stieg – Kristals Familie aus Kopenhagen, nahm sie an.
Doch ihre gedrückte Stimmung war mehr als Schlafmangel oder dem schwierigen Fall geschuldet. Shanti machte sich zunehmend Sorgen um Paul. Was Shanti anbetraf, so war ihr Sohn noch immer ein Kind, das dieselben Bilderbücher liebte wie damals, als er klein gewesen war, doch Ms. Kahn, die Direktorin seiner neuen Schule, hatte sie beiseitegenommen und sich erkundigt, ob es zu Hause noch immer Probleme gebe. Anscheinend hatte sich Paul seiner Lehrerin gegenüber mehr als einmal grob unhöflich verhalten; außerdem fanden einige Ausdrucksweisen, die er aus London mitgebracht hatte, bei seinen neuen Klassenkameraden keinen großen Anklang.
Gestern Abend hatte Shanti das Thema zur Sprache gebracht, was bei Paul zu Trotzanfällen und Geschluchze geführt hatte. Und zu wilden Versprechungen ihrerseits, mehr Zeit mit ihm zu verbringen, bis er, noch immer weinend, an ihrer Brust eingedämmert war, nicht ohne zuvor eine herzzerreißende Liste mit ihren Verfehlungen aufzuzählen: »Du bist ständig am Arbeiten; du bist nie zu Hause, wenn ich aus der Schule komme; du bist immer gestresst; du hast versprochen, etwas mit mir zu unternehmen …«
Shantis Mutter gab ihr Bestes, aber sie wussten beide, worin das eigentliche Problem bestand: Der Junge vermisste seinen Vater, und er machte seine Mutter für den Umzug verantwortlich, wegen dem er all seine alten Freunde in London hatte zurücklassen müssen.
Detective und alleinerziehende Mutter zu sein – das war, als versuche man sich an der Quadratur des Kreises. Aber sie durfte diese Beerdigung einfach nicht verpassen.
»Sie sehen ein wenig niedergeschlagen aus«, stellte Caine fest und zog einen Stuhl unter den Strohschirm neben ihr. »Darf ich Ihnen noch etwas zu trinken holen?«
»Ich bin nur müde, Caine.«
»Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich das sage: Ich habe Sie noch nie zuvor in einem Kleid gesehen. Sie sehen absolut umwerfend aus.«
Sie sah ihn prüfend an. Wollte er sie anmachen oder auf den Arm nehmen? Caine aber wirkte vollkommen arglos.
»Tja, eine Beerdigung ist anscheinend die einzige Gelegenheit, mich aufzustylen.«
Zumindest hatte Caine sich Mühe gegeben, sich angemessen zu kleiden. Nichts Übertriebenes – enge, schwarze Jeans, ein schmaler Gürtel und ein fleckenloses weißes Hemd, das in starkem Kontrast zu seinen dunklen Locken stand. Als er sein Glas auf dem Tisch abstellte, bemerkte Shanti, wie sich ein Dutzend weibliche Augenpaare in seine Richtung drehten.
»Was trinken Sie, Caine? Ich dachte, Buddhisten dürften keine Rauschmittel zu sich nehmen.«
»Cider aus der Region. Probieren Sie ein Glas. Er schmeckt köstlich. Übrigens – ich denke, Buddhisten dürfen alles tun, was sie glücklich macht. Es gibt da etwas, was man den ›Mittleren Weg‹ nennt. Im Buddhismus, so müssen Sie wissen …«
»Schon gut, Caine. Haben Sie Art und Callum gesehen?«
»Ich nehme an, die nahen Angehörigen treffen separat ein?«
»Vermutlich. Was ist mit Marlene Moss?«
»Zu weit für das alte Mädchen, denke ich. Außerdem stand sie Kristal nicht sonderlich nahe. Callum und Oliver waren ihre Studenten, nicht Ms. Havfruen.«
»Ja, das hat sie gesagt, ich erinnere mich … Wie dem auch sei, der Gottesdienst findet um vierzehn Uhr in St. Winifred statt, ein kleines Stück die Straße hinauf, gefolgt von einer Totenwache in Mangrove House. Ich werde draußen bleiben, um eine mögliche Konfrontation zu vermeiden, daher müssen Sie an meiner Stelle Augen und Ohren aufsperren. Ist das okay?«
»Das tue ich doch gern.«
»Mir ist aufgefallen, dass die Menschen bei Ereignissen wie Hochzeiten oder Beerdigungen oft unachtsam werden und weit mehr von sich preisgeben, als ihnen im Nachhinein lieb ist. Daher besteht durchaus die Chance, dass irgendwer eine Bemerkung fallen lässt, die für unsere Ermittlungen von Bedeutung sein könnte.«
»Ich werde darauf achten, Shanti.«
Ihr Gespräch wurde von einem unzeitgemäßen Geräusch unterbrochen – dem hohlen Klipp-Klapp von Hufen auf Asphalt und dem Wiehern von Pferden. Shanti kniff die Augen leicht zusammen und sah zu ihrer Verblüffung vier weiße Pferde aus dem Nebel auftauchen. Aus ihren Nüstern stieg dampfender Atem auf, die gesenkten Köpfe waren mit roten und weißen Federn geschmückt. Sie kamen direkt vor ihnen zum Stehen, sodass Shanti und Caine die weiße, glänzende Kutsche sehen konnten, die die Pferde zogen.
Shanti hatte ab und an ein Begräbnis mit Pferdekutsche im East End gesehen – vor allem Gangster der alten Schule standen darauf –, aber das hier war anders.
Es handelte sich um eine Bestattungskutsche, wie man sie bei royalen Beerdigungen sah, versehen mit Girlanden aus weißen und roten Rosen. Zwei Bestatter saßen steif und mit unbewegten Gesichtern auf dem Kutschbock, lange Peitschen in den behandschuhten Händen, schwarze Zylinder auf den Köpfen.
Die Gäste an den anderen Tischen waren aufgestanden, und sofort öffneten sich die Pub-Türen, und eine Meute von Medienfuzzis strömte heraus, filmend und mit Hochgeschwindigkeit in ihre Handys plappernd.
Jetzt bemerkte Shanti auch den Sarg, der auf der flachen Kutsche lag, und noch ehe sie begriff, was sie da eigentlich sah, setzte ihr Magen zu einer Reihe von Übelkeit erregenden Turnübungen an.
Neben Shanti stand ein Mädchen im Teenageralter, das mit weit aufgerissenen Augen nach Luft schnappte und aufgeregt hervorstieß: »Das ist das Schönste, was ich je gesehen habe!«
»Das ist abscheulich!«, schimpfte ein älterer Herr hinter ihr.
»O Kristal!«, sagte Caine leise. »Du gibst wohl nie Ruhe.«
Shanti starrte ungläubig auf das, was sie da vor sich sah. Der Sarg bestand komplett aus Glas. Darin lag, für alle Welt sichtbar, der perfekt konservierte, in weiße Spitze gekleidete Leichnam von Kristal Havfruen. Ihre tadellos manikürten Hände drückten eine einzelne rote Rose gegen ihren schlanken Körper. Ihr Gesicht war stark mit einer cremigen Foundation geschminkt, der Mund verschmiert mit blutrotem Lippenstift. Auf dem Sargdeckel thronte dreist ein Paar kirschroter Dr.-Martens-Stiefel.
»Wie Schneewittchen …«, seufzte die Teenagerin.
Als die Kameraleute, Reporter und Trauergäste nach vorn drängten, spürte Shanti, wie eine Welle der Übelkeit in ihr aufstieg – nicht genug Schlaf, schlechte Ernährung, zu viel Stress und ein Übermaß an Verrücktheit. Sie war erleichtert, als Caine sie am Arm fasste und sanft aus dem Gedränge führte, gerade als sich der Trauerzug, angeführt von Callum Oak und Art Havfruen, in Bewegung setzte und der langsam rollenden Kutsche mit ihrer unheimlichen Fracht folgte.
Die Räder ächzten und stöhnten, die Hufe der Pferde klapperten wie Trommelwirbel, als die Prozession durch die enge Straße zog, vorbei an staunenden Dorfbewohnern und Urlaubern, denen der Mund offen stand vor Verwunderung.
Sie kamen am Rathaus vorbei, an Cottages aus Stein, die mit Blumenampeln geschmückt waren, an einem Teeladen sowie an einer Schmiede, die aussah wie aus einem anderen Jahrhundert. Der Schmied in seiner Lederschürze hielt bei der Arbeit inne und nahm die Kappe ab, um dem makaberen Zug nachzuschauen.
Vorne, gleich am Anfang der Prozession, fand offenbar eine Auseinandersetzung zwischen Callum Oak und der Vikarin von Branscombe statt, die gerade eingetroffen war.
Shanti beeilte sich, zu ihnen aufzuschließen, damit ihr ja kein Wort entging.
»Das verstößt gegen sämtliche Regeln«, protestierte die Vikarin. »Es tut mir leid, Callum, aber Sie haben mir nichts davon gesagt. Ich werde mich an die Kirchenbehörde wenden müssen. Was die Särge betrifft, gibt es strikte Vorschriften. Einen Sarg wie diesen habe ich noch nie gesehen.«
»Sie glauben doch nicht, ich hätte etwas davon gewusst!«, jammerte Oak. »Sie sollten sich lieber an meinen Sohn wenden … Wo ist er eigentlich? Art!«
»Ja? Gibt es ein Problem?« Art tänzelte in seinen spitzen Stiefeletten auf sie zu wie ein Boxer. »Lassen Sie uns doch einfach in Ruhe, verdammt noch mal! In einer halben Stunde ist sie unter der Erde, und dann kümmert es kein Schwein, woraus der Sarg gemacht ist!«
Seine wilden Gesten und die stark geweiteten Pupillen legten die Vermutung nahe, dass seine Stimmung eher chemischen Substanzen denn dem Cider geschuldet war.
Die Vikarin war so überrascht von seinem aggressiven Ausbruch, dass sie wie angewurzelt stehen blieb, was augenblicklich zu einem Stau führte. Schließlich drängte einer der ernst dreinblickenden Dänen nach vorn und versuchte, die Lage mit seinem akkuraten, diplomatischen Englisch zu beruhigen.
»Bitte verzeihen Sie Art – er befindet sich wie wir alle in einem Schockzustand. Im Namen von Kristals Familie möchte ich mich für das Versehen mit dem Sarg entschuldigen, aber könnten wir die Zeremonie bitte fortsetzen und die Details der Beerdigung zu einem späteren Zeitpunkt diskutieren?«
Am Stadtrand kam die Prozession zum Stehen, und Shanti sah den alten Turm der St.-Winifred-Kirche, Oaks Gemeinde, aus dem Nebel herausragen.
»Gilt so etwas in Ihrem Teil der Welt als normal?«, erkundigte sie sich bei Caine. Sie nickte in Richtung der Bestattungskutsche, wo ein Bestatter gerade die Pferde beruhigte.
Der Glassarg wurde vorsichtig auf die Schultern der Sargträger gehoben – Callum Oak, der Witwer mit dem versteinerten Gesicht; Oliver Sweetman, der sanfte, sommersprossige Riese, und die kräftigen Skandinavier. Als sie bereit waren, setzte sich Art Havfruen in Bewegung und ging ihnen mit bleichem Gesicht voran, die roten Stiefel in der Hand.
Blitzlichter explodierten, als der Sarg den steilen Weg entlang zur Kirche getragen wurde. Oak hielt sich an Sweetmans Schulter fest und bemühte sich, seine überbordenden Emotionen in Schach zu halten. Shanti und Caine ließen sich ein Stück zurückfallen, als sie dem Zug unter urzeitlichen Ulmen hindurch über den Friedhof folgten, wo alte Grabsteine aus dem Erdboden ragten wie abgebrochene Zähne aus dem Weltenschlund.
Als die Trauergäste in das kühle Innere der Kirche strömten, verharrten Shanti und Caine unter dem Säulendach vor dem weit geöffneten Portal. Zum zweiten Mal an diesem Nachmittag rebellierte Shantis Magen. Im Kirchenschiff wurden die Trauernden von einem flimmernden Hologramm von der Größe eines Kindes begrüßt. Es war das perfekte dreidimensionale Abbild der Künstlerin. Die Hologramm-Kristal hatte die Arme weit ausgebreitet, ihre Augen blitzten, und aus ihrem mit blutrotem Lippenstift verschmierten Mund drang eine helle, kindliche Stimme, die immer wieder sagte: »Ich werde euch niemals verlassen! Ich bin für immer bei euch!«
Ausnahmsweise war Shanti froh, als sie Caines warme Hand auf ihrer spürte. Er flüsterte ihr zu, dass er nach dem Gottesdienst nach ihr Ausschau halten werde, und betrat die überfüllte Kirche. Kurz darauf wurde die Tür hinter ihm geschlossen.
Plötzlich allein, schlenderte Shanti über den nebeligen Friedhof und beäugte die finster dreinblickenden Wasserspeier und die verwitterten Abbilder mittelalterlicher Totenschädel auf den Grabsteinen. Eine Krähenfamilie flatterte über die Gräber wie nächtliche Chimären. Sie schaute zu den kaleidoskopischen Kirchenfenstern auf. Gelegentlich drangen Orgelmusik oder gemurmelte Gebetsfragmente zu ihr heraus, und dann umgab sie wieder nichts als Stille, umfing sie wie der feine Niesel in der Luft.
Am anderen Ende des Friedhofs standen zwei Gestalten an einem offenen Grab – dem Anschein nach ein Vermesser mit Sextant und ein Totengräber. Shanti schlenderte unbemerkt in ihre Richtung und bekam das scherzhafte Gespräch der beiden mit – Galgenhumor, den der tägliche Umgang mit Toten wohl mit sich brachte.
»Die Vikarin sagte, sie werden sich verspäten, weil sie erst noch herausfinden muss, ob es erlaubt ist, einen Glassarg zu beerdigen.«
»Hast du das Ding in der Kirche gesehen? Das Hologramm? Ich werde euch niemals verlassen! Ich bin für immer bei euch! Da wird einem ganz anders.«
»Das kannst du laut sagen! Haha!«
»Was ist so komisch daran?«
»Sie hatte recht!«
»Wer hatte recht?«
»Kristal.«
»Wie meinst du das?«
»Sie wird tatsächlich für immer bei uns sein, formaldehydgetränkt, wie sie ist. Sauber eingemacht. Grab den Glassarg in zehn Jahren wieder aus, und ich wette zehn zu eins, dass sie keinen Tag gealtert sein wird.«
»Für immer jung, könnte man sagen, Daniel. Für immer jung.«
Sie zogen kichernd weiter.
All die Toten, im ewigen Schlaf. Die Totenschädel, Cherubim und Stundengläser, eingemeißelt in die efeuberankten Grabsteine. Die tröstlichen Plattitüden – innig geliebt … aus dem Leben gerissen … in Frieden ruhend. Die Mütter, die Väter, die Totgeburten.
Shanti wurde von einer Bewegung weiter unten auf dem Friedhof aus ihrem Tagtraum gerissen. Jemand saß auf einer Mauer und ließ die Beine baumeln. Shanti bummelte einen Ascheweg zwischen toten Blumen und rostenden Rasenmähern entlang. Als sie sich der sitzenden Gestalt näherte, spürte sie plötzlich, wie ihr Mund trocken wurde. Nein, das war eine Täuschung, mit Sicherheit! Shanti kniff fest die Augen zusammen, doch als sie sie wieder öffnete, war die Gestalt immer noch da, saß auf der Steinmauer und schwang die Beine in den kirschroten Stiefeln hin und her.
Es handelte sich um eine zierliche, blonde, aschfahle Frau in einem kurzen weißen Spitzenkleid. Der blutrote Lippenstift war verschmiert. O nein, ein weiteres Hologramm, natürlich … etwas anderes war gar nicht möglich! Oder eine von diesen verfluchten Puppen, die so lebensecht aussahen … oder vielmehr todesecht – ja, das war das richtige Wort.
Shanti schüttelte den Kopf. Was für ein Tag! Seit der katastrophalen Woche, in der ihre Scheidung über die Bühne gegangen war und sie ihren Fall vermasselt hatte, waren ihre Nerven nicht mehr derart ramponiert gewesen.
Die Frau auf der Mauer hob eine blasse Hand und fuhr sich mit den Fingern durch ihr blondes Haar.
Ich werde verrückt, stellte Shanti mit plötzlicher Gewissheit fest. Ich drehe tatsächlich durch. Ich bin an einem Punkt angekommen, an dem ich den Unterschied zwischen Illusion und Realität nicht mehr erkenne. Und wenn dieser Punkt einmal erreicht ist, dann geht nichts mehr.
Aber sie war kein Feigling. Sie zwang ihre bleiernen Glieder, sie näher an die Frau heranzutragen, den Pfad entlang zwischen hohen Gräsern und zerbrochenen Blumentöpfen hindurch, vorbei an einem baufälligen Schuppen am Hang. Hinter ihr tönten die gedämpften Worte von Blakes Jerusalem aus der Kirche:
Und schritten jene Füße einst
auf Englands grünen Bergeshöhn?
Shantis Großmutter hatte an Geister geglaubt, die in ihren Kanus durch die Kanäle des Hinterlands von Kerala ruderten. Von jeher logisch, stets zynisch, hatte Shanti sie verspottet, und zwar schon als Kind. Doch jetzt, als sie sich dieser Erscheinung näherte, hämmerte ihr Herz wie ein Schmiedehammer.
Angestrengt versuchte sie, genügend Spucke für ein einziges Wort zusammenzubekommen: »Hallo.«
Die Frau kicherte leise und rutschte von der Mauer zu Boden.
»Keine Angst«, sagte Shanti mehr zu sich selbst als zu irgendwem sonst. Inzwischen raste nicht mehr nur ihr Herz – ihre gesamte Blutbahn schien zu einer gewaltigen Flutwelle anzuschwellen.
Die Gestalt drehte sich um sich selbst und verschwand tänzelnd im Nebel. Shanti trug die falschen Schuhe, trotzdem nahm sie die Verfolgung auf, einen schmalen Pfad entlang und über einen Zauntritt. Hier, weiter unten im Tal, war der Nebel so dicht, dass von der Frau nichts zu sehen war – abgesehen von den Schuhen. Die blutroten Stiefel hoben und senkten sich wie Kolben im nassen Gras, als sie hügelabwärts Richtung Fluss liefen, über dem eine dichte Wolke schwebte wie ein Flussgeist.
Am liebsten wäre Shanti in die entgegengesetzte Richtung gerannt, zurück zur Kirche, hätte sich die Lunge aus dem Leib geschrien und wäre durch die mit Eisennieten beschlagene Holztür gestürmt, dorthin, wo Caine saß – der warmblütige, warmherzige Buddhist, der voller Respekt einer christlichen Zeremonie beiwohnte.
Doch das Phantom trippelte leichtfüßig über eine Holzbrücke auf die andere Seite des Flusses, wo das Gelände steil anstieg. Shanti sah rote Blitze, die die steilen, in den Hang geschlagenen Stufen hinaufschossen.
Als sie auf die Brücke lief, verfing sich ihr Kleid an einem Nagel, und zu ihrem Entsetzen hörte sie, wie der Stoff riss. Sie zog ihre Schuhe aus, spürte, wie die Nässe des aufgeweichten Bodens durch ihre Strümpfe drang, und sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, den Hang hinauf. Doch sie verlor den Halt und stürzte auf den schlammigen Untergrund. Ein Feuerstein schnitt ihr in die Hand. Shanti schrie auf.
»Ich will doch bloß mit Ihnen reden!«, rief sie. »Bitte … warten Sie auf mich!«
Doch die blutroten Stiefel rannten weiter hangaufwärts, bis sie schließlich im Labyrinth des Waldes verschwanden.
Blutverschmiert gab Shanti sich geschlagen, zog ihre Schuhe an und humpelte zurück über die Brücke. Atemlos hievte sie sich über den Zauntritt und kehrte auf den Friedhof zurück. Im selben Moment ertönten die letzten Orgelklänge, die die Trauernden in die feuchte Abendluft entließen.
Shanti Joyce versteckte sich hinter einer traurig aussehenden schwarz-grünen Eibe. Weil sie einfach grauenhaft aussah. Weil ihr die Tränen übers Gesicht strömten. Weil ihr Kleid zerrissen war. Weil sie Matsch und Blut an den Händen hatte. Weil sie den Ruf hatte, eine zuverlässige, geistig gesunde Polizistin zu sein, die sämtliche Ermittlungsmöglichkeiten ausschöpfte und jeden Fall knackte.
Doch anstatt irgendetwas auszuschöpfen, war sie erschöpft.
Und anstatt den Fall zu knacken, wurde sie langsam, aber sicher selbst beknackt.