Kapitel fünfzehn
Ich denke, Art hatte recht«, sagte Saul Spencer.
Es war der Montag nach der Beerdigung, und Shanti und Caine saßen im Büro des Kurators vor etwas, das als Schreibtisch durchgehen mochte, in Wirklichkeit aber eine große Platte aus gehärtetem Glas auf zwei Böcken war. Darauf stand ein MacBook, mehrere ordentliche Papierstapel waren auf der Oberfläche verteilt.
»Womit?«, fragte Caine.
»Er hat Sie bezichtigt, Polizist zu sein – etwas, was Sie nicht erwähnt haben, als ich Sie nach der Beerdigung in meinem Wagen mitgenommen habe. Wenn ich mich nicht täusche, haben Sie uns erzählt, Sie seien ein Freund von Callum Oak.«
»Beides ist richtig, doch soweit ich mich erinnere, war das nicht das Einzige, was er mir vorgeworfen hat …«
»Ich kenne Art schon lange, Detective Inspector Caine … das sind Sie doch, oder? Detective Inspector. Art und ich waren zusammen auf der Schule. Er ist ein liebenswerter, verwirrter, törichter Mann. Doch gleichzeitig ist er ungemein kreativ und ein ausgesprochen cleverer Werbefachmann, dessen Job es ist, die Aufmerksamkeit der Menschen zu gewinnen und sie mit x-beliebigen Aussagen dazu zu bringen, Dinge zu kaufen, die sie in Wirklichkeit gar nicht benötigen. Er liebt es zu schockieren, so einfach ist das.«
Shanti starrte den spinnenartigen Mann in dem roten Anzug an. Wenn sie sich nicht täuschte, wirkte der Kurator nervös. Über seinem dünnen Schnurrbart bildeten sich kleine Schweißperlen.
»Nichtsdestotrotz«, sagte sie, »erscheint es mir sehr seltsam, einen Freund zu beschuldigen, in den Tod seiner Mutter verstrickt zu sein. Warum sollte er das tun?«
»Ich würde sagen, das ist ein Geheimnis zwischen Art und ein paar Lines. Hören Sie, es ist nicht meine Absicht, Ihren Fragen auszuweichen, aber ich lechze nach einem Kaffee. Warum gehen wir nicht ins Restaurant hinüber? Sobald ich einen Latte macchiato und ein Croissant vor mir stehen habe, können Sie mich alles fragen, was Sie wollen.«
Die beiden Detectives folgten ihm über den Hof, und Shanti stach sein spezieller Gang ins Auge – er lief wie eine Marionette, deren Fäden von einem betrunkenen Puppenspieler gezogen werden.
Als sie an der Galerie eingetroffen waren, war ihr aufgefallen, dass die Parkplätze schier überquollen vor Besucherfahrzeugen, und nun, auf dem Weg zum Hauptgebäude, bemerkte sie eine lange Schlange vor dem Kartenverkauf, so lang, dass sie bis weit auf den Hof reichte, wo Kinder rund um die riesige Pissende Kristal Fangen spielten.
Der Souvenirladen brummte. Ein Poster mit einer Hochglanzaufnahme von Kristal in Schwarz-Weiß und den Worten Kristal Havfruen – Ein Leben verkaufte sich wie warme Brötchen. Neben der Kasse war ein großer Stapel der Biografie The Mother of Art aufgebaut, die man in einem eindrucksvollen Format neu aufgelegt hatte. Es gab putzige kleine Fötus-Schlüsselringe aus Kunstharz, vor einem großen Schuhregal saßen Teenager auf niedrigen Hockern und probierten kirschrote Dr. Martens in verschiedenen Größen an.
Sie liefen an der Menge vorbei und folgten Saul Spencer den Gang entlang zum Restaurant. Shanti hätte schwören können, dass sie nicht nur den Duft frisch gerösteter Kaffeebohnen roch, sondern noch etwas anderes – einen schwachen, anhaltenden Geruch nach Formaldehyd.
»Oh, bevor wir einen Kaffee trinken, Mr. Spencer … Geht es hier nicht zur Hauptgalerie? Denken Sie, mein Kollege und ich könnten rasch einen Blick hineinwerfen? Nur damit er sich einen Eindruck verschaffen kann.«
Aus unerfindlichen Gründen errötete Spencer vor Verlegenheit. »Um ehrlich zu sein, würde ich mir lieber erst einen Kaffee bestellen. Wie gesagt: Ich lechze nach einer Tasse.«
»Ich bin mir sicher, der Kaffee kann noch zehn Minuten warten«, beharrte Shanti.
»Sie würden nur Ihre Zeit verschwenden. Der Raum ist mehr oder weniger leer.«
»Mir gefällt ein wenig Leere«, sagte Caine.
Spencer wand sich wie ein Schuljunge vor der verschlossenen Toilettentür.
»Hören Sie, ich mache Ihnen einen Vorschlag: Warum holen Sie sich nicht Besucherpässe und sehen sich um, wo immer Sie mögen? Ich bin momentan sehr beschäftigt.«
»Oh, wir schätzen Ihre Gesellschaft, Mr. Spencer. Ich habe nicht viel Ahnung von Kunst, daher ist es sehr schön für uns, einen Experten zur Hand zu haben.«
Spencer war sichtlich verärgert, aber er riss sich zusammen und tänzelte am Restaurant vorbei, weiter den Gang entlang, durch verschiedene Ausstellungsräume, vorbei an dem knallbunten Neonbaum mit dem Titel Forbidden Fruit, an dem Föten in verschiedenen Farben baumelten. Überall standen Kristal Havfruens – nackt und winzig oder groß und in weißer Spitze mit roten Stiefeln.
Ohne Sauls Hinterkopf mit der akkurat geschnittenen Frisur aus den Augen zu verlieren, drängten sie sich durch die Unmengen an Kunststudenten und urlaubenden Familien, Spencer völlig unbeeindruckt von den Exponaten, Caine fasziniert um sich blickend, Shanti nur ungläubig den Kopf schüttelnd.
Endlich gelangten sie zu den beeindruckenden, eisenbeschlagenen Türen der Hauptgalerie. Shanti hatte angenommen, der Ausstellungsraum sei abgesperrt, doch stattdessen stand die Doppeltür weit auf, von zwei Angestellten überwacht. Davor wartete eine dicht gedrängte Besuchermenge.
»Nur sechs auf einmal«, ordnete einer der beiden Angestellten, ein junger Sikh, an und zählte die Personen ab, die in die Galerie hineinströmten.
Shanti, Caine und Spencer warteten, bis sie an der Reihe waren. In dem hohen Raum mit der gewölbten Decke zuckten die Handy-Blitzlichter.
Shanti schnappte einige Gesprächsfetzen der Besucher um sie herum auf.
»Das ist der Raum, in dem sie sie gefunden haben. Sie trieb in dem Tank – mausetot.«
»Mum, hier drinnen ist es wie in einem Schrein!«
»Unsere Hannah macht ein Projekt am College. Sie hat jeden Schnipsel über Kristal Havfruen gesammelt, den sie in die Finger kriegen konnte, und sie spart für die roten Docs und das weiße Minikleid. Sie verschmiert sogar ihren Lippenstift!«
»Was glaubst du, wer sie umgebracht hat?«
»Der Sohn, nehme ich an.«
»Nein, nicht Art. Das wäre zu offensichtlich.«
»Und wer dann? Wer hat Kristal ermordet?«
Endlich konnten sie eintreten. Die sechs Besucher, die vor ihnen in der Hauptgalerie gewesen waren, kamen sichtlich bewegt heraus. Shanti wollte sich gerade in Bewegung setzen, doch der Angestellte ließ eine vierköpfige Familie vor, außerdem Spencer und Caine.
»Macht es Ihnen etwas aus zu warten?«, fragte er Shanti.
»Das geht schon in Ordnung, Akash. Sie gehört zu mir«, teilte der zunehmend nervöse Spencer dem Sikh mit.
»Alles klar, Saul. Treten Sie ein, Miss.«
Shanti ging in den dämmrigen Raum. Ein paar Schritte vor ihr hielt ein Polizeiband die Besucher davon ab, den mittleren Bereich der Galerie zu betreten. Auf dem Fußboden unter der Absperrung verströmte ein Berg roter und weißer Rosen in Zellophanpapier einen Übelkeit erregenden, süßlichen Geruch nach sterbender Vegetation – ein Duft, der so intensiv war, dass er den strengen Geruch des Formaldehyds überdeckte.
»Ich bin ein bisschen verwirrt, Mr. Spencer«, sagte Shanti, als sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. »Ich hatte gestattet, das Polizeiband zu entfernen. Der Tatort ist freigegeben, die Besucher dürfen gern die ganze Galerie betreten.«
»Es handelt sich um eine Art Gedenkstätte«, zischte Spencer. »Das ist es, was die Leute wollen. Seit über einer Woche lesen sie in den Zeitungen über nichts anderes. Wie in einer Seifenoper.«
Der junge Angestellte trat vor. »Soll ich die Lichter anmachen, Saul?«
»Oh, damit sollten wir uns jetzt nicht aufhalten, Akash«, wehrte Spencer ab, der bereits den Rückzug antrat.
»O doch, lassen Sie uns die Lichter anmachen, Mr. Spencer. Wir mögen Licht, nicht wahr, Caine?«
Akash hob den Arm, um einen Bewegungssensor zu aktivieren, und plötzlich erwachte der stille, dunkle Raum vor ihnen zum Leben. Beethovens Neunte Sinfonie schallte ohrenbetäubend laut aus verborgenen Lautsprechern, zuckende Laserstrahler richteten sich auf die Mitte des großen Raums.
Die Besucher vor den offenen Türen schnappten kollektiv nach Luft.
»Oh, seht nur! Da sind ihre Stiefel!«
»Der Glastank ist zur Seite gekippt!«
»Mit … o mein Gott!«
»Was läuft da aus dem Tank raus, Dad?«
»Hier ist der Kurator«, sagte Shanti. »Fragen wir ihn. Was läuft da aus dem Tank, Sir?«
»Nichts Besonderes. Bloß eine neutrale Flüssigkeit. Vollkommen harmlos. Es soll so aussehen … Sie wissen schon …«
»Als würde Formaldehyd auslaufen? Das ist ziemlich makaber, finden Sie nicht?«
»Wie ich schon sagte: Es ist das, was die Öffentlichkeit möchte.«
»Ich nehme an, das kurbelt den Kartenverkauf gewaltig an.«
»Ein bisschen. Während der Ferienzeit ist immer einiges los. Könnten wir jetzt bitte den Platz frei machen für andere Besucher? Die Leute warten schon. Vielleicht haben Sie es vergessen, aber ich bemühe mich, eine Kunstgalerie zu leiten.«
Sie kamen Sauls Bitte nach und verließen die Hauptgalerie, doch draußen auf dem Gang setzte Shanti dem nervösen Kurator weiter zu.
»Ich meine mich zu erinnern, dass Sie anfangs Bedenken hatten, eine Kristal-Havfruen-Ausstellung auszurichten, Mr. Spencer, oder täusche ich mich? Sie wollten ihr Okay nur geben, wenn Kristal sich bereit erklärte, etwas ganz Neues für die Hauptgalerie zu inszenieren. Ein Happening – das nennt man doch so, oder?«
»Ich habe dieser Ausstellung zugestimmt, um Art und seiner Mutter zu helfen, verdammt noch mal. Es handelte sich mehr oder weniger um einen Akt der Nächstenliebe. Kristal war in Vergessenheit geraten – bis ich auf den Plan trat.«
»Aber dieses … dieses Ereignis hat sich zu etwas weit Größerem entwickelt – zu weit mehr, als Sie sich vermutlich erträumt haben.«
»Das ist wirklich pietätlos!«, protestierte Spencer, dessen Gesicht mittlerweile puterrot angelaufen war.
»In der Tat«, sagte Caine ruhig. »Es ist genau die Idee, die sich ein wirklich cleverer Marketingprofi einfallen lassen würde. Eine unfassbar dramatische Art und Weise, eine Ausstellung zu promoten. Stellen Sie sich nur mal vor, wie viel Sie für eine solche Publicity hätten bezahlen müssen!«
»Was zum Teufel werfen Sie mir vor? Sie vergessen wohl, wie traumatisch der Abend verlaufen ist. Ich war der Erste, der begriffen hat, dass Kristal tot ist. Ich habe die Polizei gerufen. Ich bin losgelaufen, um einen Werkzeugkasten zu holen, und ich habe Callum geholfen, den Deckel aufzustemmen. Ich habe gesehen, wie der glitschige Leichnam aus dem Tank geschossen kam wie auf einem dieser grauenhaften Bilder von Goya oder Bosch …«
»Das ist kein Vorwurf«, stellte Caine klar. »Bloß eine Hypothese. So oder so – der Wert von Kristals Werken geht durch die Decke, und ich denke, ich gehe richtig in der Annahme, dass die Familie Havfruen-Oak Sie exklusiv zu Kristals Kunsthändler bestimmt hat.«
»Ich … brauche … Kaffee«, stieß Spencer abgehackt hervor.
»Gibt es auch Brötchen?«, erkundigte sich Shanti.
Das Café-Restaurant – The Meat Hook Bar & Grill – war ein Kunstwerk für sich: Auf großen Holzkisten mit Alkoholika stand jede Menge Krimskrams aus Metall und Draht, außerdem gab es diverse vor Farbe tropfende Assemblagen aus Plastikspielzeug, alten Fernsehern und Küchenutensilien im Stil von Rauschenberg. Hinter einem glänzenden Tresen stand ein muskulöser junger Mann mit zahlreichen Tattoos und Piercings, der die Haare auf dem Oberkopf zu einem Knoten geschlungen hatte und Cappuccino in unglaublichen Geschmacksrichtungen zubereitete. Während er arbeitete, plauderte er mit vier Japanerinnen, die allesamt wie Kristal Havfruen zurechtgemacht waren – inklusive blonder Perücken und verschmierter roter Lippen.
Shanti, Caine und Spencer fanden einen leeren Tisch unter dem hochauflösenden Abzug eines Fotos, das einen grauhaarigen Obdachlosen beim Sonnenbaden auf einer Mülldeponie zeigte.
Shanti entging nicht, dass Spencers zarte Hände zitterten, als er Zuckerwürfel abzählte und in seinen lang ersehnten Latte macchiato warf.
»Sie sagen, Sie sind mit Art Havfruen zur Schule gegangen – auf ein Internat?«
»Bryanston, Inspector Joyce. Eine anständige Schule, eine anständige Ausbildung.«
»Sind Sie sich auch in den Ferien begegnet?«
»Ja, gelegentlich. Ich habe ihn ein paarmal in Mangrove House besucht.«
»Das ist interessant. Und wer war da, als Sie ihn besucht haben?«
»Kristal war eigentlich immer in ihrem Atelier, sie ist nicht oft herausgekommen. Um ehrlich zu sein, hat sie mir ein wenig Angst gemacht – sie konnte ziemlich streng mit Art sein. Callum hat die meiste Zeit in seinem Atelier über der Garage verbracht. Ein netter Kerl, aber sehr befangen – er hat uns größtenteils uns selbst überlassen.«
»Und worauf standet ihr Internatsburschen? Mädchen? Drogen?«
»Ich bin homosexuell, Detective Inspector. Allerdings erinnere ich mich daran, dass wir ab und an ein wenig Gras geraucht haben, doch das war mehr Arts Ding als meins.«
»Stärkeres haben Sie nicht konsumiert?«
»Wir waren Schuljungs.«
»Aber wer hat sich um Art gekümmert? Seine Mahlzeiten zubereitet und so weiter? Gab es Angestellte in Mangrove House?«
»Nein. Eine liebenswürdige Frau war häufig da – Arts Patentante, glaube ich … Sie hat ein bisschen ausgesehen wie Charlotte Rampling.«
»Marlene Moss?«
»Ja, das ist richtig.«
Shanti warf Caine einen Blick zu.
»Sie war um einiges älter als Callum«, fuhr Spencer fort, »aber ich habe mich oft gefragt, ob zwischen ihnen etwas lief. Sie war verrückt nach seinen Bildern, daran erinnere ich mich. Ich habe seine frühen Arbeiten gesehen – sehr gut, wenngleich ein bisschen retro. Ich denke, ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass Marlene Art sein ganzes Leben lang kannte. Sie war ihm eine gute Tante, und es lag auf der Hand, dass die zwei einander vergötterten. Art verzehrte sich nach einer Mutter, daher war ihm Marlenes Anwesenheit ein Trost. Zumindest als er jung war. Als er älter wurde, war er wütend auf alle, weshalb Marlene als die ihm am nächsten stehende Person in die Schusslinie geriet.«
»Das ist sehr hilfreich, Mr. Spencer. Nur noch ein, zwei Fragen, dann gebe ich weiter an DI Caine. Es ist kein Geheimnis, dass Art auf sein Pulver steht und dass ihn das ein wenig … sprunghaft macht, um nicht zu sagen explosiv. Haben Sie eine Idee, wo er seine Vorräte aufhebt?«
»Ha, ha! Das ist köstlich!«
»Es tut mir leid … Ich verstehe nicht, was daran so lustig ist …«
»Art arbeitet in der Werbung.«
»Na und?«
»Mein Gott, was für eine naive Frage! Wenn man in London in der Kreativbranche arbeitet und in seiner Teepause Lust auf Pillen, Tropfen, Poppers, Aufputschmittel, Tranquilizer, Acid, Crack oder Ecstasy hat, muss man bloß eine SMS verschicken, und binnen Minuten bringt einem ein Rollerkurier das gewünschte Zeug – das muss Ihnen doch klar sein, oder etwa nicht?«
»Art hat ein Wochenendhaus in Charmouth in der Nähe von Bridport, ist das korrekt?«
»Ich glaube, ja.«
»Sie glauben? Waren Sie nie da?«
»Ein-, zweimal, aber ich wusste nicht, ob er es behalten hat.«
»Haben Sie ihn jemals mit einer Spritze in der Hand gesehen?«
»Nie! Hören Sie, es tut mir leid, aber Sie haben mich an einem ganz besonders geschäftigen Tag erwischt.«
»Wir sind gleich fertig, noch höchstens zehn Minuten. Ich möchte Sie etwas sehr Wichtiges fragen, etwas, das mich von Anfang an vor ein Rätsel gestellt hat. Vielleicht können Sie uns helfen, die Aufnahmen der Überwachungskameras am Abend der Ausstellungseröffnung zu deuten, die in diesem Fall von zentraler Bedeutung sind.«
»Nun, ich werde es versuchen.«
»Um achtzehn Uhr dreißig sehen wir Art, der sich in der Hauptgalerie einen aggressiven Streit mit Kristal liefert. Der Tank mit einer Kristal-Figur darin ist deutlich im Hintergrund zu erkennen. Abgesehen von Oliver Sweetman, der dieses ›Aquarium‹ um neunzehn Uhr ein letztes Mal poliert, kommt niemand auch nur in die Nähe des Tanks, bis Sie die Besuchergruppe hineinführen und um zwanzig Uhr achtunddreißig den Leichnam entdecken. Können Sie uns das erklären? Ich muss gestehen, dass mir das so einiges Kopfzerbrechen bereitet.«
»Noch vor ein paar Minuten schienen Sie mich des Mordes an Kristal zu bezichtigen, und jetzt bitten Sie mich, Sie bei der Aufklärung des Verbrechens zu unterstützen. Wir wissen alle über die Kürzungen bei der Polizei Bescheid, aber das ist nun wirklich nicht mein Job! Allerdings stimme Ihnen zu, dass das, was wir da sehen, zutiefst verwirrend ist. Aber mir will einfach keine Erklärung einfallen.«
»Darf ich Ihnen noch etwas bringen?«, fragte eine Kellnerin, die aussah, als käme sie direkt von einem Laufsteg in Paris.
»Noch einen Latte«, blaffte Spencer.
»Gern, Saul. Sonst noch jemand?«
»Ich nehme auch noch einen Latte«, ergänzte Shanti. »Und ein Stück Bananenkuchen.«
»Entschuldigen Sie, wenn ich es ein wenig kompliziert mache, meine Liebe«, sagte Caine, »aber haben Sie vielleicht etwas Honig? Nur einen Löffel voll für meinen Tee?«
Die Bedienung strahlte ihn an. »Mal sehen, was ich für Sie tun kann.«
Caine wartete, ein gelassenes Lächeln auf dem Gesicht, das Spencer nur noch mehr auf die Nerven zu gehen schien. Als die Getränke und ein Miniglas mit Honig kamen, rührte Caine seinen Tee um und legte den Löffel vorsichtig auf der Untertasse ab. Nach einer Weile sagte er: »So, Mr. Spencer … oder darf ich Sie Saul nennen?«
»Sie können mich nennen, wie Sie wollen.«
»Wie Sie schon erwähnten, Saul, waren Sie so freundlich, mich nach der Beerdigung in Ihrem Wagen nach Mangrove House mitzunehmen, zusammen mit vier von Kristals Angehörigen aus Dänemark.«
»Das ist richtig.«
»Wenn ich es richtig verstanden habe, sind die Brüder Aksel und Carl Kunstsammler. Nette Jungs.«
»Ja.«
»Mir ist aufgefallen, dass Sie sich beim Leichenschmaus lange mit ihnen unterhalten haben.«
»Ist das ein Verbrechen?«
»Ganz und gar nicht. Dennoch kam ich nicht umhin, ein paar Worte aufzuschnappen, und es klang so, als würden Sie über mehrere Originale der Künstlerin verhandeln – es wurden einige bedeutende Summen genannt.«
Spencer und seine Kaffeetasse fingen an zu klappern.
»Wie Sie selbst sagten: Die beiden sind Kunstsammler, und ich bin Kurator. Selbstverständlich haben wir über Geschäftliches gesprochen.«
»Ich finde, Sie sind ein bisschen zu bescheiden.«
»Ich verstehe nicht …«
»Sie bezeichnen sich selbst als Kurator, doch in Wirklichkeit sind Sie Teilhaber, nicht wahr? Sie sind Mitinhaber von Meat Hook International.«
»Solange dies nicht unmittelbar relevant für den Fall ist, Inspector Caine, möchte ich behaupten, dass meine Geschäfte nur mich selbst etwas angehen.«
»Die Sache ist die: Ich hatte den Eindruck, dass Ihr Gespräch mit Aksel und Carl weit über eine allgemeine Plauderei hinausging. Ich habe jede Menge Lächeln und Händeschütteln bemerkt, als hätten Sie eine Abmachung getroffen.«
»Ich habe keine Ahnung, worauf Sie hinauswollen, Inspector. Es ist kein Geheimnis, dass wir ein Geschäft abgeschlossen haben. Ich habe den beiden einige Arbeiten aus Kristals Atelier verkauft.«
»Es wäre schön, wenn Sie etwas konkreter werden könnten, Saul. Ich war ein paarmal in Mangrove House – in Kristals Atelier gibt es einige unvollständige Figuren, außerdem ein paar Stücke im Garten, aber fast alle bedeutenden Werke befinden sich bei der Retrospektive hier in der Meat Hook Gallery.«
»Sie sind ein sehr aufmerksamer Beobachter, DI Caine. Nun, ich nehme an, es schadet nicht, wenn ich Ihnen sage, dass Art und ich eine Idee hatten. Es ist uns gelungen, an die Gussformen für die Figuren heranzukommen. Manche sind tatsächlich lebensgroß – Gipsabdrücke von Kristals Körper. Für sich genommen großartige Objekte – Carl und Aksel wollen sie in einem speziellen Raum in dem neuen Museum ausstellen.«
»Und das war alles, was die beiden gekauft haben?«
»Mehr oder weniger.« Immer wieder schlug Saul Spencer seine schlaksigen Beine übereinander, nur um sie dann wieder voneinander zu lösen.
»Mehr oder weniger?«
»Es besteht eine kleine Chance auf den Verkauf eines weiteren Werks. Etwas, das einzigartig und im Grunde unschätzbar ist. Ich versuche nicht, Ihrer Frage auszuweichen, Inspector, aber die Verhandlungen befinden sich noch in einem sehr frühen Stadium, und vielleicht kommt der Vertrag auch gar nicht zustande.« Saul sah auf seine Uhr und ließ den Blick durchs Restaurant schweifen, das sich langsam leerte. »Meine Herrschaften, es tut mir wirklich sehr leid, aber ich fürchte, mehr Zeit kann ich nicht erübrigen. Ich kann meine Leute nicht länger warten lassen. Ich wünschte, ich hätte Ihnen eine größere Hilfe sein können.«
»Oh, Sie haben uns sehr geholfen, Mr. Spencer«, sagte Shanti. »Ich habe heute sehr viel über Kunst gelernt. Das Problem in unserem Job ist, je mehr Fragen Sie beantworten, desto mehr stellen sich. Wir müssen uns womöglich noch einmal unterhalten, vorausgesetzt, Sie sind bereit, uns noch ein wenig von Ihrer kostbaren Zeit zu schenken. Vielleicht wären Sie im Präsidium weniger abgelenkt – bei einem Gespräch, das wir ungebildeten Polizisten eine ›formelle Vernehmung‹ nennen.«
Spencer sprang auf und schoss von dannen, als stünden seine Haare in Flammen.
»Die riesige rote Spinne ist so was von schuldig!«, sagte Shanti, als sie wieder im Auto saßen.
»Die riesige rote Spinne wirft mit riesigen roten Nebelkerzen«, pflichtete Caine ihr bei.
»Worauf genau beziehen Sie sich? Sie haben vorhin gesagt, dass er sich an Kristals Tod eine goldene Nase verdient. Das war übrigens brillant – woher wussten Sie eigentlich, dass er Teilhaber der Galerie ist?«
»Das war nicht schwer herauszufinden.«
»Er hat zugegeben, dass er eine ganze Wagenladung voller Gussformen von Kristals Körper verramscht hat. Wissen Sie was, Caine? Solange es da draußen reiche, gutgläubige Menschen gibt, werden selbstgefällige Schuljungs wie Spencer einen Mordsgewinn machen – entschuldigen Sie den Ausdruck.«
»Er profitiert mit Sicherheit von ihrem Tod, aber das heißt noch lange nicht, dass er auch ihr Mörder ist.«
»Kommen Sie, Caine, der Kerl hat geschwitzt wie ein Schneemann in der Sauna. Von welchem ›unvergleichlichen, unschätzbaren‹ Kunstwerk mag er wohl gesprochen haben? Warum gibt er sich so zugeknöpft?«
»Keine Sorge, Shanti. Ich bin dran.« Er wühlte in seinem Leinenbeutel und zog sein Notizbuch heraus. »Wo hab ich die bloß hingetan? Ah, da sind sie ja.«
Eingeklemmt zwischen den Seiten waren vier Visitenkarten, die er nun eine neben der anderen auf dem Armaturenbrett ausbreitete wie ein Kartenspiel. »Carl, Aksel, Freja und Anja.«
»Gute Arbeit, Caine. Sie haben sich heute ein goldenes Sternchen verdient. Möchten Sie, dass ich die Leute kontaktiere?«
»Es ist besser, wenn ich das tue – sie wissen, wer ich bin. Um ehrlich zu sein, bezweifle ich, dass uns das bei dem Fall weiterbringt, dennoch werde ich ein paar E-Mails verschicken und versuchen, etwas mehr über dieses einzigartige Kunstwerk herauszufinden. Das klingt ziemlich faszinierend.«
»Dürfen Buddhisten E-Mails verschicken?«
»Klar, aber nur ohne Anhänge-r.«
Shanti stöhnte. »Steht das auf einem Ihrer Becher?«
Er lächelte. »Sagen Sie, Shanti, wie geht es Ihnen? Ich konnte Sie nach der Beerdigung nirgendwo entdecken.«
»Ich musste einfach mal früher Feierabend machen. Aber wenn Sie schon fragen: Ich hatte einen grässlichen Tag. War mit meinem Latein am Ende. Aber keine Sorge: Inzwischen habe ich mich wieder eingekriegt.«
»Irgendetwas hat Sie aus der Fassung gebracht, hab ich recht? Erzählen Sie mir, was passiert ist?«
»Ach, ich muss mir das eingebildet haben … es kommt mir jetzt vollkommen absurd vor. Sie werden denken, ich sei verrückt geworden.«
»Möglich.«
»Nun, als Sie in der Kirche waren, habe ich … habe ich …«
»Was haben Sie, Shanti?«
»Ich habe Kristal gesehen.«
»Aha …«
»Ich meine, ich habe jemanden gesehen, der exakt so aussah wie Kristal. Es war neblig, von daher … Da saß eine blonde Frau in einem Kleid auf der Friedhofsmauer, Caine. Sie hatte diese verdammten roten Stiefel an.«
»Unheimlich.«
»Das können Sie laut sagen. Echt unheimlich. Ich muss zugeben, dass mich das ziemlich erschüttert hat. Ich bin ihr natürlich nachgelaufen, aber sie ist mir entwischt und im Wald verschwunden.«
»Vielleicht hat jemand versucht, Ihnen einen Schrecken einzujagen.«
»Nun, dann war er erfolgreich. Wissen Sie, ich habe noch nie daran geglaubt … Aber da habe ich mich zum ersten Mal im Leben gefragt, ob es womöglich doch Geister gibt. Wenn irgendjemand nach dem Tod einen bleibenden Eindruck hinterlassen wollte, dann wäre es Kristal, richtig? Sie sind Buddhist, sie glauben an Wiedergeburt, nicht wahr?«
»Nun, nicht im wörtlichen Sinne. Aber hier auf dem Land ist die Wiedergeburt doch allgegenwärtig.«
»Das müssen Sie mir wohl erklären.«
»Ich meine, in ein paar Monaten wird jedes einzelne dieser Milliarden Blätter sterben und zu Boden fallen. Die Blätter werden zu Kompost, und im Frühling wachsen Milliarden neuer Blätter. Es ist ein endloser Kreislauf von Leben und Tod, der weit über unser individuelles Leben und diesen winzigen Planeten hinausreicht. In Wirklichkeit gibt es kein Ende und keinen Anfang. Wir Menschen halten uns gern für unabhängig, dabei sind wir alle Teil jener ewigen Lebenskraft – jenes unendlichen Stroms der Moleküle.«
»Das ist sehr schön, Caine, auch wenn es mir im Augenblick nicht weiterhilft. Glauben Sie nun, dass ich Kristal gesehen habe, oder nicht?«
»Ich glaube, dass Sie etwas auf dem Friedhof gesehen haben, das Ihnen Angst gemacht hat. Erinnern Sie sich an die Sache mit dem Umarmen des Ungewissen? Dass das mehr Sinn macht, als die Lücken zu füllen? Nun, ich werde nicht mutmaßen, was genau Sie gesehen haben, solange ich es nicht mit Sicherheit weiß.«
»Darf ich Ihnen einen Rat geben, Caine? Einen Rat, den Ihnen jede gute Mutter auf der ganzen Welt geben würde? Werden Sie erwachsen!«
»Es tut mir leid – gehe ich Ihnen auf die Nerven, Shanti?«
»Alle Männer gehen mir auf die Nerven. Also los, DI Dalai Lama. Wohin fahren wir als Nächstes?«
»Erinnern Sie sich an unseren Tag in Falmouth? Der übrigens sehr schön war. Wie wär’s, wenn wir unserer Freundin Marlene einen weiteren Besuch abstatten?«
»Ich bin mir sicher, sie freut sich, uns zu sehen. Sie liebt es, ein wenig Gesellschaft zu haben. Außerdem haben Sie recht – sie scheint den Oaks in der Tat näherzustehen, als uns das zunächst bewusst war. Vielleicht erzählt sie uns etwas mehr über die Kräfteverhältnisse innerhalb der Familie.«
Für eine Weile setzten sie die Fahrt schweigend fort. Caine malte Männchen in sein Notizbuch. Irgendwann brach Shanti das Schweigen. »Normalerweise rede ich nicht über mein Familienleben, aber ich denke, ich kann Ihnen ruhig sagen, dass Paul in letzter Zeit Probleme in der Schule hat. Mum gibt ihr Bestes, aber ich wünschte mir, ich könnte mehr bei ihm sein. Vermutlich vermisst er seinen Dad.«
»Jungs brauchen männliche Bezugspersonen.«
»Möchten Sie sich um den Job bewerben?«
Caine überlegte kurz, dann schlug er vor: »Warum nehmen wir ihn nicht mit nach Falmouth? Sie können ihn doch bestimmt für einen Tag aus der Schule nehmen. Gönnen Sie ihm eine kleine Pause.«
»Das ist eine nette Idee, Caine, aber Sie scheinen das Problem nicht wirklich zu verstehen. Ich darf Arbeit und Familie nicht vermischen. Wohin mit Paul, während wir Marlene befragen? Soll er auf meinem Schoß sitzen und Kekse essen?«
»Nein. Er soll mit seiner Großmutter am Strand spielen.«
»Herrgott, Caine! Sie planen ja einen ganzen Familienausflug!«
»Ich würde Paul gern kennenlernen. Ihre Mum ebenfalls. Wie heißt sie eigentlich?«