Kapitel achtzehn

Das gespenstische Mädchen

Haben wir uns schon einmal gesehen?«, fragte Shanti.

Das Mädchen setzte sich auf, wickelte die schwarze Satindecke um sich und warf das volle, goldene Haar über die mageren Schultern.

»Ich glaube nicht.«

»Nun, ich denke schon. Nennst du mir bitte deinen Namen?«

»Muss ich das?«

»Ich fürchte, ja.«

»Tess.«

»Tess. Und weiter?«

»Tess Strawbridge.«

»Du möchtest dir sicher etwas anziehen, Tess. Und anschließend trinken wir eine schöne Tasse Tee und unterhalten uns ein bisschen.«

Shanti sah sich im Zimmer um. Arts Klamotten lagen als zusammengeknüllter Haufen auf dem Fußboden – ein zerknitterter Anzug zwischen spitzen Stiefeletten. Die Sachen des Mädchens lagen ordentlich zusammengefaltet auf einem Stuhl.

»Wie alt bist du, Tess?«, fragte Shanti und warf ihr ein Unterhöschen zu.

»Achtzehn.«

»Das stimmt nicht.«

»Doch. Woher wollen Sie das überhaupt wissen?«

»Weil das hier eine Schuluniform ist, meine Liebe.«

»Ja, ich bin in der Abschlussklasse.«

»Soweit ich weiß, trägt man in der Abschlussklasse keine Schuluniform mehr.«

»Werden Sie mich jetzt verhaften?«

»Das habe ich nicht vor«, sagte Shanti mit einschmeichelnder Stimme. »Nicht, wenn du dich kooperativ zeigst.«

Tess stieg aus dem Bett, zog ihre Sachen über und folgte Shanti den Flur entlang. Vor der offenen Wohnzimmertür blieb das Mädchen stehen und fragte mit einem Blick auf Benno: »Was schnüffelt der denn hier rum? Art wird ausrasten.«

»Das ist Sergeant Bennett«, antwortete Shanti, die weiter in Richtung Küche strebte. »Er hat die Aufgabe, Beweismittel zusammenzutragen, und es sieht ganz danach aus, als sei heute sein Glückstag.«

»Ich nehme auch einen Tee, wenn du einen machst«, rief Benno ihr hinterher. »Mit zwei Stück Zucker, bitte.«

»Musst du dir selbst abholen!«, rief Shanti zurück.

In der halogenbeleuchteten Küche erhitzte sie drei Tassen Wasser in der Mikrowelle und hängte Teebeutel hinein. Als der Tee lang genug gezogen hatte, warf sie die Beutel in die Spüle und stellte zwei Tassen auf die Esstheke, ehe sie sich neben Tess auf einen der davorstehenden Barhocker setzte. In ihrem marineblauen Blazer mit dem dazupassenden Rock und der weißen Baumwollbluse sah Tess Strawbridge aus wie ein nervöses Schulmädchen – und genau das war sie auch. Shanti legte ihr Handy neben ihre Teetasse.

»Ich würde unser Gespräch gern aufzeichnen, wenn das für dich okay ist, Tess.«

»Nein, das ist nicht okay. Wie würden Sie es finden, wenn ich aufnehme, was Sie sagen?«

»Das kannst du gern machen, allerdings muss ich dich darauf hinweisen, dass ich dich mit aufs Polizeirevier nehmen muss, wenn du meine Fragen nicht beantwortest.«

Das Mädchen deutete ein Nicken an, und Shanti tippte auf den Aufnahmeknopf auf dem Display.

»So, du bist also Arts Freundin.«

Tess zuckte die Achseln.

»Wo wohnst du?«

»In Charmouth. Mehr oder weniger.«

»Ich frage dich noch einmal, wie alt du bist.«

Tränen strömten wie Perlen über Tess’ hübsches Gesicht. Sie hob die Hand zum Mund und murmelte etwas.

»Ich kann dich nicht verstehen, Tess.«

Das Mädchen ließ die Hand sinken und nahm eine trotzige Haltung ein. »Na schön, ich bin fünfzehn. Es gibt Schlimmeres, oder?«

»Weiß deine Mum, dass du hier bist?«

»Das interessiert meine Mum einen Scheiß.«

»Was ist mit deinem Dad? Weiß er Bescheid?«

»Keine Ahnung. Hab ihn nie kennengelernt.«

»Okay, meine Liebe. Ich weiß, dass ich das nicht tun sollte, aber ich verrate dir etwas – ich mache dir keine Vorwürfe. Wir interessieren uns für Art. Erzählst du mir, wie ihr euch kennengelernt habt?«

Tess wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ich gehe in Lyme zur Schule und fahre mit dem Bus zurück nach Charmouth. Eines Tages war ich von der Bushaltestelle aus auf dem Heimweg, als er aus einem Laden kam – total cool. Wir sind uns buchstäblich in die Arme gelaufen. Er meinte, ich sei das Ebenbild von jemandem, den er kennt. Dann hat er mich gefragt, wo ich wohne. Als ich sagte, an der Stonebarrow Lane, ein gutes Stück den Hügel hinauf, hat er mir angeboten, mich mitzunehmen, weil es so weit zu laufen ist. Ich wollte zuerst ablehnen – man soll ja nicht zu Fremden in den Wagen steigen und so –, aber dann hab ich sein Auto gesehen! Ich hab mich gefühlt wie ein Filmstar. Meine Freundinnen sind ausgeflippt vor Neid! Ich hab ihm meine Nummer gegeben, und na ja, Sie wissen ja, wie’s weitergegangen ist.«

»Hat er dir Drogen gegeben?«

»Nein. Den Scheiß nehme ich nicht … nun ja, bis auf ein bisschen Gras ab und an.«

»Hat er dir Geld gegeben?«

»Art ist stinkreich. Geld interessiert ihn nicht. Das Bargeld liegt hier bündelweise herum. Er sagt, wenn ich was brauche, soll ich es mir einfach nehmen.«

»Tess, ich würde dir gern eine persönliche Frage stellen – ist das okay? Gefällt es Art, wenn du deine Schuluniform trägst? Für manche Männer ist das ein echter Kick.«

»Ne, darauf steht er nicht. Er mag es, wenn ich das Zeug aus dem Schrank anziehe.«

»So, Augenblick, ich unterbreche die Befragung für einen kurzen Moment …«

Shanti nahm die dritte Tasse Tee, legte zwei Stück Zucker dazu und ging ins Wohnzimmer, wo Benno mit seinen Latexhandschuhen immer noch damit beschäftigt war, jede Menge Dinge einzutüten und zu beschriften. Sie stellte die Tasse auf den Glastisch und nickte kurz in Richtung Küche, um ihm zu bedeuten, ein Auge auf das Mädchen zu haben. Noch einen Flüchtigen konnten sie wirklich nicht gebrauchen.

Anschließend kehrte sie ins Schlafzimmer zurück und knipste das Licht an. An einer der Wände stand ein Schrank. Obwohl sie im Grunde wusste, was sie vorfinden würde, war es trotzdem ein Schock, als sie die Tür öffnete. Mehrere lose Ermittlungsfäden begannen, sich miteinander zu verknoten.

Tess hatte sich nicht von ihrem Barhocker gerührt, als Shanti in die Küche zurückkehrte, doch sie sah noch blasser und verletzlicher aus als zuvor.

»So, ich drücke wieder auf Aufnahme, okay? Befragung Tess Strawbridge, Teil zwei. Tess, du hast gesagt, Art wollte, dass du die Sachen trägst, die ich gerade in dem Schrank in seinem Schlafzimmer gesehen habe – ein kurzes weißes Spitzenkleid und rote Dr.-Martens-Stiefel. Ist das richtig?«

»Das hat ihn angemacht, ja.«

»Er hat dich also gebeten, diese Sachen im Haus zu tragen?«

»Ja. Mit tonnenweise verschmiertem Lippenstift.«

»Wo solltest du sie sonst noch anziehen? Im Bett?«

»Die Stiefel natürlich nicht.«

»Und außerhalb des Hauses – hast du das Outfit jemals in der Öffentlichkeit getragen?«

»Zweimal, aber beide Male hat es ein riesiges Theater gegeben. Das erste Mal habe ich die Sachen bei der Ausstellungseröffnung von seiner Mum angezogen – sie war eine berühmte Künstlerin, müssen Sie wissen. Art hatte mich nicht eingeladen, er behauptete, es würde langweilig werden. Ich wollte aber unbedingt hingehen, vor allem, als ich hörte, dass auch Leute vom Fernsehen da sein würden. Er ist ohne mich hingefahren, aber ich hatte die Nase voll, allein hier herumzusitzen, also dachte ich, ich überrasche ihn. Ich hab Matt Scabs angerufen …«

»Augenblick. Wer ist Matt Scabs?«

»Oh, Entschuldigung. Er ist Taxifahrer. Zusammen mit seinem Bruder, Bob Scars.«

»Matt’s cabs und Bob’s cars – ›Matts Taxis‹ und ›Bobs Wagen‹? Das denkst du dir doch bloß aus!«

Tess schüttelte den Kopf. »Die kennt hier jeder.«

»Okay, du hast also Matt Scabs angerufen, und er hat dich zur Meat Hook Gallery gefahren. Das ist eine ziemlich lange Strecke – wie hast du das bezahlt? Du weißt, dass ich alles, was du mir erzählst, überprüfen werde.«

Das Mädchen zögerte.

»Sag mir die Wahrheit, Tess.«

»Mach ich doch. Art lässt überall Bargeld rumliegen. Ich darf mir nehmen, was ich brauche.«

»Dann bist du also zur Galerie gefahren. Hat der Taxifahrer auf dich gewartet, nachdem er dich dort abgesetzt hat?«

»Ja. Matt ist in Bruton zum Kaffeetrinken gegangen. Ich habe gesagt, ich würde ihn anrufen, wenn ich zurück nach Charmouth will. Auf dem Parkplatz vor der Galerie habe ich jede Menge Poser gesehen, die durch die Gärten auf dieses seltsame Gebäude zuhielten, das aussieht wie eine riesige Wampe auf Stelzen. Ich habe Art eine Nachricht geschickt, und er ist zu mir gestürmt. Ich dachte, er würde sich freuen, mich in seinem Lieblingsoutfit zu sehen, aber er ist völlig durchgedreht. Es war schrecklich. Er hat mich in diesen großen, dunklen Raum geschubst und behauptet, ich sei ihm scheißpeinlich. Er hat mich zum Weinen gebracht, also bin ich rausgerannt und habe Matt angerufen. Anschließend bin ich durch ein Loch in der Hecke auf die Zufahrt geschlüpft. Es kamen jede Menge Wagen mit todschicken Gästen vorbei, daher habe ich mich versteckt, bis Matt kam. Er hat mich nach Hause gefahren.«

Shanti spürte, wie ein Hochgefühl in ihr aufstieg, wie immer, wenn sie den Eindruck hatte, kurz vor einem Durchbruch zu stehen. Fest stand, dass sie nun einige Puzzleteile an die richtige Stelle setzen konnte – die Aufnahmen der Überwachungskameras, die sie alle hinters Licht geführt hatten. Wie konnte sich Kristal Havfruen mit ihrem Sohn in der Hauptgalerie mit dem verschlossenen Formaldehydtank streiten, den Raum verlassen und ein paar Stunden später in ebenjenem Tank tot wieder auftauchen, ohne dass sich jemand daran zu schaffen gemacht hatte? Nun lag endlich die Antwort auf der Hand: Die Frau, mit der Art gestritten hatte, war gar nicht Kristal gewesen, sondern Tess.

»Du sagst, du hast die Sachen zweimal in der Öffentlichkeit getragen. Erzählst du mir von dem anderen Mal?«

»Das war bei ihrer Beerdigung … von seiner Mum, meine ich. Sie ist auf völlig irre Weise ums Leben gekommen. Ich nehme an, Sie haben davon gehört.«

»Ja, das hab ich.« Shanti nickte.

»Nach ihrem Tod haben Art und ich immerzu gestritten. Es war echt nicht mehr lustig, mit ihm zusammen zu sein – was für ein Psycho! Er hat gesagt, ich dürfe auf keinen Fall zur Beerdigung kommen, weil das ›nicht anständig‹ sei. Ja, genau das waren seine Worte. ›Der Anstand hat dich aber nicht davon abgehalten, mich zu bumsen, oder?‹, hab ich ihn gefragt, und er ist davongestürmt und hat mich einfach stehen lassen. Da habe ich beschlossen, dass er mich mal kreuzweise kann, und bin in voller Montur vor der Kirche aufgetaucht.«

Gott sei Dank!, dachte Shanti. Ich bin nicht verrückt.

»Hat Matt Scabs dich zur Beerdigung gefahren, Tess? Bitte denk daran, dass ich deine Antworten überprüfen muss.«

»Diesmal war es Bob Scars.«

»Und was hat Art gemacht, als er dich gesehen hat?«

»Oh, er hat mich auf dem Friedhof entdeckt und ist total ausgeflippt. Hat mich an den Haaren gezogen und angeschrien, ich sei verrückt, weil ich hergekommen sei. Hat mir vorgeworfen, den traurigsten Tag seines Lebens zu ruinieren.«

»Was hast du gemacht?«

Tess schniefte. »Ich hab mich zurückgezogen, bin ja schließlich kein Miststück. Ich konnte sehen, wie aufgeregt er war. Meine Mum ist manchmal genauso außer sich, daher kenne ich das schon. Dass Art sich tonnenweise Schnee durch die Nase zieht, macht die Sache natürlich nicht besser.«

Sie warf Shanti einen verstohlenen Seitenblick zu, als würde ihr plötzlich bewusst, dass sie zu viel gesagt hatte.

»Schon gut, Tess. Wir wissen über Arts Gewohnheiten Bescheid.«

»Ja, er gibt sich nicht gerade Mühe, das Zeug heimlich zu nehmen.«

»Ich habe dich auf der Friedhofsmauer sitzen sehen.«

Tess riss die Augen auf. »Das waren Sie? O mein Gott! Sie haben umwerfend ausgesehen in dem schwarzen Kleid, aber Sie haben mich zu Tode erschreckt. Ich dachte, Sie wären ein Geist oder so was! Am Ende habe ich mich in diesem unheimlichen Wald versteckt und mir fast ins Höschen gemacht vor Angst.«

Shanti lachte erleichtert auf. »Dann haben wir uns gegenseitig einen ordentlichen Schrecken eingejagt. Also gut, Tess. Du ahnst gar nicht, wie sehr du mir weitergeholfen hast. Ich möchte, dass du dich noch einmal an den Tag der Vernissage erinnerst. Denk bitte genau nach, bevor du antwortest. Warst du den ganzen Nachmittag mit Art zusammen, bevor er zur Ausstellungseröffnung gefahren ist?«

Tess nickte. »Ja. Es war ein Samstag, nicht wahr? Ich bin von Freitag auf Samstag bei ihm geblieben. Wir sind spät schlafen gegangen und waren den ganzen Tag über hier. Art hat Fußball geguckt und ist gegen halb fünf zur Galerie gefahren.«

»Und da hast du ihn später überrascht.«

»Ehrlich, ich dachte, er würde das toll finden, aber das ist total in die Hose gegangen.«

Da ist es, dachte Shanti. Das Alibi, das Art so widerstrebend geliefert hatte. Jetzt wusste sie, warum. Art Havfruen hatte eine Beziehung mit einer Minderjährigen. Und als sei das nicht schlimm genug, hatte er das Mädchen auch noch überredet, sich so anzuziehen wie seine Mutter. Vielleicht war diese Enthüllung sogar noch schlimmer, als des Mordes beschuldigt zu werden.

Als Shanti mit der Befragung fertig war, hörte sie draußen Caines Stimme. Die Haustür öffnete sich, und zwei absonderliche Gestalten, die aussahen, als seien sie einem apokalyptischen Horrorstreifen entsprungen, schleppten sich in den Bungalow.

»Herrgott, Caine!«, rief Shanti erschrocken. »Was ist denn mit Ihnen passiert?«

»Sagen wir, die Klippen hier in der Gegend sind ein Mahnmal der Unbeständigkeit«, erwiderte Caine trocken, ohne Art loszulassen, der ziemlich wackelig auf den Beinen zu sein schien.

Beide Männer waren von Kopf bis Fuß mit brüchigem, grauem Schlamm bedeckt; Arts Gesicht und die spindeldürren Beine, die unter dem schmutzverkrusteten Mantel hervorragten, waren blutverschmiert.

»Oh, Art! Geht es euch gut, Jungs?«, stieß Tess hervor und eilte an Arts Seite.

Während Benno übernahm und Art Richtung Badezimmer schob, damit er duschen und sich anschließend etwas anziehen konnte, fasste Shanti Tess am Arm und zog sie sanft zurück in die Küche, wo sie eine Schüssel Zerealien vor sie hinstellte, die sie auf der Anrichte entdeckt hatte. Caine folgte ihnen und trat an die Spüle, um den blaugrauen Dreck von seinen Händen zu waschen.

»Was soll ich denn jetzt tun?«, jammerte Tess. »Ich weiß, dass Art ein bisschen verrückt ist, aber ich liebe ihn. Er kann auch total lieb und lustig sein. Ich wünschte, ich hätte Ihnen nichts erzählt. Art behauptet immer, dass man den Cops nicht trauen kann.«

»Hör mal, Tess«, sagte Shanti ruhig und warf Caine ein Trockentuch zu. »Eine gute Freundin von mir arbeitet für die Kinderfürsorge. Sie ist total nett. Ich rufe sie an, und wenn du einverstanden bist, wird sie sich mit dir unterhalten und vielleicht auch mit deiner Mum. Sie kann dir helfen, deine Probleme in den Griff zu bekommen. Ich möchte sichergehen, dass du die Unterstützung erhältst, die dir zusteht.«

Als Art erschreckend blass in seinem zerknitterten Anzug aus dem Schlafzimmer kam, legte Benno ihm die Handschellen an und führte ihn zu Shanti in die Küche. »Art Havfruen, ich verhafte Sie wegen des Besitzes von Substanzen der hochgefährlichen Klasse A, außerdem wegen des Verdachts sexueller Handlungen mit einer Minderjährigen nach Paragraf neun des Sexual Offences Act von 2003. Es steht Ihnen frei, sich dazu zu äußern, es sieht jedoch nicht gut aus, wenn Sie nicht mit uns kooperieren …«

Zum ersten Mal, seit Shanti ihm begegnet war, schwieg der Junge namens Art. Als Benno ihn aus dem Bungalow führte, drehte er sich noch einmal um und warf Tess Strawbridge, dem vernachlässigten Kind in Schuluniform, das an der Esstheke hockte und Coco Pops in sich hineinschaufelte, einen traurigen Blick zu.

 

Kurze Zeit später traf die Mitarbeiterin der Kinderfürsorge ein und ging mit Shanti und Tess ins Wohnzimmer hinüber, um sich in aller Ruhe mit den beiden zu unterhalten. Caine blieb allein in der Küche zurück und nutzte die Zeit, um die Befragung von Tess abzuspielen, die Shanti mit ihrem Handy aufgezeichnet hatte. Während er zuhörte, schrubbte er weiter seine Hände mit einer Nagelbürste, die Benno ihm aus dem Badezimmer gebracht hatte – die blaugraue, feuchte Schicht haftete an seiner Haut, als wäre sie mit Kleber vermischt.

Als er meinte, nichts weiter dagegen ausrichten zu können, trocknete er sich die Hände am Geschirrtuch ab. Anschließend füllte er Wasser in den Kessel, der hinter der italienischen Kaffeemaschine stand, um sich einen Tee zu machen. Er nahm sich sogar einen Löffel voll von Arts Honig, als Gegenleistung für seine Strapazen.

Irgendwann hörte er, wie sich die Wohnzimmertür öffnete, kurz darauf fuhr ein Wagen weg. Shanti betrat die Küche, ein schiefes Lächeln auf dem Gesicht.

»Herrgott, Caine. Haben Sie mal in den Spiegel geschaut? Sie sehen zum Fürchten aus!«

Caine warf einen Blick in das getönte Glas der Schranktür. Ein Mann starrte ihm entgegen – ein uralter, abgezehrter Mann mit grauer Mähne und pergamentener Haut. Eine grauenvolle Erscheinung seines zukünftigen Selbst.

Er rutschte auf einen Barhocker und rührte seinen Tee um.

»Sie sehen völlig fertig aus, Caine. Sie haben Ihre Sache gut gemacht – ich hätte Art niemals allein stellen können, und ich glaube, auch Bennos Sprintertage sind vorbei.«

»Aber die Folgen sind so groß, Shanti! Nicht nur für Art, sondern auch für das bedauernswerte Mädchen.«

»Vielleicht bekommt Tess jetzt die Fürsorge, die sie braucht. Benno hat einen Zungenabstrich für einen Schnelltest genommen, und Gott sei Dank sieht es so aus, als habe sie bis auf etwas Cannabis keine Drogen konsumiert. Was bedeutet, dass Art sie nicht mit etwas Stärkerem gefügig gemacht hat. Das ist die gute Nachricht, die schlechte ist, dass sie sich weigert, Anzeige gegen ihn zu erstatten. Sie behauptet, ihn aufrichtig zu lieben und dass alles zwischen ihnen in beiderseitigem Einvernehmen erfolgt sei.«

»Aber sie ist doch noch minderjährig …«

»Leider. Wenn sie die Aussage verweigert, wird Art aller Wahrscheinlichkeit nach mit einer Geldstrafe wegen Drogenbesitzes oder sogar bloß mit einer Verwarnung davonkommen. Manchmal hasse ich das Rechtssystem.«

Sie öffnete die Schranktüren, blickte sich suchend um und nahm schließlich ein Glas Instantkaffee heraus. »Ich muss zugeben, Caine, dass Sie recht hatten und ich nicht. Art hat ein wasserdichtes Alibi für den Tag des Mordes. Er ist unschuldig.«

»Unschuldig?« Caine schüttelte sein graues Haupt. »Ich frage mich, ob Menschen überhaupt unschuldig sein können.«

»Hm. Der Kerl braucht dringend eine Therapie … und jede Menge Multivitamine.«

Caine atmete tief aus. »Es ist doch jedes Mal dieselbe Geschichte – alles geht auf die frühe Kindheit zurück. Kinder sind wie Pflanzen, Shanti … nein, eher wie Setzlinge. Ich habe in letzter Zeit viel darüber nachgedacht. Wenn man sie mit Liebe und Ermutigung gießt, erblühen sie. Wenn man sie dagegen vernachlässigt oder herabwürdigt oder leugnet, dass Liebe … Nun, das ist wie Unkrautvernichter.«

»Sie haben sich so tapfer geschlagen … ein ganzer Morgen ohne Philosophie. Sie müssen wissen, dass mich Caine, der Actionheld, so viel mehr beeindruckt als Caine, der Philosoph. Ich habe es geliebt, wie Sie durch die Terrassentür gestürmt sind.«

Caine nippte in bedrücktem Schweigen an seinem Tee und dachte daran, dass sämtliche Handlungen Konsequenzen nach sich zogen – so wie die Unkrautvernichter-Erziehung Art hatte verwelken lassen. Und Tess. Und Paul … Und vielleicht auch ihn selbst.

Und dann passierte etwas Wunderbares in dem leeren Bungalow. Es war, als würde Shanti auf die Traurigkeit in seinem Herzen reagieren. Sie sah ihn voller Wärme an und sagte: »Wissen Sie was, Caine? Wir sollten jetzt erst mal dafür sorgen, dass Sie sich sauber machen können und wieder auf die Beine kommen. Ich brauche Sie bei diesem Fall.«

Sie zog ihn von seinem Barhocker ins Bad, holte einen Stuhl für ihn und wusch ihm geduldig mit einem Schwamm und warmem Wasser Gesicht und Haare ab.

Es dauerte eine ganze Weile, und Caine gab sich vollkommen dieser Erfahrung hin. Es war, als würde Shanti all seine Sorgen abwaschen, als sei der Lehm, der in spiralförmigen Schlieren im Ausguss verschwand, der Schmerz, der aus seinem Herzen gespült wurde …

Lass los, lass los, lass los.

Und obwohl Shanti unablässig über den Fall redete, minderte das nicht die Zärtlichkeit, die er in ihren Fingerspitzen spürte.

»Wissen Sie, was unheimlich ist, Caine? Die Art und Weise, wie Tess der jungen Kristal ähnelt – ist Ihnen das aufgefallen? Beugen Sie sich doch noch ein kleines Stück vor, wir wollen ja nicht Arts teures Badezimmer versauen … Ich nehme an, genau das hat ihn zu ihr hingezogen – Freud lässt grüßen. Jetzt machen Sie bitte mal die Augen zu, der verfluchte Lehm sitzt aber auch wirklich in jeder Pore … Wie dem auch sei – nun verstehen Sie sicher, warum ich mich von den Aufnahmen der Überwachungskameras habe täuschen lassen, genau wie von der ›Erscheinung‹ auf dem Friedhof … Warten Sie einen Moment …«

Sie sah sich suchend im Bad um und griff schließlich nach einer kleinen Glasflasche. »Es verstößt zwar strikt gegen die Regeln, sich Shampoo von einem Verdächtigen zu borgen, aber immerhin hat der Verdächtige Sie in diesen Zustand versetzt. Hmmm, fein – Teebaumöl für Männer.«

Caine bekam kaum ein Wort mit. Als Shanti das Shampoo in seine Haare massierte, driftete er in Gedanken in eine achtsame Welt der Glückseligkeit, in der jeder einzelne Nerv seiner Kopfhaut liebkost wurde.

»Überhaupt – das ändert alles. Ich werde Art offiziell als potenziellen Täter streichen und schwenke um auf die Theorie, dass Kristal in Mangrove House ermordet wurde, wohin der Tank mitsamt Formaldehyd am Vormittag der Ausstellungseröffnung geliefert wurde. Wir können ziemlich sicher davon ausgehen, dass sie in dem Tank – bereits tot – zur Meat Hook Gallery transportiert wurde. Art hat nicht bemerkt, dass die Figur darin in Wirklichkeit ein Mensch war, weil er wie immer völlig zugedröhnt war, außerdem war er von Tess abgelenkt, die überraschend auftauchte. Da die Lichter im Hauptausstellungsraum gedimmt waren, haben auch die Jungs von MasterMoves nichts bemerkt … Ich nehme an, dasselbe gilt für Ollie Sweetman, der den Tank poliert und die Stiefel auf den Deckel gestellt hat.« Shanti griff seufzend nach einem Handtuch. »Mist. Ich habe den Eindruck, ich hätte einen Schritt vor und fünf zurück gemacht, denn da ist immer noch die ewig gleiche Frage: Wer hat Kristal ermordet? Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber für mich schließt sich der Kreis bei Callum Oak. Ich habe dem Kerl nie über den Weg getraut. Er hat ein klares Motiv, und er besitzt sowohl die nötige Muskelkraft als auch den Verstand, um eine solche Tat auszuführen. Was denken Sie, Caine? Und jetzt raten Sie mir nicht, ich solle das Ungewisse umarmen, denn dann erdrossele ich Sie mit diesem Handtuch.«

Als sie ihm die Haare trocken rubbelte, fühlte sich Caine wie eine Katze, die warm und träge auf dem Schoß ihres Frauchens döste. Beinahe hätte er angefangen zu schnurren.

»Ich habe Sie etwas gefragt, Caine.«

Shanti stand auf und fing an, das Waschbecken zu säubern, was Caine aus seinem wohligen Stupor riss.

»Ich weiß, dass Sie so nicht ticken, Shanti, aber es gibt bei jedem Fall Momente, in denen es das Beste ist, eine Pause einzulegen und über die Situation nachzudenken. Ich finde, wir sollten Zeit im Wald verbringen.«

»Oh, das ist ein genialer Plan, Caine. Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen? Wir sollten losziehen und ein Pläuschchen mit einem Baum halten. Oder noch besser – lassen Sie uns gleich all Ihre Lieblingsbäume fragen, wer ihrer Meinung nach Kristal auf dem Gewissen hat.«

»Ich meine es ernst, Shanti. Mein Gefühl sagt mir, dass wir über alle nötigen Hinweise und Informationen verfügen. Es ist verblüffend, wie oft mir die Antworten auf offene Fragen in der Natur kommen. Tatsächlich ist mir gerade etwas eingefallen …«

»Herrgott, Caine. Hoffentlich hilft uns das weiter.«

»Es ist eine Zeile aus einem Gedicht … Wordsworth, glaube ich … ›Mag sein, was an Impulsen wir empfangen in einem immergrünen Wald, uns aufschließt auch den ethischen Belangen, wo Theorie das Herz lässt kalt.‹«