Kapitel zwei

Der feuchtkalte Geruch des Todes

Als das Handy in ihrer Tasche vibrierte, konzentrierte sich Detective Inspector Shanti Joyce gerade auf eine Maus, die durch einen Wald spaziert.

Sie hatte die Stelle erreicht, an der die Maus dem warzennasigen Grüffelo begegnet, und stellte erleichtert fest, dass ihr Sohn Paul endlich eingeschlafen war.

»Ich hoffe, es ist wichtig, Benno«, zischte sie ins Telefon, trat hinaus in den Flur und schloss leise die Kinderzimmertür hinter sich. »Und damit meine ich nicht einfach nur wichtig, sondern lebenswichtig.«

»Sieht ganz danach aus, Chefin.«

Shanti fühlte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Im Grund hatte sie auf einen Anruf wie diesen gewartet.

Unten in der Küche trank sie mit großen Schlucken eine halbe Tasse lauwarmen Kaffee, während Benno sie über die Vorgänge in der Meat Hook Gallery ins Bild setzte. Shanti schlüpfte in ihre Laufschuhe, griff nach ihrer Jacke und rief nach ihrer Mutter, die im Wohnzimmer fernsah.

Noch vor ein paar Minuten hatte sie sich auf ein, zwei Gläser Merlot, ein Bad, ein Stündchen vor der Glotze und eine Mikrowellenmahlzeit mit Mum gefreut, bis sie schließlich sanft eingedämmert wäre, doch nun hatte Bennos Anruf sie hellwach gemacht.

Eilig stieg sie ins Auto, startete den Motor und legte den Sicherheitsgurt an, dann gab sie Gas und fuhr aus der ruhigen Sackgasse.

Die Geschichte klang bizarr: Der Leichnam einer Künstlerin trieb auf ihrer eigenen Ausstellung in einem Glastank, gefüllt mit Formaldehyd.

Shanti dachte daran, wie sie zum ersten Mal mit dem stechenden Geruch der Chemikalie konfrontiert worden war. Sie hatte während ihrer Ausbildung zusammen mit ihren Mitstreitern eine Leichenhalle besucht. Der Leichnam war mehrere Monate alt, weshalb das Fleisch gummiartig und gelb geworden war, doch es war der Geruch, der sie verfolgte: ein strenger, beißender Gestank, der einem durch die Nasenlöcher bis in den hintersten Winkel des Schädels stieg, wo er für eine sehr lange Zeit festhing. Die Männer waren entsetzt zurückgeschreckt, einer war sogar umgekippt. Aber nicht Shanti Joyce. Sie war aus hartem Holz geschnitzt, und ihr stahlharter Kern war der Grund dafür, warum sie mit Anfang dreißig zum Detective Inspector aufgestiegen war.

Doch das war schon lange her. Vor dem verpfuschten Fall und dem Umzug nach Südwestengland. Vor der elenden Scheidung.

Ihre Entschlossenheit, alles ins Lot zu bringen – zumindest, was den Fall anging –, schien ihren Saab 900 auf den mit Blättern übersäten Straßen von Somerset zu befeuern, sie so schnell wie möglich zum Ziel zu bringen. Das Navi zeigte an, dass es bis zur Galerie nur noch vierzehn Meilen auf der A359 waren. Sie würde in neun Minuten da sein.

Shantis Augen blieben an dem Müllhaufen im Fußraum hängen – achtlos weggeworfenes Sandwichpapier, ein Paar Fußballsocken von Paul sowie mehrere Ordner mit unerledigtem Papierkram. Der Anblick ließ sie zusammenzucken. Eigentlich hieß Shanti Shantala, aber schon als kleines Mädchen hatte man sie nur »Shanti« genannt. Ihre damaligen Kollegen im Norden von London hatten den Namen übernommen und waren sogar so weit gegangen, ihr chaotisches Büro als »Shanti Town« zu bezeichnen.

Sie erreichte ihr Ziel, bog auf den in gedämpftes Licht getauchten Parkplatz ein und ließ das Fenster herunter, um mit dem uniformierten Polizisten am Tor zu sprechen.

»Sorgen Sie dafür, dass niemand rein- oder rauskommt, Dunster. Nicht mal Jesus Christus höchstpersönlich.«

»Jawohl, Chefin. Die Sanitäter sind unterwegs. Was soll ich tun, wenn Jesus am Steuer sitzt?«

»Hör zu, Dunster, wenn du lieber als Komiker arbeiten möchtest, kann ich das arrangieren.«

Sie parkte neben vier Streifenwagen und einem großen Van, der dem HazChem-Team gehörte – die Kurzform für Hazardous Chemicals –, welches stets eingesetzt wurde, wenn gefährliche Chemikalien im Spiel waren. Shanti ließ den Blick über die umgebauten Farmgebäude und eine Reihe unverständlicher Skulpturen im Hof schweifen, dann stieg sie aus und ging durch die blaulichtpulsierende Nacht.

Sergeant Bennett, der Mann, der die Begegnung zwischen Maus und Grüffelo vereitelt hatte, trat auf sie zu. Shanti mochte Benno. Er war ein älterer Cop mit Töchtern im Teenageralter. Einer der wenigen männlichen Polizisten, dessen Augen nicht über ihren Körper glitten, wenn sie miteinander sprachen.

»Erster Eindruck, Benno?«

»Bizarr. Ausgesprochen bizarr. Die Sache ist doppelt kompliziert, denn wir haben es mit einem Chemieunfall zu tun. Ich habe die Räumlichkeiten evakuieren lassen, draußen warten etwa zweihundert Gäste. Solange das HazChem-Team kein grünes Licht gibt, darf niemand rein.«

»Ich brauche Zutritt, Benno.«

»Das weiß ich, Chefin. Sie werden sich schick machen müssen.«

Er führte Shanti in den Geschenkeladen der Meat Hook Gallery, wo ein dürrer Mann mit einem Menjoubärtchen wartete. Sein Schottenkaroanzug roch schwach nach Formaldehyd.

»Saul Spencer«, stellte er sich vor und streckte eine zitternde Hand aus. »Ich bin der Kurator. Das Ganze kommt mir vor wie ein Albtraum. Die ganze Zeit über denke ich, ich wache wieder auf und …«

»Albträume riechen nicht, Mr. Spencer. Hier dagegen stinkt es wie in Frankensteins Labor, weshalb wir davon ausgehen können, dass die Sache real ist.«

Ihre Worte klangen härter als beabsichtigt, doch innerlich verwandelte sich Shanti gerade von der Mutter in den Cop, und Galgenhumor war Teil ihres Panzers. Sie folgte Benno und Spencer zwischen den rätselhaften Kunstwerken hindurch zum fraglichen Ausstellungsraum, und mit jedem Schritt wurde der Übelkeit erregende Gestank stechender.

»Zur Hauptgalerie geht es hier entlang«, sagte Spencer mit aschfahlem Gesicht. Und dann presste er sich plötzlich ein Taschentuch mit Paisleymuster auf den Mund, würgte heftig und flüchtete den Gang entlang wie eine spillerige Spinne.

Ein Mann in einem blauen Kapuzenoverall mit Schutzbrille und Atemschutzmaske bewachte die großen Metalltüren des Hauptausstellungsraums.

Er streckte eine behandschuhte Hand aus und reichte jedem von ihnen ein Paket mit Schutzkleidung. Als sie komplett ausstaffiert waren, fühlte sich Shanti, als habe sie eine Welt der eingeschränkten Empfindungen betreten, in der die Kommunikation beeinträchtigt war und das Sichtfeld erst ein paar Schritte von ihr entfernt begann.

Der Officer des HazChem-Teams überprüfte ihre Kleidung auf undichte Stellen rund um Handschuhe und Stiefelränder. Endlich nickte er und drückte eine Hälfte der schweren Tür auf.

Shanti hatte gedacht, sie hätte in ihrem Job schon alles gesehen, aber der Anblick ließ sie nach Luft schnappen. In dem riesigen Raum bewegten sich Außerirdische langsam durch das trübe Licht. Auf einem von Scheinwerfern erhellten Podest neben einem umgekippten Tank unternahm ein maskierter Officer Wiederbelebungsübungen an dem schlaffen, tropfnassen Körper einer Frau in einem weißen Kleid. In einer sich ausbreitenden Pfütze aus bernsteinfarbener Flüssigkeit lag ein Paar roter Dr.-Martens-Stiefel.

Benno tippte Shanti auf die Schulter, und als sie sich zu ihm umwandte, sah sie, dass er ihr ein Zeichen gab. Zwei Finger an der Kehle und ein einfaches Kopfschütteln bedeuteten in jeder Sprache dasselbe – die Porzellanfrau war tot.

Binnen weniger Minuten übernahm Shanti die Führung. Es mussten Fotos von der Leiche gemacht werden. Das Gebiet sollte mit Polizeiband abgesperrt werden – und das da drüben ebenfalls. Sie checkte die Eingänge – die große Doppeltür mit einer Rampe für Gabelstapler und Rollstühle, außerdem zwei Notausgänge, die sie untersuchte und dann vorsichtig mit den Fingerspitzen öffnete, um für etwas Luft zu sorgen.

Das war die entscheidende Stunde, in der einem die Hinweise wie Sand zwischen den Fingern zerrinnen konnten.

Draußen trafen weitere Rettungswagen ein, blinkende Lichter zuckten durch die Nacht wie auf einem Rummelplatz. Auf dem gekiesten Bereich und dem Rasen dahinter standen an die zweihundert elegant gekleidete Kunstliebhaber, die jammerten und erstickte Laute von sich gaben wie bezahlte Trauergäste bei einer römischen Beerdigung. Im Gegensatz zu der Selfies schießenden Meute, die sich in London an Tatorten versammelte, wich diese Gruppe so weit wie möglich vom Ort des Geschehens zurück; einige der Versammelten ließen ihre tränenden Augen oder gereizten Kehlen von den Ersthelfern behandeln.

Shanti bedeutete Benno, ihr zu folgen, verließ die Hauptgalerie durch einen der Notausgänge und setzte Kapuze und Atemmaske ab. In dem Overall war es heiß wie in einer Sauna, und die kalte Luft tat ihren Lungen gut.

»Herrgott, Benno, jeder dieser Leute könnte ein Zeuge sein. Sieh nur, die latschen über das ganze Gelände. Können wir die nicht irgendwo zusammentreiben und anfangen, die Aussagen aufzunehmen?«

»Die HazChem-Jungs haben das Restaurant freigegeben«, erwiderte Benno. »Sollen wir sie dorthin bringen?«

»Okay, aber sie dürfen auf keinen Fall durch die Galerie gehen.«

»Es gibt einen Seiteneingang.«

»Gut. Kümmerst du dich darum, Benno? Sorg dafür, dass sie Platz nehmen, und treib Kaffee oder sonst was auf. Keinen Alkohol. Lass Decken verteilen, wenn welche benötigt werden. Ich brauche von jedem den Ausweis und eine Erstaussage – keine Ausnahmen. Sollte irgendwer etwas Ungewöhnliches bemerkt haben, gib mir Bescheid. Falls jemand Fotos gemacht hat, will ich das Handy haben. Ach ja, bring die Leute wenn möglich dazu, dass sie sich von den sozialen Medien fernhalten. Und schick jemanden los, der jedes Nummernschild auf dem Parkplatz notiert.«

Ein großer, lockiger Mann, der sich in eine Foliendecke gehüllt hatte, lehnte an einer Wand. Er schien in einer ausgesprochen schlechten Verfassung zu sein. Sein Anzug war triefnass, seine Schultern zuckten. Mehrere Umstehende versuchten, ihn zu trösten.

»Wer ist das, Benno?«

»Das ist der Witwer, Callum Oak. Ich habe seine Aussage aufgenommen. Er war der Erste, dem auffiel, dass Kristal in dem Tank trieb – anders als bei den übrigen sonderbaren Kunstwerken. Er hat versucht, den Deckel anzuheben, aber er war fest verschlossen. Daraufhin ist er durchgedreht und hat das ganze Ding umgekippt, und dann konnte er den Deckel endlich aufstemmen und Kristal herausziehen. Leider sind dabei auch mehrere Liter Formaldehyd ausgelaufen. Es war absolut grauenvoll, denn er hat versucht, ihr eine Mund-zu-Mund-Beatmung zu geben, wobei er jede Menge von dem Zeug abgekriegt haben muss.«

Während sie sprachen, wurde der Mann in einen Rollstuhl verfrachtet und zu einem der Rettungswagen gebracht, sein ganzer Körper zuckte vor Schock und Elend. Keine Chance, ihn heute Abend zu befragen.

Als Benno die Menge zum Restaurant führte, musterte Shanti die an ihr vorbeiziehenden Gesichter – einige wirkten sichtlich gequält, andere eher aufgeregt und staunend. Und wie immer beschwerten sich ein paar tatsächlich über die Unannehmlichkeiten. Unter den Letzten, die Benno zum Restaurant folgten, entdeckte sie den dünnen Kurator, Saul Spencer.

»Auf ein schnelles Wort, Mr. Spencer.«

Er sah sie mit Leichenbittermiene an und nickte.

»Ich habe einige Kameras unter dem Dach der Hauptgalerie bemerkt, und vermutlich gibt es noch weitere. Sind die allesamt funktionsfähig?«

»Ja, es gibt eine Videoüberwachung in jedem Raum des Gebäudes.«

»Ich will nicht, dass auch nur eine Millisekunde der Aufzeichnungen verloren geht. Ist das klar?«

»Ja. Ich werde mich sofort darum kümmern.«

»Wer hat die Ausstellung vorbereitet?«

»Nun, mein Team war in alles involviert, nur nicht in das, was in der Hauptgalerie stattfinden sollte. Was dieses Werk anbetraf, hat Kristal auf absolute Geheimhaltung bestanden.«

»Ist das nicht seltsam?«

»Nein, nicht wirklich. Kristal liebte ein bisschen Theater.«

»Ich nehme an, es gab eine Lichtshow – mit dramatischer Musik und Scheinwerfern. Wer war dafür zuständig?«

»Kristal hatte alles an einen Bewegungsmelder mit Zeitverzögerung gekoppelt. Er wurde aktiviert, als wir die Galerie betraten.«

»Okay, ich versuche, eine Liste der Schlüsselfiguren bei diesem Zwischenfall zusammenzustellen. Abgesehen von Ihnen, versteht sich.«

»Bin ich etwa ein Verdächtiger?«

»Das haben Sie gesagt, Mr. Spencer, nicht ich. Wer wusste denn sonst noch von diesem Kunstwerk?«

»Nur sehr wenige Leute. Lassen Sie mich überlegen … Da war zum einen Kristals Assistent, ein alter Freund der Familie namens Oliver Sweetman. Ein großer, lustiger Kerl – er ist heute Abend hier. Dann vermutlich ihr Ehemann, Callum Oak. Ich denke schon, dass er eingeweiht war.«

»Er ist gerade in einem Rettungswagen weggebracht worden.«

»Der arme Mann. Das waren aber auch schon alle. Außer Art natürlich.«

»Art?«

»Art Havfruen ist Kristals und Callums Sohn. Haben Sie je von A Boy Named Art – ›Ein Junge namens Art‹ gehört?«

»Da muss ich passen, aber ich komme gern später darauf zurück. Nur um sicherzugehen, dass ich das richtig verstanden habe: Die einzigen Personen, die wussten, was Kristal in der Hauptgalerie plante, waren ihr Assistent Oliver Sweetman, ihr Sohn Art Havfruen und möglicherweise ihr Ehemann Callum Oak.«

»Das ist korrekt.«

»Aber irgendwer muss doch den Glastank geliefert haben. Was wissen Sie darüber?«

»Entschuldigung, das hätte ich erwähnen müssen. Wir arbeiten mit einem auf Kunstwerke spezialisierten Transportunternehmen zusammen, das sich MasterMoves nennt und in der Kunstwelt sehr bekannt ist … ›Wir passen auf Ihren van Gogh auf, solange die Moneten stimmen‹  verstehen Sie?«

Shanti blickte ihn befremdet an.

»MasterMoves ist wochenlang zwischen der Galerie und Kristals Studio hin- und hergefahren«, fuhr Spencer fort. »Sie haben sämtliche Kunstwerke für die Ausstellung gebracht. Der Tank in der großen Galerie muss ihre letzte Lieferung gewesen sein; ich habe heute Nachmittag zwei Männer gesehen, die eine Kiste auf einen Gabelstapler luden. Wahrscheinlich war darin der Tank. Er wurde über eine Rampe durch die Doppeltüren in die Hauptgalerie gebracht. Die Jungs von MasterMoves arbeiten ausgesprochen schnell und effizient, aber davon können wir uns selbst überzeugen, sobald wir die Bänder aus den Überwachungskameras haben.«

»Was ist mit dem Formaldehyd? Wann wurde das in den Tank gefüllt?«

»So etwas ist nicht Kristals Sache. Ich gehe davon aus, dass der Tank bereits gefüllt und fest verschlossen geliefert wurde. Ich weiß, dass sich in den kleineren Ausstellungsräumen mehrere mit Formaldehyd gefüllte Behälter befinden, da ich deren Installation überwacht habe. Sie wurden alle bereits gefüllt geliefert, es wäre sonst auch gar nicht möglich gewesen, den Transport zu versichern.«

Am Ende der zum Seiteneingang des Gebäudes schlurfenden Menge machte ein blassgesichtiger junger Mann lautstark seinem Unmut Luft.

»Sie können mich hier nicht festhalten!«, blaffte er. Er trug einen zerknitterten Anzug und spitze Stiefeletten, das blonde Haar war zu einer Stachelfrisur geformt. Wild gestikulierend, als halte er eine feurige Rede, schritt er auf dem gekiesten Weg auf und ab.

»Das ist der Sohn«, flüsterte Spencer. »Art Havfruen.«

»Entschuldigen Sie mich«, sagte Shanti, »ich muss dringend mit ihm reden.« Sie wandte sich ab und ging auf den aufgebrachten Mann zu. »Beruhigen Sie sich, Mr. Havfruen«, beschwichtigte sie ihn, doch sein Benehmen wurde von Minute zu Minute befremdlicher.

Selbst in der Dämmerung brauchte sie nur einige Sekunden, um zu begreifen, dass der ungesund aussehende Bursche high wie ein Airbus war. Seine Pupillen waren geweitet, und er wirkte völlig überdreht – wahrscheinlich Koks oder Speed.

Plötzlich ging Art Havfruen auf sie los. »Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind, verdammte Scheiße?«, stieß er wütend hervor. »Meine Mutter ist da drin, und ich werde behandelt wie ein gottverdammter Krimineller!«

Jetzt, wo sie ihn direkt vor sich hatte, konnte Shanti die weißen Pulverreste rund um seine Nasenlöcher erkennen. Havfruen knirschte mit den Zähnen. »Mir ist bewusst, wie schrecklich das hier für Sie ist«, sagte sie, »aber bitte treten Sie einen Schritt zurück und beruhigen sich, Mr. Havfruen. Wir versuchen herauszufinden, was passiert ist. Ich bin mir sicher, dass das auch in Ihrem Sinne ist.«

Er stach mit dem Zeigefinger in ihre Richtung. Nur wenige Zentimeter vor ihren Augen hielt der Finger inne. »Sie haben doch keine Ahnung, was ich will!«

»Nehmen Sie Ihren Finger aus meinem Gesicht, Mr. Havfruen.«

Der Finger bewegte sich und bohrte sich hart in ihre Schulter. »Sagen Sie mir nicht, was ich zu tun habe.«

Der Plastikoverall beeinträchtigte ihre Bewegungen, trotzdem gelang es Shanti, in einer einzigen, fließenden Bewegung den angriffslustigen Zeigefinger zu packen und Havfruen den Arm auf den Rücken zu drehen.

»Du tust mir weh, Miststück!«, schrie er und versuchte, sich loszureißen.

»Und Sie hindern vorsätzlich einen Officer an der Ausübung seiner Pflicht.«

Vielleicht war sie ein bisschen zu energisch gewesen, aber Shanti reagierte auf aggressive Männer extrem allergisch. »Sergeant Bennett, wären Sie so freundlich, Mr. Havfruen zum Restaurant zu begleiten? Ihm bleibt die Wahl zwischen Kaffee und Handschellen – das ist mir gleich.«

»Das können Sie nicht machen«, jammerte Havfruen.

»Paragraf 89 des Polizeigesetzes von 1996 sagt, dass wir das durchaus können«, stellte Benno klar.

Havfruen versuchte ein letztes Mal, sich Shantis Griff zu entwinden, wobei sein Jackett aufsprang. Aus der Innentasche fiel ein kleiner Plastikbeutel und landete auf dem Kiesweg.

Shanti blickte zu Boden. »Oh, ich glaube, Sie haben etwas verloren, Mr. Havfruen. Keine Sorge, ich kümmere mich darum und bringe es für Sie zum Fundbüro.«

Benno fasste Art Havfruen fest am Arm und führte ihn zum Restaurant, während Shanti sich bückte und den aufgeplatzten Beutel aufhob, der eine zarte, weiße Puderwolke auf dem Kies hinterlassen hatte. Sie aktivierte die Taschenlampenfunktion ihres Handys, nahm eine Fingerspitze voll Pulver und hielt es sich an die Nase. Die Spurensicherung war bereits auf dem Weg hierher und würde jeden Augenblick da sein. Sie würde die Stelle kennzeichnen, an der das Tütchen auf den Boden gefallen war, und den kleinen Beutel den Kriminaltechnikern überlassen, damit die ihn eintüten und später untersuchen konnten. Wenigstens regnete es heute Abend nicht. Was immerhin etwas war.

Das HazChem-Team hatte ein lärmiges Ventilationssystem angeworfen, um die Formaldehyddämpfe aus der Galerie zu vertreiben. Als Shanti ihre Kapuze aufsetzte, roch sie ihn erneut – den feuchtkalten Geruch des Todes.

In der Ferne hörte sie das widerhallende Gezeter des Jungen namens Art, der etwas über Schikane und Menschenrechte von sich gab. Sie wusste, dass es eine lange Nacht werden würde, aber das machte ihr nichts aus. Abgesehen von dem schlafenden Achtjährigen in Yeovil und ihrer Mum, interessierten sie nur zwei Dinge: diese Ermittlung erfolgreich abzuschließen und den Ruf von DI Shanti Joyce wiederherzustellen.