Kapitel zweiundzwanzig

Doughnuts auf dem Totenbett

Am folgenden Morgen auf dem Weg nach Mangrove House nahmen sie die Diskussion wieder auf, als hätte es keinerlei Unterbrechung gegeben.

»Ich habe mit Paul über Ihre Symbiose-Theorie gesprochen«, sagte Shanti, die hinter dem Lenkrad saß.

»Sie schließen sich meiner Meinung an?«, fragte Caine, der wieder einmal kryptische Symbole in sein Notizbuch kritzelte.

»Herrgott, Caine, Sie haben das wirklich nicht richtig durchdacht.«

»Wieso nicht?«

»Na schön, denken Sie mal darüber nach: Paul sagte, Sie seien ihm mit all diesem abergläubischen Humbug gekommen, als Sie irgendeinen Pilz entdeckten, der an einem Baum wuchs.«

»Das ist richtig.«

»Und was für ein Baum war das?«

»Eine Eiche.

»Genau. Eine Eiche. Verstehen Sie? Oak – Eiche! Das Universum spricht zu Ihnen, und Sie hören nicht zu. Falls Sie sich erinnern: Ich habe Ihnen eine lange Liste mit glaubhaften Motiven geliefert, die eindeutig darauf hinweist, dass Oak der Killer ist. Können Sie mir einen einzigen vernünftigen Grund nennen, warum Sie ihn für unschuldig halten?«

»Ich habe ihm in die Augen gesehen.«

»Sie haben ihm in die Augen gesehen! Und verraten Sie mir auch, was Sie dort gesehen haben?«

»Shanti, Callum ist ein grundanständiger Mann und ein sensibler Künstler. Deshalb konnte Kristal auch derart mit ihm umspringen.«

»Und was ist mit Sweetman? Alle, mit denen wir sprechen, beschreiben ihn als ausgesprochen sanftmütig. Er hält Tauben, spielt Minigolf und isst gern Kuchen zum Tee. Und trotzdem ist er ein perverser Killer, was ich beinahe am eigenen Leibe erfahren hätte. Außerdem hat er Sex mit Puppen.«

»Das eine hat nicht unbedingt etwas mit dem anderen zu tun.«

»Bei unserer Arbeit geht es darum, ein plausibles Motiv aufzudecken. Was sollte Marlenes Motiv sein?«

»Sie war in Callum verliebt.«

»Aber das ist Jahre her! Sie hat sich auch wieder ›entliebt‹, erinnern Sie sich? Vertrauen Sie mir, Oak ist unser Mann.«

»Ich vertraue Ihnen, Shanti, aber meine Intuition sagt mir, dass Sie einen Fehler machen.«

»Und worauf gründet sich diese Intuition? Auf Ihr drittes Auge? Das hier ist eine Mordermittlung, DI Caine, kein Kegelausflug unter guten Kumpeln.«

»Vielleicht haben Sie recht. Vermutlich ist das der Grund dafür, warum ich niemals einen guten Cop abgeben werde. Um ehrlich zu sein, finde ich die ganze Sache sehr verstörend.«

»Was verstört Sie daran denn so sehr? Taschentücher sind übrigens im Handschuhfach.«

»Alles. Alles daran verstört mich – Ollie, Art, Tess … Die Polizeiarbeit destabilisiert mich. Sie bringt mich aus meinem inneren Gleichgewicht.«

»Hören Sie, Caine, ich mache nicht schnell Komplimente, aber Sie sind ein guter Cop. Allerdings sollten Sie Ihre Gefühle außen vor lassen. Gefühle machen sich wunderbar in Familien und … Sie wissen schon … Beziehungen. Kriminalfälle zu lösen erfordert dagegen kühle, knallharte Logik. Cops sind Wissenschaftler, Caine. Fragen Sie mich mal nach meinen Gefühlen.«

»Okay, wie sieht’s mit Ihren Gefühlen aus?«

»Im Augenblick bin ich total aufgekratzt, bereit, zuzuschlagen wie eine Amazonenkriegerin. Ich denke, heute wird ein heftiger Tag. So, da sind wir, also lassen Sie besser Ihr Notizbuch und Ihre Gefühle im Wagen.«

Sie stiegen aus dem Saab und gingen auf das hohe, sonnenbeschienene Flügeltor von Mangrove House zu. Es war verschlossen, rund um die steinernen Torpfosten wucherte Unkraut. Selbst von hier aus konnten sie sehen, dass keine Fahrzeuge in der Nähe des Hauses parkten.

»Sieht nicht so aus, als sei Mr. Oak zu Hause«, murmelte Shanti. »Das trifft sich gut.«

»Vielleicht ist er beim Einkaufen. Oder in der Kirche.«

»In der Kirche – dass ich nicht lache! Er hat sich aus dem Staub gemacht. Er wird von Sweetman erfahren haben und scheißt sich jetzt in seine Cord-Kniebundhose.«

Caine zog den Mantel aus und stopfte ihn durchs offene Wagenfenster. »Ich sehe mich mal um«, sagte er dann.

Shanti sah zu, wie er geschmeidig wie ein Jaguar über das Tor kletterte und auf der anderen Seite zu Boden sprang, bevor er zügig die Auffahrt entlangjoggte. Er umrundete das Haus, warf einen Blick in ein, zwei Schuppen und sprang dann die Wendeltreppe an der Garage hinauf, von wo aus er den Blick über den Garten schweifen ließ und in Oaks Atelier spähte.

Nach fünf Minuten war er wieder an ihrer Seite. »Sie hatten recht, ist keiner zu Hause. Die Hunde sind drinnen, aber ich konnte sehen, dass Callum Zeitungspapier auf dem Fußboden ausgebreitet und ihre Näpfe mit Trockenfutter und Wasser gefüllt hat. Sieht so aus, als würde er über Nacht wegbleiben.«

Shanti beugte sich durch die offene Scheibe in den Saab und griff nach dem Funkgerät. »Benno, lass Oaks Wagen zur Fahndung ausschreiben. Hast du die Details? Silberner Volvo Kombi: Gustav – eins – fünf – Samuel – Anton – Julius – Ypsilon. Bitte superschnell. Over

Anschließend umrundete sie rastlos den Wagen und wartete darauf, dass sich Benno via Funk meldete. Nach ein paar Runden blieb sie stehen und fragte: »Sind Sie bereit, Caine? Ich bin heute Shanti Schwarzenegger auf Oak-Jagd.«

»Wie geht’s Paul?«, erkundigte er sich, anstatt ihre Frage zu beantworten. Er wirkte um einiges entspannter als vorhin.

»Es geht ihm besser. Er ist bei meiner Mum. Er macht einen ruhigeren Eindruck, und er möchte lernen, wie man meditiert.«

Das Funkgerät knisterte.

»Benno! Das ging aber schnell … Er macht was? … Jetzt? … Okay, gute Arbeit … Nein, wir brauchen keine Verstärkung. Das kriegen wir schon hin. Du weißt doch, wie Caine ist, wenn er die Fährte erst einmal aufgenommen hat – ein Bluthund ist nichts dagegen.«

Sie sprang ins Auto, ließ den Motor an und drückte aufs Gas, noch bevor Caine richtig eingestiegen war. Als er seinen Sicherheitsgurt anlegte, schoss Shanti die Zufahrt hinunter; unter den Rädern des Saab spritzte Kies auf.

»Die Verkehrsüberwachungskameras haben ihn auf der A30 gefilmt; er war in westlicher Richtung nach Bodmin unterwegs. Benno gibt uns Bescheid, sobald er die weitere Strecke kennt.«

»Was denken Sie, was er vorhat?«

»Ich denke, dass Callum der Killer abgebrüht, aber verzweifelt ist, weshalb ich darauf tippe, dass er auf direktem Wege nach Falmouth fährt. Dort kennt er sich am besten aus … und dort hat der ganze Ärger begonnen.«

»Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, Shanti? Warum rufen Sie Callum nicht einfach an und fragen ihn, wohin er fährt?«

»Ach, Caine, Sie sind wirklich der süßeste Polizist der ganzen Truppe. Ich wette, den Bösewichten wird ganz warm ums Herz, wenn DI Caine sie hopsnimmt.«

Sie rasten an der Peripherie von Exeter vorbei, an der langen Flanke von Dartmoor zeigte der Tachometer bis zu hundertzehn Meilen pro Stunde an. Shanti fummelte am Suchlauf, bis sie Radio Devon gefunden hatte.

»Oh, den Song habe ich geliebt!«, rief sie und drehte die Lautstärke auf. »You gotta search for the hero inside yourself … Auf welche Musik stehen Sie, Caine? Pink Floyd? Björk? Manfred Mann?«

»Alles Mögliche. Ich bin ein großer Philip-Glass-Fan, und ich mag Brian Eno, vor allem die frühen Sachen wie Music for Airports.«

»Die kenne ich nicht. Ich bin ein echter Soul-Fan – ich finde alles toll, worauf man tanzen kann …«

»Ihnen macht das wirklich Spaß, nicht wahr?«, fragte Caine mit einem schiefen Lächeln.

»Erzählen Sie mir nicht, Sie hätten keinen Kick von der nächtlichen Fahrt gestern bekommen. Ich denke nur an den Stunt mit den quietschenden Reifen.«

»Um ehrlich zu sein, ziehe ich spirituelle Reisen vor.«

»Ratet mal, wo er jetzt ist?«, quäkte Bennos Stimme aus dem Funkgerät am Armaturenbrett. Shanti stellte die Musik leiser.

»Ähm … er fährt Richtung Falmouth?«, vermutete sie.

»Woher weißt du das, Chefin? Das ist korrekt, er hat ungefähr eine Stunde Vorsprung. Ich würde ihn gern abfangen, nicht, dass jemand verletzt wird. Wir haben drei Streifenwagen in einem Zwanzigmeilenradius. Over

»Hast du jemals Kricket gesehen, Benno? Weißt du, was passiert, wenn zu viele Spieler demselben Ball nachjagen? Das hier ist mein Fang. Over and out

An Caine gewandt sagte sie: »Sie können etwas von mir lernen, Caine: Sie müssen sich in den Kopf des Killers hineinversetzen. So wie ein Schauspieler. Positivstes Szenario: Oak wandert unter Tränen durch die Kunsthochschule auf der Suche nach seiner verlorenen Unschuld. Negativstes Szenario: Marlene weiß, dass Oak seine Frau ermordet hat, und nun fürchtet er, dass sie ihn bei der Polizei verpfeift. Er hat schon einmal getötet – auf eine alte Frau mehr oder weniger kommt es da nicht an. Zwei Minuten mit einem Kissen – mehr braucht’s nicht, um sein Problem zu lösen.«

»Shanti, ich halte Oak wirklich nicht für einen Serienmörder. Aber wenn er eine Dummheit begeht – sich selbst oder eine andere Person betreffend – und Sie es versäumt haben, Verstärkung anzufordern, könnte das das Ende Ihrer Karriere bedeuten. Sie wissen das. Warum gehen Sie das Risiko ein?«

Shanti erwiderte nichts. Stattdessen drückte sie mit zusammengebissenen Zähnen das Gaspedal durch und konzentrierte sich auf den Asphaltstreifen Richtung Land’s End.

Die goldenen Zeiger der alten Uhr auf dem Marktplatz standen auf fünf vor halb elf, als sie in Falmouth ankamen. Zwei Minuten später parkte Shanti in einer winzigen Lücke am Vernon Place, direkt hinter Oaks silbernem Volvo, gute fünfundzwanzig Meter von Marlenes Haustür entfernt.

»Volltreffer!«, stieß sie aufgeregt hervor und setzte die Absätze auf dem Asphalt auf.

Die Handfläche über die Augen gewölbt, spähte sie ins Innere von Oaks Kombi, dann stiefelte sie an den kleinen, friedlich im Sonnenschein daliegenden Reihenhäusern vorbei zu Marlenes Cottage.

Sie drückte den Daumen auf die Klingel, doch alles, was sie hörte, waren der Wind und das Schreien der Möwen in der Ferne.

Marlenes Klingel war endgültig hinüber.

Shanti pochte und hämmerte gegen die Tür. Sie wartete zwei Minuten, dann lief sie um das Cottage herum zu einer schmalen, kopfsteingepflasterten Gasse an der Rückseite der Häuser. Caine folgte ihr eilig. An einer Leine flatterte Wäsche im Wind.

»Hier ist es«, sagte Caine und öffnete ein kniehohes Gartentörchen. Sie betraten einen kleinen, ungepflegten Garten, in dem ein brauner BH steif an der Leine hing. Aus einem Aschenbecher auf einem kleinen weißen Plastiktisch quollen zusammengerollte Pappspitzen von selbst gedrehten Tüten und Zigarettenkippen wie Lava aus einem Vulkan. Die Tür zu dem kleinen Gewächshaus stand offen. Shanti und Caine betraten das tropisch warme Innere, durch das der berauschende Duft eines Hanf-Regenwalds waberte.

Shanti drehte den Knauf der Hintertür und nickte. Die Tür sprang auf, und sie betraten die Küche.

»Marlene!«, rief sie. »Marlene!«

Keine Antwort.

Caine folgte Shanti in das mit Kunstwerken gefüllte Wohnzimmer. Es war kalt im Haus. Als sei schon eine Weile niemand mehr hier gewesen. Irgendetwas an diesem Ort kam ihnen verkehrt vor.

Wie ein Revolverheld aus einem Western pirouettierte Caine um den Treppenpfosten und huschte die mit Teppich ausgekleideten Stufen neben dem Treppenlift hinauf. Shanti blieb ihm dicht auf den Fersen, doch auch, wenn sie sich alle Mühe gab, sich so geräuschlos wie möglich zu bewegen, knarzten die Stufen unter ihren Stiefeln. Die Luft war dick von Nikotin und Staub, wie in einer Pyramide, die von kettenrauchenden Mumien bewohnt wurde.

Caine schlich durch den Korridor und warf einen Blick in ein olivfarbenes Badezimmer, das mit Handläufen, Dusch- und Badewanneneinstiegshilfen und Hebevorrichtungen ausgestattet war wie ein Fitnessraum im Geriatriezentrum. Eine andere Tür öffnete sich zu einem Gästezimmer, in dem ein Gästebett und jede Menge Dinge standen, die sich im Lauf eines Lebens so ansammelten. Am anderen Ende des Korridors befand sich eine niedrige rosa Tür mit einem Namensschild aus Emaille und einem Motiv von Monet, auf dem Marlene stand.

Mit der Geschwindigkeit eines Faultiers drehte Shanti den Türknauf, dann traten Caine und sie vorsichtig über die Schwelle. In Marlenes Zimmer brannten etwa ein Dutzend Kerzen.

Marlene lag auf dem Bett. Die geschlossenen Augenlider waren tief in ihre Höhlen gesunken. Ihre Wangenknochen standen genauso hervor wie ihre Hüftknochen. Ihre pergamentenen Hände umklammerten eine Keramikschüssel voller heruntergebrannter Kippen, als handelte es sich um eine Heiligenikone. Der Raum stank nach Tabak und warmem Urin.

Callum Oak kniete mit dem Rücken zu ihnen vor dem Bett, die Hände flehend zum Himmel erhoben. Er trug eine kaffeefarbene Cordhose und ein weißes, kragenloses Hemd mit zinnoberroten Hosenträgern. Seine Locken wurden am Hinterkopf langsam lichter.

In den erhobenen Händen hielt er eine kleine Bibel und ein silbernes Kreuz, das im flackernden Schein der Kerzen glänzte.

»Treten Sie langsam von dem Leichnam zurück, Mr. Oak«, befahl Shanti. »Und bitte so, dass ich Ihre Hände sehen kann.«

Callum Oak wandte ihr das Gesicht zu, die Hände weiterhin in der Luft, während er ein endloses Gebet murmelte.

»Callum Oak, ich verhafte Sie wegen des Mordes an Ihrer Ehefrau Kristal Havfruen und an der Dame vor Ihnen, Ihrer Freundin Marlene Moss.«

Oak hörte auf zu beten, ließ die Hände sinken und starrte sie ungläubig an.

»Wird das jetzt zur Gewohnheit? Mich des Mordes zu bezichtigen, meine ich.«

»Was hat Marlene Ihnen getan, Callum?«

»Aber ich habe Marlene doch gar nicht angerührt!«

Marlenes Augenlider öffneten sich, ein Lächeln trat auf ihre Lippen. »Jemand missbraucht meinen Namen«, sagte sie.

»Herrgott! Marlene! Sie sind am Leben!«, rief Shanti.

»Eine weitere exzellente Beobachtung der Polizei von Südwestengland.«

»Aber … aber was macht er dann hier?«, fragte Shanti und deutete auf Oak.

»Ich habe uns vorgebetet«, sagte der.

»Sagen wir, er hat mich in den Schlaf gebetet«, korrigierte Marlene. »Bei der Bibellektüre schlafe ich immer ein. Wir sollten das Ganze aufnehmen und es den Leuten verkaufen, die an Schlaflosigkeit leiden. Damit würden wir ein Vermögen machen! Was halten Sie davon, Ms. Joyce?«

»Es tut mir leid. Ich bin im Moment ziemlich verwirrt.«

Callum richtete sich zu voller Größe auf, sein Lockenschopf streifte die Decke. »Hören Sie, ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht, aber Marlene hat mich angerufen und mir mitgeteilt, dass die Krankheit ein kritisches Stadium erreicht hat. Also bin ich hergefahren, um an ihrem Bett zu wachen.«

»Das ist die Wahrheit!«, verkündete Marlene theatralisch. »Gevatter Tod hält mich in seinen kalten Fängen.«

»Das tut mir leid, Marlene. Wie lange geben Ihnen die Ärzte noch, wenn ich das fragen darf?«

»Eine Woche, einen Monat vielleicht. Das Schlimmste ist, dass ich gerade erst meine Autoversicherung bezahlt habe. Kann mir bitte jemand etwas zu trinken geben? Ich bin total ausgetrocknet«, krächzte sie angestrengt.

Callum nahm ein Glas Wasser vom Nachttisch, richtete vorsichtig Marlenes Kopf auf und hielt es ihr an die Lippen. Sie nippte daran wie eine Taube an einer Pfütze, dann schob sie ihn gereizt zur Seite.

»Jetzt noch mal zum spaßigen Teil, meine Liebe«, sagte sie an Shanti gewandt. »Sie haben Callum verhaftet …«

»Ja, ähm … Callum Oak, ich habe Grund zu der Annahme, dass Sie Oliver Sweetman dazu genötigt haben, Ihre Ehefrau zu ermorden. Was haben Sie dazu zu sagen?«

»Steh da nicht einfach so rum«, blaffte Marlene. »Du wirst doch wohl ein einziges Mal im Leben für dich selbst eintreten!«

»Hören Sie, Inspector Joyce«, sagte Callum tatsächlich. »Ich habe genug von Ihren Unterstellungen. Gestern Abend haben Sie den armen Ollie verhaftet, doch wenn Sie keine wirklichen Beweise gegen mich in der Hand haben, möchte ich Sie bitten, das Haus umgehend zu verlassen.«

»Hurra!«, stieß Marlene hervor, deren Stimme dank des Wassers nun weniger heiser klang. »Der hast du’s aber gegeben!«

Caine trat einen Schritt vor und nahm sanft die Hand der alten Dame in seine. »Marlene, es wäre vielleicht das Beste, wenn Sie uns die ganze Geschichte erzählen, und zwar von Anfang bis Ende. Ich möchte genau wissen, was am Tag der Ausstellungseröffnung passiert ist. Darf ich Sie ein wenig aufsetzen?«

Er richtete den federleichten Körper auf und steckte ein paar Kissen zwischen Marlenes Rücken und das Bettkopfende.

»Oh, was für starke Hände!« Die alte Dame seufzte. »Endlich ein richtiger Mann! Noch dazu mit messerscharfen Kombinationsfähigkeiten. Ich habe das sofort gewusst, als ich ihn sah – ein Intellektueller. Holen Sie die Handschellen heraus, DI Caine, und nehmen Sie mich mit.«

»Das hatten wir doch schon, Marlene«, sagte Shanti. »Ich möchte einen Mörder verhaften, nicht jemanden, der in seinem Gewächshaus Cannabis anpflanzt.«

Marlene fixierte Shanti mit ihren runden, glänzenden Augen. Ein schalkhaftes Lächeln huschte über ihr ausgemergeltes Gesicht. »Sie unterschätzen mich, Inspector Joyce. Erlauben Sie mir, Königin Elizabeth I. zu zitieren, wenngleich in leicht abgeänderter Form: ›Ich mag vielleicht den Leib eines schwachen, kraftlosen Weibes haben, dafür aber das Herz und Mark einer kaltblütigen Serienmörderin.‹«

Sämtliche Augenpaare im Raum waren auf die winzige Frau in dem Berg von Kissen gerichtet.

»Ach, sehen Sie sich doch nur einmal an! Sie wissen nicht, ob Sie mir glauben sollen oder nicht. Nun, würde ich die Medaillen beim Polizeiball verteilen, würde ich eine große, glänzende dem gut aussehenden Mr. Caine überreichen. Und ich würde dafür sorgen, dass er eine Uniform trägt.«

»Das gibt’s doch gar nicht.« Shanti schnappte nach Luft.

»Ich weiß nicht, warum Sie alle so schockiert sind. Das Miststück hatte es schon seit Jahren verdient.«

Oak schlug die Hand vor den Mund, dann trat er so schnell vom Bett zurück, als hätte die alte Dame die Pest.

»Verraten Sie mir eins, Marlene«, sagte Shanti skeptisch. »Wie war es Ihnen möglich, ein solches Verbrechen durchzuführen?«

»Soll ich es ihr sagen, oder soll ich das Geheimnis mit ins Grab nehmen, das ist hier die Frage … Ah, ich hab’s: Lassen Sie uns einen Deal machen. Wenn Callum nach unten geht und uns rasch eine schöne Tasse Tee kocht, dann wird euch die gute Marlene alles erzählen. Ist das ein faires Angebot?«

»Nein, das werde ich nicht machen!«, stieß Callum Oak atemlos hervor. »Marlene … Ich habe dich immer für meine beste Freundin gehalten, und jetzt sagst du mir, dass du meine Frau umgebracht hast. Soll ich dir das wirklich glauben?« Er sah sich Hilfe suchend um. »Kann mir mal jemand sagen, was ich tun soll?«

Marlene seufzte und zündete sich eine Zigarette an. »Callum, es ist mir ehrlich gesagt schnurzpiepegal, was du tust. Ich bitte dich lediglich, nach unten zu gehen und Tee zu machen. Ich kann es nicht beschwören, aber ich meine, es wäre noch eine Packung Doughnuts mit Marmeladenfüllung in der Speisekammer. Ich bin mir sicher, dass Mr. Caine gern einen Doughnut essen würde.«

Mit einem Ausdruck absoluter Verwirrung auf seinem jungenhaften Gesicht ging Oak zur Tür.

»Du solltest dich lieber beeilen, Callum«, rief Marlene ihm hinterher. »Sonst bin ich womöglich schon tot, wenn du zurückkommst.«