Kapitel dreiundzwanzig

All die tödlichen Details

Sie hörten, wie Callum Oak mit donnernden Schritten vier Stufen auf einmal nehmend ins Erdgeschoss hinuntersprang, laut schnaufend vor Entsetzen.

Die alte Dame sank noch tiefer in die Kissen und zog kräftig an ihrer Zigarette, ein verschmitztes Grinsen auf dem elfenhaften Gesicht.

»So ein schwacher Mann«, sagte sie seufzend. »Attraktiv, aber ohne Rückgrat. Sehen Sie mich an! Ich fühle mich rundherum verwöhnt – es ist ein wahres Vergnügen, so viele wunderbare Besucher in meinem Schlafzimmer zu haben. Es ist eine ziemlich lange Geschichte, daher ist es besser, wenn wir es uns gemütlich machen. Im Gästezimmer stehen Klappstühle, Mr. Caine. Ach, Ms. Joyce, wären Sie so liebenswürdig, den Topf auszuleeren? Es riecht ein wenig streng, nicht wahr?«

Oak kehrte mit dem Tablett zurück, noch immer überwältigt von seinen Gefühlen. Auf sämtlichen freien Oberflächen im Zimmer standen Kerzen, daher stellte er es auf dem Fußboden ab. Das Tablett war beladen mit Tellern, Doughnuts, einer Teekanne, vier Tassen, Teelöffeln, Milch und Zucker. Caine dachte, dass er lieber Honig haben würde.

»Und jetzt setzt euch hin, Kinder«, begann die betagte Erzählerin ihre Geschichte und ließ den Rauch aus den Nasenlöchern strömen. »Es ist Zeit für die Märchenstunde.«

 

»Um ehrlich zu sein, hätte ich Kristal am liebsten schon ermordet, als ich sie zum ersten Mal sah. Es tut mir leid, Callum, aber das Mädchen mit seinen kleinen, herausgestreckten Tittchen und dem kleinen, herausgestreckten Hintern war derart überzeugt von sich selbst, dass einem schlecht werden konnte. Trotzdem reifte erst Jahre später, als man bei mir die tödliche Krankheit diagnostizierte, dieser großartige Plan zu seiner vollen Größe in mir heran. Was hatte ich zu verlieren, Inspector Joyce? Nichts, absolut nichts, lautet die Antwort. Ach, all die Stunden, die ich mit meinen Agatha-Christie-Krimis wartend in den Krankenhausfluren saß, bis ich irgendwann dachte: Wann, wenn nicht jetzt? Es war reines Glück, dass ich bei meinen Besuchen in Mangrove House schon lange jedes Mal ein bisschen Ketamin eingesteckt hatte, heimlich, versteht sich. Art ging ziemlich sorglos mit seinen Pülverchen um, und eigentlich hatte ich vorgehabt, mir einen glücklichen Abgang ins Jenseits zu bescheren, sollte das Leben hier unerträglich werden. Doch mithilfe von Milly und Molly und Mandy war ich in der Lage, den Schmerz in Schach zu halten … Übrigens, Inspector Caine, ich habe mich getäuscht – die Pflanzen sind allesamt Mädchen! Ist das nicht großartig? Milly war lediglich eine Spätentwicklerin, doch jetzt trägt sie üppige Knospen …«

Oak, der unbehaglich am Fußende von Marlenes Bett gesessen hatte, sprang auf. »Entschuldigung, hat jemand etwas dagegen, wenn ich das Fenster öffne? Mir ist ein bisschen schwummerig.«

Er ruckelte am Rahmen, bis er sich hochschieben ließ. Eine dunstige Unwetterfront wich aus dem Zimmer und wurde ersetzt durch einen Schwall salzige, ozonhaltige Luft.

»An dem Tag, an dem Art mir die Pflanztöpfe gebracht hat, hat er mir von dieser grauenhaften Ausstellung erzählt, die seine Mutter zusammen mit diesem albernen Mann von der Meat Hook Gallery plante. All dieser prätentiöse Unsinn und das völlig infantile ›Happening‹ in der Hauptgalerie mit melodramatischer Musik, Scheinwerfern und der albernen Kristal-Figur in dem Glastank … Als hätte Damien Hirst so etwas nicht schon vor dreißig Jahren gemacht. Pah! Ich kenne Hirst, und sogar er hätte darüber gelacht. Und was die Meister angeht … Turner hätte ihr ins Gesicht gespuckt, und Frida hätte ihr einen Tritt in den Hintern gegeben. Als Art weg war, habe ich im Wohnzimmer gesessen, meine kleinen Tütchen geraucht und über dein Gemälde nachgegrübelt, Callum Oak. Plötzlich war mir, als sei die Muse höchstpersönlich in mein Wohnzimmer getänzelt. Ein Augenblick reinen künstlerischen Genies! Auf einmal wurde mir klar, dass es eine weitaus kreativere Verwendung für meinen Ketaminvorrat gab.«

Oak stöhnte und schüttelte ungläubig den Kopf.

»Für einen kräftigen jungen Menschen wie unseren Mr. Caine hier oder unsere Ms. Joyce dürfte es kein Problem sein, meinen kleinen Plan umzusetzen, aber sehen Sie …« Sie zog den Ärmel ihres Nachthemds hoch und spannte den Bizeps an, der aussah, als gehörte er einem Spatz. »Da ging nichts mehr. Hier oben allerdings«, sie tippte sich an die Stirn, »hier oben ist alles in bester Ordnung. Ich brauchte einen Komplizen, so viel stand fest – jemanden mit ordentlichen Muskeln.«

»Ollie!«, murmelte Oak wie ein erschrockenes Kind.

»Hör auf zu jammern, Callum. Iss deinen Doughnut oder gib ihn DI Caine. Hättest du den Mumm gehabt, ihr schon vor Jahren die Meinung zu sagen, hätte ich das nie tun müssen.«

Sie schnippte Asche von der Bettdecke und nippte an ihrem Tee.

»Ja, der liebe, arme Ollie. Es war so leicht, ihn zu manipulieren.« Sie seufzte tief. »Natürlich habe ich ihn bis zuletzt nicht in die Details eingeweiht, das hätte ihn doch nur durcheinandergebracht. Nun, wie ich schon sagte, Art hatte mir alles über dieses monströse ›Kunstwerk‹ erzählt, das Kristal plante, und auch, dass er sie am Tag der Ausstellungseröffnung von ihrem Atelier in Mangrove House abholen wollte. Mir war klar, dass das die Gelegenheit war.

Du weißt, wie sehr ich deiner Familie verbunden war, Callum, und in all den Jahren habe ich nie erlebt, dass du auch nur einen einzigen kirchlichen Feiertag nicht angemessen begangen hast. Wie es der Zufall wollte, fiel der zweiundzwanzigste Juli auf den Gedenktag der heiligen Maria Magdalena – was ausgesprochen passend war, da sie eine gefallene Frau war, genau wie ich; ich wette, sie hat auch ganz gern einen Joint durchgezogen. Also habe ich mit der äußerst hilfsbereiten Vikarin von Branscombe telefoniert und mich erkundigt, wann der Gottesdienst beginnen und wie lange er voraussichtlich dauern würde. Wir Menschen sind Gewohnheitstiere, Ms. Joyce, daher ging ich davon aus, dass Callum auf dem Rückweg im Fountain Head haltmachen und auf ein Pint Branoc und ein Krabben-Sandwich einkehren würde … Stimmt das, Callum? Zudem ging ich davon aus, dass Ollie nicht in Mangrove House sein würde, da Callum ja in der Kirche war. Also bin ich frühmorgens von Falmouth nach Paradise Park gefahren.

Wissen Sie, wie ich mich gefühlt habe? Total beschwingt! Ganz aus dem Häuschen vor Begeisterung! Es war das erste Mal seit Jahren, dass ich mein kleines Auto benutzte – und das letzte Mal, wie sich leider herausgestellt hat. Es war ein goldener Tag. Die Sonne schien, und ich hatte eine Aufgabe, Ms. Joyce! Ich bin mir sicher, Sie wissen, wie sich das anfühlt. In meiner Handtasche hatte ich eine Spritze, die ich der netten Pflegerin stibitzt hatte, die regelmäßig nach mir sieht. Darin war genug Ketamin, um ein Mammut aus den Socken zu hauen. Bei Trago Mills – Sie kennen das große Kaufhaus, Ms. Joyce? – habe ich angehalten, um eine große Plane zu kaufen. Wie erwartet traf ich den lieben Ollie beim Taubenfüttern an. Zuerst war er ganz und gar nicht gewillt, seine tägliche Routine zu unterbrechen, doch nachdem ich ein wenig an ihn hingeredet hatte, erwärmte er sich für die Idee, einen Ausflug mit Tante Marlene zu machen.«

Oak, der aussah, als müsse er sich jeden Augenblick übergeben, hielt seine Bibel umklammert und wirkte von Minute zu Minute entsetzter.

»Unterwegs erzählte er mir, dass Kristal in letzter Zeit ganz besonders unausstehlich gewesen sei – ständig gereizt und nervös. Sie hatte ihm bei verschiedenen Gelegenheiten klipp und klar zu verstehen gegeben, für wie dumm und nutzlos sie ihn hielt. Also habe ich ihm eine Idee in den Kopf gesetzt: ›Sollen wir ihr helfen, sich ein wenig zu entspannen, Ollie?‹ Oliver hielt das für eine fantastische Sache.

Ich war froh, dass niemand außer Kristal zu Hause war, als wir in Mangrove House eintrafen. Kristal preschte durch ihr Atelier wie ein durchgedrehter Pudel, bellte ins Telefon und gab wie üblich die aufgeblasene Primadonna, die wir alle so sehr verabscheuten. ›Was macht ihr denn hier?‹, schnauzte sie mich an. Sie trug wie immer ihre albernen Kleinmädchen-Klamotten. ›Ihr wisst doch, dass ich nicht gestört werden will, wenn ich eine Ausstellung vorbereite.‹ Ollie lächelte sein unschuldiges Lächeln, trat – genau wie ich ihn angewiesen hatte – hinter Kristal und umschlang ihren Körper mitsamt ihren Armen. Sie fing an zu schreien. Ich öffnete meine Handtasche, und dann …«

Callums Gesichtsfarbe erinnerte an grüne Galle. Er stürzte aus dem Zimmer und übergab sich hörbar in die avocadofarbene Toilettenschüssel.

»Ein schwaches Nervenkostüm«, seufzte Marlene und zündete sich eine weitere Zigarette an der aufgerauchten Kippe an. »Das kommt, weil er so religiös ist. Wo war ich stehen geblieben … ach ja. Ollie hatte sie fest im Griff, aber sie machte ein solches Geschrei und zappelte wie verrückt, dass er ganz verzweifelt wurde. In dem Moment setzte ich mich in Bewegung, so schnell es meine alten Beine erlaubten, rammte ihr die Spritze tief in die Halsader – jetzt machten sich die jahrzehntelangen Anatomieseminare bezahlt –, und drückte ihr das ganze Zeug rein. Ich muss zugeben, dass meine Hände in letzter Zeit ziemlich zittern, deshalb habe ich sicher nicht ganz sauber gearbeitet, aber es hat funktioniert. Binnen Sekunden verstummte das abscheuliche Gekreische, und Kristal erschlaffte in Ollies Armen. ›Siehst du‹, sagte ich zu ihm. ›Jetzt ist sie entspannt und glücklich, Ollie. Sie wird wunderbar schlafen. Gute Nacht, Kristal!‹«

Oak taumelte zurück ins Schlafzimmer und wischte sich den Mund mit einem Taschentuch ab. Er richtete seine blutunterlaufenen Augen auf Marlene und klappte den Mund auf, als wolle er etwas sagen, aber er brachte kein Wort heraus.

Mit einem triumphierenden Lächeln fuhr Marlene fort: »Meine größte Sorge war es, den Leichnam zu beseitigen, vorzugsweise mit einem gewissen Maß an Eleganz und Drama. Mit meinem Verbrechen davonzukommen … nun, das war lediglich ein Bonus. Aber ich hatte ja noch nie Angst davor, ins Kittchen zu wandern … sagt man das so, Ms. Joyce?«

»Seit den Siebzigern nicht mehr«, erwiderte Shanti.

»Ich würde liebend gern behaupten, ich hätte im Vorhinein alles bis ins Detail geplant, aber um ehrlich zu sein, lief die Muse erst zur Höchstleistung auf, als ich in Kristals Atelier stand. Als Ollie sie aufs Sofa legte, bemerkte ich eine Holzkiste, die auf einer Palette neben der Glasschiebetür stand, bereit, abgeholt zu werden. Auf der Kiste waren jede Menge ›Vorsicht, zerbrechlich‹-Aufkleber, weshalb ich davon ausging, dass es sich um die Hauptattraktion von Kristals pompösem Spektakel handelte. Das Ganze war derart geschmacklos, Ms. Joyce, dass ich am liebsten Einspruch erhoben hätte. Frei von jeglicher Ästhetik. Wenn es nach mir ginge, müsste so etwas verboten werden.

Ich habe Ollie gebeten, die Sperrholzverschalung zu entfernen, und was kam dahinter zum Vorschein? Ein Glastank mit einer erstaunlich lebensechten Nachbildung von Madame Havfruen darin. Bingo! Bingo, Mr. Caine! Bingo, Ms. Joyce! Ollie ist handwerklich so geschickt, dass er nur wenige Augenblicke brauchte, um den Deckel abzuschrauben. Puh, der Gestank nach Formaldehyd war überwältigend und machte uns das Atmen schwer. Nichtsdestotrotz – was sein muss, muss sein. Ich wies ihn an, Gummihandschuhe, eine Schürze und einen Atemschutz anzulegen, die es im Atelier zuhauf gab. Anschließend bat ich ihn, vorsichtig die Figur aus dem Tank zu fischen. Er zögerte, wirkte verunsichert, also versprach ich ihm, dass er die synthetische Kristal als Lohn für seine Mühen behalten könne. Das munterte ihn ein wenig auf, und er legte die grässliche Puppe wie angewiesen auf die mitgebrachte Plane. Dann ließ er die echte Kristal in den Tank gleiten, so sanft wie ein Vater sein neugeborenes Baby. Es dauerte einen Moment, bis er sie in diese nette Fötalhaltung gebracht hatte, aber am Ende schaffte er es.

Es war perfekt. Ich wusste, dass Kristal friedlich ertrinken und sich so all das unangenehme Drumherum ersparen würde; sie würde wunderschön aussehen an ihrem großen Abend – genau wie sie es gewollt hätte … Oh, Callum, du wirst dich doch nicht schon wieder übergeben?«

Callum stürmte aus dem Raum, mit einem lauten Knall schlug die Badezimmertür hinter ihm zu.

Marlene zwinkerte vertraulich. »Offen gesagt, war es ein gnädiges Ende für eine Frau, die das gar nicht verdient hatte. Von da an lief alles wie geschmiert. Ollie verschloss den Tank und verstaute ihn wieder in der Transportkiste, anschließend fuhren wir in meinem kleinen Wagen davon, kichernd wie Kinder, die synthetische Kristal im Kofferraum. Das war seine Belohnung: eine liebe, sanfte Kristal, die er für immer behalten durfte – eine neue, bessere Version der Frau, die er immer schon angebetet hatte. Eine Kristal, die nie ein unfreundliches Wort zu ihm sagen würde. Er war absolut begeistert. Und er versprach mir hoch und heilig, unser kleines Geheimnis für sich zu behalten.

Zurück in Shangri-La, tranken wir Tee und gingen nacheinander unter die Dusche, um uns für die Ausstellungseröffnung fertig zu machen. Obwohl ich mein Bestes tat, konnte ich ihn nicht davon abhalten, Kristal mit unter die Dusche zu nehmen. So geschmacklos das war – zumindest ließ so der grauenhafte Formaldehydgestank ein wenig nach.

Wir kamen rechtzeitig bei der Galerie an und erlebten den krönenden Moment eines perfekten Tages, als mein Meisterwerk enthüllt wurde. Was für ein Spaß! Und natürlich tat ich so, als sei ich ebenso geschockt wie all die anderen. Ollie verhielt sich nahezu mustergültig, doch ich mag mir gar nicht ausmalen, was er mit der armen Puppe anstellte, nachdem ich ihn an jenem Abend zu seinem Wohnwagen zurückgebracht hatte … All die aufgestauten Gefühle.«

Es herrschte verblüfftes Schweigen. Sogar Caine, der von Marlenes Schuld überzeugt gewesen war, schien nicht recht zu wissen, was er sagen sollte. Schließlich brachte er eine Frage über die Lippen, die ihn offenbar die ganze Zeit über gequält hatte. »Die Handschuhe, die Plane und die Spritze – was haben Sie damit gemacht?«

Marlene wischte die Frage mit einer Handbewegung fort. »Ich bin keine Meisterverbrecherin, Mr. Caine, aber ich habe nie verstanden, warum Mörder derart belastendes Material in der Nähe des Tatorts zurücklassen, damit die Jungs von der Spurensicherung es binnen weniger Minuten finden. Ich habe die Spritze von einer Brücke kurz vor Axminster in den Fluss geworfen. Die Plane haben wir auf einem Bauernhof nahe Paradise Park entsorgt, wo es jede Menge Gülle und ausrangiertes Zubehör gibt und wo es von Haus aus so stinkt, dass ein übler Geruch mehr oder weniger gar nicht mehr auffällt. Was die Handschuhe angeht – die hat Ollie in einen Mülleimer vor dem Sainsbury in Chard gesteckt.«

»Dann haben Sie Kristal also umgebracht, weil sie eine Primadonna und eine Tyrannin war?«, fragte Shanti mit einem Hauch von Feindseligkeit in der Stimme. »Oder weil sie Ihnen vor so vielen Jahren einen Strich durch die Rechnung gemacht hat, als Sie in Callum verliebt waren?«

»Ach, du liebe Güte, nein. Ich meine, das sind natürlich triftige Gründe, aber mein Motiv war um ein Vielfaches größer: Ich habe Kristal getötet, um die Kunst zu retten.«

»Die Kunst? Wir reden jetzt aber nicht von Art, Ihrem Patensohn?«

»Nein, Sie albernes Mädchen, nicht von dem Jungen namens Art – ich rede über Kunst, das Lebenselixier der Menschheit! Als Kristal als Studentin mit dieser grauenvollen, zügellosen Sexshow nach Falmouth kam, hat sie meine geliebte Kunsthochschule auf den Kopf gestellt. Viele behaupteten, sie tue der Fakultät gut – man möge sich nur das Havfruen-Gebäude ansehen und das ganze Geld, das sie der Schule brachte. Ich hatte über Jahre hinweg mit all meiner Liebe und in mühevoller Kleinarbeit ein Treibhaus der Kreativität geschaffen, in dem die Erben von Velázquez, Rembrandt, Ingres, Delacroix und Cézanne gediehen. Und wohin hat all diese ›Performance-Kunst‹, der ›Konzeptualismus‹ meine Schule geführt? Das kann ich Ihnen sagen! Dieser ganze Nonsens hat dazu geführt, dass die wahre Kunst unbeliebt wurde, keine Fördermittel mehr erhielt und langsam, aber sicher verendete … so wie ich jetzt. Kristal besaß die Unverfrorenheit, mit der Geburt von Art die Geburt der Kunst für sich zu beanspruchen, doch was mich betrifft, so hat sie die Kunst ermordet. Und deshalb habe ich sie … getötet.«

Der Wind war aus Marlenes Segeln gewichen. Sie sank in die Kissen wie ein Ballon, dem die Luft ausging.

»Darf ich jetzt?«, fragte Shanti an Caine gewandt.

»Meinetwegen.« Caine nickte.

»Marlene Moss, ich verhafte Sie wegen des Mordes an Kristal Havfruen. Sie haben das Recht zu schweigen, allerdings kann es gegen Sie ausgelegt werden, wenn Sie sich erst während des Gerichtsverfahrens auf etwas berufen, zu dem Sie im Rahmen der Ermittlungen geschwiegen haben. Alles, was Sie sagen, kann als Beweis verwendet werden.«

Marlene sammelte sich ein wenig, ihre trüben Augen hellten sich auf und fingen an zu blitzen. »Oh, wie wunderbar! Sie haben ja keine Ahnung, wie lange ich darauf gewartet habe, diese Worte zu hören. Werden Sie das Blaulicht einschalten? Was ist mit den strammen Constables? Und den Sirenen? Bitte, Sie dürfen auf keinen Fall die Sirenen vergessen!«

»Zunächst einmal müssen wir alles überprüfen, was Sie uns mitgeteilt haben«, begann Shanti. »Sollte sich herausstellen, dass Sie tatsächlich die Wahrheit gesagt haben, fürchte ich, dass Sie nicht in der Position sind, irgendwelche Wünsche zu äußern.«

»Aber ich komme doch ins Gefängnis? Ach, mit Sicherheit. Ich bestehe auf lebenslänglich.«

»Ich enttäusche Sie nur ungern, Marlene«, sagte Caine, »aber in Anbetracht Ihres Gesundheitszustands ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass man Sie in einer geschlossenen Klinik unterbringt.«

»Also wirklich! Das ist nicht fair! Ich habe einen vorsätzlichen Mord begangen, Mr. Caine.«

»Marlene, ich denke nicht, dass das Gefängnis der richtige Ort für Sie ist.«

»Nun, sollen wir ein paar weitere Verstöße hinzunehmen?«

»Was für Verstöße, Marlene?«

»Och, alle möglichen. Erinnern Sie sich zum Beispiel an Ratty, den Tutor, der sich von einer Klippe gestürzt hat? Er hatte mich eingeladen, mit ihm die Hügel und den Himmel zu malen, doch es stellte sich heraus, dass die einzigen Hügel, die Ratty im Sinn hatte, diese hier waren.« Sie hob ihre Brüste an wie leere Papiertüten.

Shanti und Caine starrten sie fassungslos an.

»Wir haben Seite an Seite oben auf der Klippe gearbeitet, und er ist immer wieder rübergekommen, um mich zu begrapschen, also hab ich ihm mit meiner Staffelei einen kleinen Schubs gegeben. Ich wollte ihn nicht in den Abgrund stürzen, aber es war ein ziemlich befriedigendes Gefühl. Es war mir ein Leichtes, das Gerücht zu streuen, er sei völlig durchgedreht wegen Kristals Happening – Sie wissen schon, Preconception. Ich konnte nicht glauben, wie leicht ich damit durchkam. Dann ist mir das Morden zur Gewohnheit geworden, Mr. Caine, und mit Gewohnheiten hatte ich immer schon meine Probleme.«

In dem kleinen Schlafzimmer wurde es totenstill. Alle Augen waren auf die alte Dame gerichtet, die an ihrer Zigarette zog, um das letzte bisschen Nikotin zu inhalieren.

»Morden ist wie rauchen«, erklärte Marlene Moss. »Wenn man einmal damit angefangen hat, will man immer mehr!«