Kapitel vierundzwanzig

Das Motel im Moor

Ihr Abgang aus Vernon Place war nicht so, wie Marlene es sich erhofft hatte – horizontal in einem Krankenwagen anstatt in Handschellen gelegt in einem Streifenwagen mit Blaulicht und heulender Sirene.

Als Shanti Callum Oak entlassen, die Kriminaltechniker gebrieft und die komplette Durchsuchung von Marlenes Haus beaufsichtigt hatte, war es schon nach neun Uhr abends. Sie rief zu Hause an und sprach mit Paul.

»Entschuldige, mein Liebling. Ich dachte, ich würde Stunden vorher zurück sein … Aber rate mal, was passiert ist?«

»Was?«

»Du hattest recht mit der Symbiose. Wir haben den Fall geknackt. Ich erzähle dir alles, wenn ich bei dir bin.«

»Heute Abend?«

»Nein, nicht heute Abend. Ich bin noch in Cornwall und werde nicht vor heute Nacht zurück sein, wenn nicht gar erst morgen früh. Amma wird auf dich aufpassen, und Paul … Ich werde mir ein paar Tage Urlaub nehmen, da können wir jede Menge Zeit miteinander verbringen. Was würdest du gern unternehmen?«

»Zu Caines Hütte wandern und in der Hängematte schlafen.«

 

Dicke Regentropfen klatschten auf die Windschutzscheibe. Da sie eine Stunde wegen Straßenarbeiten vor Truro festgesteckt hatten, war es schon nach dreiundzwanzig Uhr, als sie die einsame Wildnis von Bodmin Moor erreichten.

Die Zufriedenheit darüber, den Fall abgeschlossen zu haben, hatte sich in pure Erschöpfung verwandelt. Shanti war klar, dass sie Lyme Regis erst weit nach Mitternacht erreichen würden, und dann hätte Caine noch einen anderthalbstündigen Fußmarsch über die Undercliff vor sich und sie eine weitere Stunde Fahrt bis Yeovil.

Der Mann verfügte wahrhaftig über telepathische Fähigkeiten. »Es gibt ein Motel im Moor, hier ganz in der Nähe. Es ist zwar eher eine Absteige, aber wir bekommen dort eine Mahlzeit, eine Dusche und ein Bett.«

»Zwei Betten.«

»Das meinte ich natürlich. Biegen Sie da drüben ab, dann können wir’s uns ja mal anschauen.«

Das Blisland Motel war so ziemlich das Deprimierendste, was Shanti je gesehen hatte – ein trostloses, einstöckiges Gebäude in Hörweite der A30 mit einem schlaglochübersäten Parkplatz voller Schwerlastwagen. Doch mittlerweile fror sie vor Erschöpfung und hatte Mühe, die Augen offen zu halten.

An der Motelrezeption lieferte sich eine Schale mit einem uralten Duft-Potpourri einen erbitterten Kampf mit dem Geruch nach verkochtem Gemüse. Über einem Aktenschrank hing das verblasste Bild eines wilden Bodmin-Ponys, verziert mit dem einsamen Strang Lametta eines lang zurückliegenden Weihnachtsfests. Das Pony sah genauso matt aus, wie Shanti sich fühlte. Sie schlug auf die kleine Glocke auf dem Empfangstresen. Es dauerte ganze zehn Minuten, bis eine große Frau in einem Nachthemd erschien.

»Wir haben geschlossen.«

»Ich hatte gehofft, Sie hätten zwei Zimmer für uns«, sagte Shanti.

»Haben Sie sich mit Ihrem Kerl verkracht?«

»Er ist nicht ›mein Kerl‹. Wir sind Arbeitskollegen.«

»Na klar. Geht mich ja auch nichts an. Allerdings hab ich nur noch ein Doppelzimmer frei, und da hab ich die Betten noch nicht gemacht.«

»Gibt es noch ein anderes Motel in der Nähe? Ein Hotel oder ein B&B?«

»Ha! Da gibt es meilenweit gar nichts. Es ist ein hübsches Zimmer mit Aussicht aufs Moor. Wir haben einen Stern, müssen Sie wissen.«

»Wie meinen Sie das – Sie ›haben einen Stern‹?«

»Manche Unterkünfte haben gar keinen Stern. Wir haben einen bekommen, und wir machen ein leckeres Frühstück.« Sie beugte sich über den Empfangstresen und flüsterte Shanti zu: »Mir würde es nichts ausmachen, ein bisschen zu kuscheln, wenn der Kerl mein Kollege wäre.«

»Um Himmels willen! Könnten Sie uns frische Bettwäsche bringen? Ach ja, und ich hätte gern einen Preisnachlass – sonst war’s das mit Ihrem Stern.«

Das Zimmer war groß und hatte zwei einzeln stehende Betten. Shanti hatte nichts für die Nacht mitgebracht, nicht mal eine Zahnbürste. Aber das war nicht das Schlimmste. Zu ihrem Entsetzen stellte sie fest, dass das Badezimmer hinter einer Glaswand an einer Seite des Zimmers lag. Vorsichtig schob sie die Glastür zurück und ließ die Vielfalt grauenvoller Details auf sich einwirken: Algen in der Dusche, vereinzelte Schamhaare, abgeknipste Fußnägel in einem halb vollen Abfalleimer, ein fleckiger Spiegel, eine nette kleine Spinnengemeinde, die ihre Blicke zu erwidern schien.

»Caine, ich muss dringend duschen. Und ich muss ins Bett. Würden Sie sich also bitte verziehen und meditieren? Oder im Moor spazieren gehen oder sonst was tun? Hauptsache, Sie kommen erst zurück, wenn ich mich im Land der Träume befinde, okay?«

Er grinste. »Möchten Sie, dass ich im Wagen schlafe? Das wäre schon in Ordnung.«

»Ja. Nein. Mist. Geben Sie mir einfach eine halbe Stunde. Und hier … machen Sie endlich Ihr Bett!«, drängte sie ihn und warf ihm die Nylonbettwäsche zu.

 

Trotz des vorbeirumpelnden Verkehrs fiel Shanti in einen tiefen Schlaf. Sie träumte, dass sie immer noch im Auto saß und fuhr, während der Regen unablässig auf ihre Windschutzscheibe prasselte. Neben ihr auf dem Beifahrersitz saß die skelettartige Gestalt von Marlene Moss.

»Marlene?«, fragte Shanti. »Stecken Sie wirklich dahinter? Wie konnten Sie das tun? Wie konnten Sie Kristal umbringen?« Die alte Dame wandte sich ihr zu, um ihr etwas von größter Wichtigkeit mitzuteilen, doch als sie den Mund öffnete, war ihr Gesicht das Gesicht von Munchs Schrei.

Shanti kämpfte sich aus ihrem Traum hervor, und als sie endlich wach wurde, bemerkte sie, dass bereits eine trübe Morgendämmerung durch die fadenscheinigen Vorhänge fiel. Das unablässige Prasseln war nicht der Regen auf der Windschutzscheibe gewesen, sondern Wasser, das gegen die Glaswand des Badezimmers platschte, hinter der ihr Kollege Vincent Caine seinen durchtrainierten Körper einseifte.

Shanti lag unter der steifen Bettdecke und stellte fest, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als reglos liegen zu bleiben und so zu tun, als würde sie schlafen. Nun, sie hätte auch einfach die Augen zukneifen oder das Gesicht abwenden können, aber das wäre … Verschwendung gewesen. Schlaftrunken, wie sie war, kam ihr Caines braun gebrannter Körper vor wie ein Traumbild; sein wohldefinierter Oberkörper bildete ein längliches Dreieck von den breiten Schultern bis zu der schlanken Taille. Verstohlen beobachtete sie ein paar Minuten lang, wie Caine das Gesicht voller Wonne dem warmen Wasserstrahl entgegenreckte. Sie betrachtete die schäumenden Bächlein, die in Kaskaden über sein Rückgrat liefen, die ausgeprägten Grübchen über seinen Pobacken, und stellte fest, dass dies zweifelsohne das Verwirrendste war, was sie je gesehen hatte.

Wie viel einfacher wäre es gewesen, hätte Caine irgendeinen offensichtlichen Makel gezeigt – einen hängenden Bierbauch zum Beispiel, einen dichten Haarpullover wie ein Affe oder einen winzigen Mäusepenis. Natürlich wäre sie nie auf diese Unzulänglichkeit zu sprechen gekommen, aber sie hätte stets gewusst, dass ihr Kollege längst nicht so perfekt war, wie er zu sein vorgab. Als er jetzt das Shampoo in seine schulterlangen Haare massierte und dabei die Augen fest zusammenkniff, nutzte sie die Gelegenheit, seinen Körper eingehender unter die Lupe zu nehmen. Nein, keiner der befürchteten Makel traf zu – Caine war das vollkommenste Geschöpf, das je auf diesem Erdboden gewandelt war. Sein Bauch war fest wie ein Waschbrett, seine goldene Haut glatt und unbehaart bis auf einen seidigen, schwarzen Pfad vom Nabel zum Schamhaar. Sein Penis war erstaunlich lang und von verschlafener Schönheit.

Was, wenn sie sich bei einem weiteren Fall zusammentaten? Wie sollte sie jetzt je wieder mit ihm zusammenarbeiten? Wie könnte sie dieses Datenmaterial von ihrer Festplatte löschen? Ohne sich zu rühren, wartete sie, bis Caine sich sorgfältig abgetrocknet und angezogen hatte und lautlos aus dem Zimmer geschlüpft war. Später, als sie einander in der Blisland Breakfast Bar gegenübersaßen und verhalten in ihrem Ein-Stern-Frühstück stocherten – Dosenananas und ein weich gekochtes Ei für ihn, komplettes kornisches Frühstück für sie –, kehrten ihre Gedanken wieder und wieder zu dem spektakulären Anblick von Caines dampfendem, muskulösem Wasserfallkörper zurück, was nichts, aber auch gar nichts mit dem aktuellen Fall und dem vor ihnen liegenden rappelvollen Arbeitstag zu tun hatte.

Nach dem Frühstück fuhren sie schweigend und gedankenverloren durch den Morgen. Neben dem Uhrenturm in Lyme Regis stieg Caine aus dem Wagen. Er hängte sich seine Tasche über die Schulter, winkte einmal und machte sich auf den Rückweg zu seiner Hütte.

Shanti ließ das Fenster herunter und rief ihm hinterher: »Caine, kommen Sie doch noch mal kurz zurück! Ich … ich wollte mich bedanken und so.«

»Gern geschehen.«

Mein Gott, was er für weiße Zähne hatte!

»Und ich habe mich gefragt … vielleicht ist das ja ein bisschen zu viel verlangt, aber Paul findet es einfach großartig, in einer Hängematte zu schlafen. Ich werde mich erst mal im Präsidium um alles kümmern müssen, was ein, zwei Wochen dauern mag, aber wenn Sie Zeit haben und nicht mehr allzu viel los ist, sollten wir unbedingt eine Einsatznachbesprechung abhalten. Es gibt noch immer ein paar lose Fäden, die verknüpft werden müssten …«

»Das machen wir, Shanti. Lassen Sie uns die losen Fäden verknüpfen.«

 

Caine sah dem Saab nach, der die Broad Street entlangfuhr. Als er außer Sichtweite war, klappte er seinen Mantelkragen hoch und machte sich auf den Weg Richtung Undercliff.

Das Schweigen des Waldes war wie Balsam für seine Seele. Wie sehr er sich nach der Abgeschiedenheit seiner Hütte sehnte! Das Leben war so viel einfacher, wenn man allein war.

Und trotzdem hatte sie von Fäden gesprochen. All seinen Instinkten zum Trotz schien sich ein feiner Faden von seinem Herzen zurück durch die Stadt, durch die Broad Street und die ganze Strecke über die kurvenreichen Straßen von Südwestengland bis hin zu der starken, braunäugigen Frau in dem sich entfernenden Saab zu ziehen.

Sie hatte es »Einsatznachbesprechung« genannt, aber Caine spürte, dass es sich dabei um mehr als ein Arbeitstreffen mit diesem unverhofften Besucher im Gasthaus seines Lebens handelte.

 

Als sie sich Yeovil näherte, erlebte die braunäugige Frau etwas, was sie schon sehr lange nicht mehr erlebt hatte – ein eher unbekanntes Gefühl, das sie nicht recht benennen konnte, stieg in ihr auf. Glück, das war es. Sie drehte die Musik im Radio auf und sang den ganzen Weg über lauthals mit.

Im Industriegebiet am Stadtrand geriet der Verkehr ins Stocken, und sie gab Gas, bremste und gab erneut Gas, während ihre Augen zu einer riesigen Werbetafel schweiften, auf der ausgerechnet fleischlose Sojawürstchen angepriesen wurden. Unter den Worten Zart und trotzdem knackig prangte das Foto einer gewaltigen, glänzenden Wurst auf einer Gabel.

Sie ertappte sich dabei, dass sie rot wurde, dann prustete sie laut los. Was zum Teufel stimmte nicht mit ihr? Zu viel Zeit für sich tat ihr anscheinend nicht gut.

Sie bog in die stille Sackgasse ein, die jetzt ihr neues Zuhause war, und als sie den apfelwangigen Jungen mit dem Fußball sah, fing sie vor Freude an zu strahlen.