Kapitel fünfundzwanzig

Die Flügel einer Taube

Caine zeigte dem Wächter an der Schranke seinen Dienstausweis. Er war erfreut festzustellen, dass die vielen Fenster der psychiatrischen Klinik hinter den hohen Stahlzäunen Felder und bewaldetes Gelände überblickten.

Er wurde zu einem Empfangsschalter im Hauptgebäude geschickt, wo ihm ein Pfleger und eine Ärztin versicherten, dass sich der Patient C193 Oliver Sweetman gut eingelebt habe und bester Stimmung sei – mit seinem allgegenwärtigen Lächeln und seiner zuvorkommenden Art habe er auf der Station bereits Freunde gefunden.

»Solange er in den Garten darf, wirkt er absolut glücklich«, sagte die Ärztin. »Ich bringe Sie zu ihm, wenn Sie möchten.«

Caine folgte ihr durch einen Irrgarten von magnolienfarbenen Korridoren und einen Fernsehraum, in dem gepeinigte Seelen aller Gesellschaftsschichten ihre Tage verbrachten. Unterwegs sprach sie über die zahlreichen Herausforderungen, die der Balanceakt zwischen Fürsorge und Sicherheitsverwahrung mit sich brachte.

»Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, sich in Sicherheit zu wissen, doch gleichzeitig haben unsere ›Dienstnehmer‹, wie wir sie nennen, ein Recht darauf, dass ihre psychischen Erkrankungen effizient und auf menschenwürdige Art und Weise behandelt werden.«

»Und das ist gewiss nicht leicht«, sagte Caine.

»Jeder hier stellt eine potenzielle Gefahr für sich selbst oder andere dar«, erklärte die Ärztin, die vor einer Sicherheitsschleuse stehen blieb und einen Code eintippte. »Ich weiß Bescheid über Olivers Verwicklung in den Havfruen-Fall, aber ein Mann wie er würde keine Woche in einem normalen Gefängnis überleben.«

»Da stimme ich Ihnen voll und ganz zu.« Caine nickte. »Zum Glück hat sein Anwalt einen guten Job gemacht. Er hat erfolgreich argumentiert, dass Ollie nicht unter Anklage gestellt werden kann, weil er zu verbrecherischem Vorsatz nicht fähig ist.«

Sie gingen hinaus in den Garten, in dem Männer verschiedenen Alters mit Besuchern oder Pflegern über die gekiesten Wege schlenderten.

Caine entdeckte Oliver auf einer Bank; sein orangefarbenes Haar bildete einen schockierenden Kontrast zu dem Grün der Rhododendronblätter.

»Hallo, Ollie. Erinnern Sie sich an mich?«

»Hallo, Vincent Caine. Wollen Sie mal sehen, was ich gemacht habe?«

»Aber sicher doch.«

Caine und die Ärztin folgten dem großen Mann über einen ordentlich eingefassten Weg zu einer gepflegten Rasenfläche, die von Bäumen und Backsteingebäuden voller Überwachungskameras umgeben war.

Mitten auf dem Rasen stand ein außergewöhnlich kunstvolles Gebilde auf einem dicken Holzpfosten. Es handelte sich um einen Taubenschlag, doch ungleich aufwendiger gefertigt als der in Paradise Park. Dieser hier war ein wahrer Taubenpalast mit Dutzenden von Bogengängen, Treppchen, fein geschnitzten Zinnen, Kanzeln und Türmen.

»Das ist ja unglaublich, Ollie!«, rief Caine. »Ich wüsste gern, woher das alles kommt.«

»Aus der Werkstatt dort drüben«, sagte Oliver.

»Wir haben gehört, dass Ollie gern Dinge fertigt«, erklärte die Ärztin. »Daher haben wir ihm erlaubt, die Werkstätten zu benutzen. Er hat dieses unglaubliche Kunstwerk geschaffen, und einer der Gärtner hat ihm dabei geholfen, es auf dem Rasen aufzubauen.«

Ein abwesendes Lächeln trat auf Olivers Lippen, als drifte er davon in einen Traum. Er starrte durch den Stahlzaun auf die Landschaft und den blassen Himmel dahinter.

»Ich halte ihn für eine Art Genie«, sagte Caine. »Es ist zu schade, dass er seine Vögel nicht mehr hat.«

»Das wollte ich Ihnen erzählen«, sagte die Ärztin. »Es war wie Zauberei. Eines Tages sahen wir ihn hier stehen und in den Himmel blicken, so wie jetzt. Wir hatten keine Ahnung, was er da machte, und dann … Nun, sehen Sie selbst.«

Oliver streckte die Hände aus wie einst Franz von Assisi, und auf einmal kam eine weiße Taube zu ihm geflogen, dann eine zweite und schließlich eine dritte.

Caine und die Ärztin sahen fasziniert zu, wie nach und nach ein ganzer Taubenschwarm vom Himmel flatterte wie eine Schar von Engeln. Sie landeten auf dem Taubenpalast, auf Olivers Armen und Schultern und auf seinem flammenden Schopf.

»Sie müssen ihm von Paradise Park gefolgt sein«, vermutete Caine. »Wie Brieftauben.«

»Da sind meine Mädchen ja«, sagte Ollie glücklich. »Meine wunderschönen Mädchen. Fliegt, meine Liebsten, fliegt …«