Kapitel vier

Der Cop in der Hütte

Der Saab rollte über die steil abfallende Hauptstraße von Lyme Regis, vorbei an Fossilienläden, Bonbongeschäften, Klamottenboutiqen und Delis. Fröhliche Wimpel flatterten zwischen den alten Gebäuden, als wäre hier permanent Feiertag. Am Fuß des Hügels schien sich ein breiter Streifen Meer aufzutürmen wie eine glitzernde Mauer. Die Gehsteige waren voller Menschen – sonnenverbrannte Eltern, Kinder, die Kescher und kleine Schaufeln in den Händen hielten, die Gesichter mit Eiscreme verschmiert. Shanti spürte, wie die Eifersucht an ihr nagte. Es war Jahre her, seit Paul und sie sich eine Auszeit gegönnt hatten. Ein kurzer Wochenendtrip nach Brighton, den sein Dad ruiniert hatte.

Es war rappelvoll, und sie brauchte beinahe eine halbe Stunde, um eine freie Lücke auf dem Parkplatz gleich am Wasser zu finden. Als sie nach Kleingeld für den Parkautomaten suchte, wurde sie von einem großen Platscher Guano auf der Windschutzscheibe begrüßt und vernahm das dämonische Gelächter einer Möwe.

Sie war bereits müde und verstimmt, und ihre Laune verfinsterte sich noch mehr, als ihr Blick auf einen kleinen Süßigkeitenladen fiel, vor dem mehrere Zeitungsständer standen. Auf jeder Titelseite prangte dasselbe grauenvolle Bild, versehen mit derselben unbeantworteten Frage: WER HAT KRISTAL ERMORDET?

Es war wie ein Vorwurf. Eine Mahnung. Als wäre das nötig.

Shanti war heute Morgen noch nicht im Präsidium gewesen, aber Benno hatte sie darüber informiert, dass die Medien bereits ein Lager vor der Dienststelle in Yeovil aufschlugen.

Sie war direkt nach Lyme gefahren und hatte unterwegs einige Male versucht, Caine zu kontaktieren, doch mehr als eine mysteriöse und leicht nervige Ansage war nicht dabei rumgekommen: »Sie haben den Anrufbeantworter von Vincent Caine erreicht. Ich bin momentan in Klausur, doch wenn Sie eine Nachricht hinterlassen, werde ich mich in absehbarer Zeit bei Ihnen melden …«

Was hatte das zu bedeuten? Was meinte er mit »in Klausur«? Und wann um alles auf der Welt war »in absehbarer Zeit«?

Entschlossen strebte Shanti die Promenade entlang, bahnte sich ihren Weg durch bummelnde Familien mit Buggies, Rollstühlen und schwanzwedelnden Hunden, der Wegbeschreibung folgend, die sie sich am Morgen eingeprägt hatte. Benno war vor einigen Jahren bei Caine zu Besuch gewesen, als dieser sein Refugium gebaut hatte – eine Holzhütte in der Wildnis, hoch oben auf der Undercliff, einem Naturschutzgebiet, welches im Lauf der Jahre durch eine Reihe von Erdrutschen entstanden war. Man ging ungefähr eine Stunde lang über den Küstenweg Richtung Westen, bevor man auf ein verfallenes Steingebäude auf einer Lichtung stieß, bekannt als »Verlorener Schornstein«, dann stieg man einen engen Pfad steil bergauf. Nicht gerade eine genaue Beschreibung, eher wie die Karte der Schatzinsel.

Laut Wikipedia zählte die dicht bewaldete Undercliff westlich der Stadt zum Weltnaturerbe. Als Teil der weltberühmten Jurassic Coast – der Juraküste – kam dieses Gebiet in ganz Großbritannien einem unberührten Regenwald am nächsten. Das Land war unglaublich instabil, die Klippenwände konnten jederzeit abrutschen. Warum also sollte irgendwer hier leben wollen?

Shanti fühlte sich erschöpft und aufgewühlt zugleich. Diese Expedition könnte sich als gewaltige Zeitverschwendung entpuppen. Auf der anderen Seite brauchte sie bei diesem Fall dringend einen Partner, und Benno, der seine Worte stets mit Bedacht wählte, hatte Caine als den besten Detective beschrieben, dem er je begegnet war.

Also wie könnte sie diesen unwilligen Cop dazu bringen, sie zu unterstützen? Unterwegs stellte sie sich vor, wie sie ihm weismachte, dass der Fall einzigartig sei – bizarrer als alles, womit sie es bislang zu tun bekommen hatte. Wenn Caine auch nur die Hälfte ihres Ermittlernaturells besaß, würde er unmöglich widerstehen können.

Shanti, in Jeans und Jeansjacke, fing an, in der gnadenlosen Sonne zu schwitzen. Sie schälte sich aus der Jacke und stopfte sie in ihre Umhängetasche. Am Strand zu ihrer Linken sah sie kleine Kinder durch die Brandung flitzen. Ihr begeistertes Kreischen drang bis zu ihr herüber. Tränen traten in ihre Augen, aber Shanti drängte sie entschlossen zurück.

Sie kam an einer Reihe von dudelnden Spielautomaten, lärmigen Cafés und überteuerten Trampolinen vorbei. Es war kurz vor Mittag, und die Terrassen der Pubs, die auf die berühmte Cobb, die mächtige, steinerne Hafenmauer hinausgingen, waren vollbesetzt mit durstigen Gästen, deren Stimmen sich mit hellem Lachen vermischten. Der essigsaure Geruch nach Fish & Chips erinnerte sie daran, dass ihr Frühstück aus einer Tüte Chips während der Fahrt bestanden hatte.

Hinter einem Bowling-Rasen und einer Schule für Bootsbauer ging die Stadt in ländliches Gebiet über. Shanti folgte den Hinweisschildern aus Holz zum Küstenpfad und kämpfte sich eine lange Treppe hinauf, die in die Klippe geschlagen war – eine deprimierende Erinnerung daran, dass sie längst nicht so fit war wie früher –, und gelangte auf eine Wiese. Das T-Shirt klebte an ihrem Oberkörper, ihr BH war zu eng. Sie entdeckte mehrere Hundeausführer, die fröhlich in ihre Richtung winkten. Shanti winkte nicht zurück, dazu war sie viel zu gereizt. Mit jedem Schritt kam ihr diese Expedition absurder vor – sie war ein DI, der in einem neuen Fall zu ermitteln hatte, und nicht Sir David Attenborough, verdammt noch mal.

Jetzt verwandelte sich der Pfad in einen Blättertunnel, der vor Leben summte und pulsierte. Auf der linken Seite schimmerte das Meer zwischen den Blättern hindurch. Der Weg schlängelte sich tiefer in den kühlen Wald hinein und war gefleckt mit dunkellila Schatten.

Sie stieg Treppen aus groben Holzbalken hinauf und wieder hinunter und scheuchte an einer Stelle zwei scheue Hirsche auf – ach du lieber Himmel, konnten Hirsche beißen oder einen mit ihrem Geweih aufspießen? –, stolperte über Wurzeln und Schlingpflanzen, die sich wie Finger um ihre Fußknöchel schlossen. Der sich ständig verlagernde Erdboden sorgte dafür, dass die Bäume in verkrüppelter Form wuchsen – manche von ihnen sahen aus wie altmodische Tänzer.

Seit ihrer Ausbildung hatte sie sich nicht mehr so viel bewegt, aber damals war sie weiß Gott fit gewesen! Jetzt bestrafte ihr Körper sie für ihre Nachlässigkeit und die schlechte Ernährung. Sie zog ihr Handy aus der Tasche, um die beruhigenden Stimmen von Paul und ihrer Mum zu hören, aber das Display zeigte keinen einzigen Balken an. Einen Augenblick lang sehnte sie sich nach den schäbigen Straßen von Camden, gesprenkelt mit Kotze, Blut und Kaugummi – zumindest hatte man da Empfang.

Ihr war schwindelig vor Hunger, und sie stand kurz davor, ihre Mission abzubrechen, als sie auf eine Lichtung trat, umstanden von riesigen Buchen. Und dort war er, der Verlorene Schornstein. Das war alles – ein hoher Stapel alter Backsteine, der genauso fehl am Platz zu sein schien wie sie.

Verflixt, warum hatte sie sich nichts zu trinken gekauft? Die warme Dose Limo auf dem Beifahrersitz kam ihr in diesem Moment vor wie eine wahre Gaumenfreude. An einer Seite des Schornsteins entdeckte sie den schmalen Weg, einen steil ansteigenden Wildpfad; hoch über ihrem Kopf blinkte eine Fensterscheibe wie ein zwinkerndes Auge durch die Bäume.

Als sie sich bergaufschleppte, fiel ihr Blick auf ein Gebäude aus Holz, das keine einzige scharfe Kante hatte – wie eine Arche. Sie blieb stehen, um wieder zu Atem zu kommen, und bemerkte Solarpaneele, eine Schnur mit bunten Gebetsfahnen, große Fenster, eine aufgeschüttete Veranda mit Holzboden und ein Grasdach. Aus einem Abzugsrohr stieg Rauch in die Höhe. Das hier war also Caines Hütte, und anscheinend war er weniger ein Veggie Cop als vielmehr Bilbo Baggins aus Herr der Ringe.

Sie fragte sich, ob dieser Mann, Vincent Caine, so instabil war wie die Beschaffenheit des Bodens, auf dem er wohnte. Er hatte sich krankschreiben lassen, eine gesundheitsbedingte Auszeit genommen. Womöglich war er verwildert. Hatte sich in einen Hinterwäldler verwandelt. Sie stellte sich vor, wie sie panisch flüchtete, ihr Hintern gepfeffert mit Schrotkugeln, einen bärtigen Irren auf den Fersen.

Auf der anderen Seite musste sie zugeben, dass das Gebäude wirklich hübsch anzusehen war. Ein wenig unförmig, das ja, aber meisterhaft gebaut, sodass es in perfekter Harmonie mit der bewaldeten Landschaft ringsherum stand, die sich hob und senkte wie ein Ozean.

Aber was war das da auf dem Dach? Shantis Herz machte einen Satz. Oberhalb der kunstvoll gearbeiteten Holzveranda saß etwas Großes, Lebendiges. Ein Vogel, um Himmels willen! Ein Raubvogel, groß wie ein Pitbull! Als sie näher kam, erhob er sich träge in den Himmel, die braunen Flügel weit ausgebreitet, schwankend wie ein havariertes Segelboot. Dann nutzte er die Thermik und kreiste gelassen über dem Wald.

Ihr Körper war am Limit, als sie an Caines Tür ankam, die aus gehobelten Brettern gefertigt war. Als Türgriff diente ein knorriges Stück Treibholz. Ihre Polizistinnenaugen bemerkten sofort, dass es nirgendwo ein Schloss gab. Darüber sollten wir reden, mein Herr …

Shanti schnaufte tief durch, klopfte laut an die Tür und stellte fest, dass ihre Finger vor Flüssigkeitsmangel angeschwollen waren. Sie wartete. Klopfte erneut, doch niemand reagierte.

Schließlich drückte sie die Klinke. Die gut geölte Tür schwang lautlos auf.

Shanti warf einen Blick ins Innere der Hütte. Sie sah einen langen schwarzen Mantel an einem Haken hängen, außerdem zwei ramponierte Surfbretter und ein Paar Leinenschuhe, die so ordentlich nebeneinanderstanden wie in einer Moschee. Sie zögerte, dann trat sie ein, zog ihre Turnschuhe aus und spürte das kühle Holz unter ihren Füßen.

Caines Hütte war minimalistisch eingerichtet. Ein paar vereinzelte Kissen lagen in der offenen Küche, die ins Wohnzimmer überging, auch auf einer Art Podest waren ein paar Kissen verstreut. Dort befand sich ein Schrein, geschmückt mit eigenartigen Dingen: einer tropfenden Kerze, ein paar Federn, einer kleinen Vase mit Wildblumen und einem geschnitzten Buddha.

In einem schlichten Regal standen mehrere Taschenbuchromane und gebundene Bücher; in der tadellos aufgeräumten Küche entdeckte sie einen kleinen Ofen und schlichte, handgearbeitete Stühle, die rund um einen Tisch standen. Das Küchenregal war voller Tassen, jede davon mit einem witzigen Spruch versehen. Auf einer war die Karikatur eines Zen-Mönchs in einem kleinen Wagen abgedruckt, unter dem ein platt gequetschter Hund hervorschaute. Darunter stand Dein Kar-ma hat mein Dog-ma überfahren. Shanti verzog die Lippen zu einem schiefen Grinsen. Die Luft in der Hütte fühlte sich rein und kühl an, trotz des Ofens. Es duftete nach Sandelholz – was ihr albernerweise bewusst machte, wie schmutzig und verschwitzt sie war. Sie war ein Fremdkörper in dieser Hütte, ein Eindringling, angezogen von einer unsichtbaren Macht.

»Hallo«, rief sie. Dann, lauter: »Hallo!«

Nichts.

Vor einem Durchgang hing ein weißer Baumwollvorhang – wie in einer dieser dämlichen Einrichtungszeitschriften, die doch kein Mensch las. Auf Socken tappte Shanti darauf zu, zog den Vorhang beiseite und enthüllte einen überraschend großen, luftigen Schlafraum. Weiß, extrem ordentlich – auf dem Boden nichts als ein Futon mit Baumwolldecken und -kissen. Ihr Blick wurde von dem großen Fenster angezogen, durch das man über das Dach des Waldes auf die glitzernde See und den fernen Horizont dahinter blicken konnte. Ohne nachzudenken, ließ sie ihre Tasche aufs Bett fallen.

Am anderen Ende des Raums wehte eine Gardine vor einem weiteren Fenster in der Brise. Zwischen den wogenden Stoffbahnen erblickte sie einen Mann. Er war bis zur Taille nackt und saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf der Veranda, den Rücken ihr zugewandt. Ihr fielen die Eleganz seiner Körperhaltung und das dunkle Haar auf, das bis auf seine breiten Schultern reichte. Sein Rücken und die Arme waren gebräunt und sehnig wie geflochtenes Leder.

Mit einer einzigen langsamen Bewegung hob er einen abgerundeten Schlegel auf und klopfte damit dreimal gegen eine Messingschale. Ein seltsam vibrierender Ton füllte den Raum und die frühlingshafte Welt draußen.

Und dann drehte sich der Mann um. Ihre Augen begegneten sich.

»Ah«, sagte er versonnen. »Der unverhoffte Besucher.«