Kapitel sechs

Ein karmischer Mord

Der gewundene Pfad die Undercliff hinunter zum Meer war so schmal, dass sie hintereinander gehen mussten. Shanti war froh darüber. Wenn sie sich zwei oder drei Schritte hinter Caine hielt, würde dieser vielleicht nicht mitbekommen, wie sehr sie sich anstrengen musste, um mit seinem leichten Gang Schritt zu halten. Außerdem kochte sie fast über vor Frust, den ganzen Weg hierher umsonst zurückgelegt zu haben.

Anfangs war sie beunruhigt, als sie ihn leise vor sich hin murmeln hörte, als spreche er ein Gebet oder eine Beschwörungsformel. Mein Gott, dachte sie, vielleicht ist er wirklich ein Verrückter. Doch dann wurde ihr klar, dass er die Namen der vielen Vögel nannte, die im dichten Unterholz flatterten und zwitscherten.

»Amsel, Specht, Singdrossel und … warten Sie einen Moment, wissen Sie, was das ist?«

»Ein weiterer Vogel?«

»Hören Sie! Der Gesang erinnert mich an flüssiges Silber. Es ist eine Nachtigall, Shanti. Manche Leute denken, dass sie nur bei Nacht singt …«

»Ach?«

Caine blieb stehen und lauschte. »Das ist das Männchen. Es ruft nach einer Gefährtin.«

Neunundneunzig Prozent von Shanti fanden ihn absolut nervig. Zu einem Prozent aber war sie vollkommen fasziniert.

In der Hütte hatte er Sportschuhe, eine Cargohose und ein locker fallendes Hanfhemd angezogen und sich anschließend eine Leinentasche über eine Schulter geschwungen, in die er einen abgegriffenen Notizblock und einen Bleistift steckte, außerdem eine Flasche Wasser und zwei Äpfel.

»Haben Sie sich wirklich drei Wochen lang kaum bewegt?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe mich nicht mehr als ein paar Meter von der Hütte entfernt. Es ist der Wahnsinn, mal wieder rauszukommen – sehen Sie, wie sich die Blätter inzwischen geöffnet haben? Außer beim Yoga und Tai-Chi habe ich mich kaum gerührt.«

»Natürlich nicht«, sagte sie deprimiert.

An einer Stelle überquerten sie auf einem Holzsteg einen Fluss. Am Ufer stand eine schlichte, wenngleich sehr schön gearbeitete Holzbank, auf die Shanti sich fallen ließ, um eine Pause einzulegen.

»Sehen Sie sich das an, Caine. Wie kann es die Kommune rechtfertigen, Geld für solche Sachen auszugeben, wenn gleichzeitig das Polizeibudget auf ein Minimum gekürzt wird?«

»Das war nicht die Kommune … ich habe das gebaut.«

»Sie haben das gebaut? Die Bank? Die Brücke? Warum haben Sie das getan?«

»Nur so zum Spaß. Außerdem wissen Sie doch: Das, was man gibt, bekommt man zehnfach zurück. Karmisches Gesetz.«

Sie waren dem Pfad ungefähr eine Meile gefolgt, als Shantis Handy plötzlich Empfang hatte. Augenblicklich begann es zu piepsen und zu summen, um jede Menge Textnachrichten und verpasste Anrufe zu melden. Ihr Finger flog übers Display.

»Entschuldigen Sie mich kurz, ich muss das schnell abhören.«

Bennos Stimme ertönte – schroff, beruhigend, professionell. »Nur ein kurzes Update, Chefin. Der junge Art ist heute ruhiger – er scheint nicht gerade um seine Mum zu trauern. Es interessiert dich bestimmt, dass wir in dem kleinen Beutel, der ihm aus der Tasche gefallen ist, erstklassiges CK1 entdeckt haben – eine Mischung aus Kokain und Ketamin –, die gleichen Substanzen wurden in seinem Blut nachgewiesen. Ich habe ihn vom Arzt durchchecken lassen. Er konsumiert recht viel von dem Zeug, aber es gibt in der Haut keine Einstichstellen, was bedeutet, dass er nicht spritzt. Mittlerweile habe ich ein kleines Team zusammengestellt, das die Aufnahmen der Überwachungskameras von der Meat Hook Gallery auswerten soll. Es gibt jede Menge Material, aber Spencer hatte recht – man sieht eine Holzkiste, die um fünfzehn Uhr sechsundzwanzig mit einem Gabelstapler in die Hauptgalerie geschafft wird. Sie scheint schwer, wenngleich nicht massiv zu sein – aller Wahrscheinlichkeit nach ist darin der Glastank.«

»Bestnote, Benno. Überprüf doch bitte noch diesen Kurierdienst.«

»MasterMoves. Ich habe schon jemanden drangesetzt. Das Problem ist, dass ich Art nicht mehr viel länger festhalten kann, außer wir haben wirklich etwas in der Hand. Ich hoffe, es ist dir gelungen, Vince aufzuspüren. Das ist vielleicht ein Typ, findest du nicht? Dauert eine Weile, bis man mit ihm warm wird, aber er wird dich früher oder später in Erstaunen versetzen, das garantiere ich dir.«

O ja, Caine steckte in der Tat voller Überraschungen. Sie hatte versucht, ihn in alle möglichen Schubladen zu stecken – Träumer, Hippie, Exzentriker, Psycho –, aber nichts davon traf wirklich auf ihn zu.

»Das war Benno«, sagte sie zu ihm, nachdem sie aufgelegt und das Handy weggesteckt hatte. »Er hat Kristals Sohn wegen einer Drogensache in Gewahrsam genommen.«

»A Boy Named Art

»Wie bitte? Sagen Sie das noch einmal.«

»Ein Junge namens Art. So heißt er doch, oder? Wie alt ist er inzwischen?«

»Vierundzwanzig. Aber warum haben Sie das davor gesagt – A Boy Named Art? Das habe ich schon mal gehört.«

»Das wissen Sie wirklich nicht? Okay, erlauben Sie mir, dass ich Sie ins Bild setze. Damals habe ich mich sehr dafür interessiert. In den Neunzigerjahren gelangte Kristal Havfruen wegen einer speziellen Reihe von Kunstwerken zu fragwürdigem Ruhm. Die Boulevardblätter konnten nicht genug davon bekommen – sie gaben vor, schockiert zu sein, aber natürlich haben sie jedes Detail genossen.«

»Erzählen Sie weiter.«

»Kristal war Skandinavierin – Dänin, glaube ich –, und sie schrieb sich als Studentin an der Falmouth School of Art in Cornwall ein. Damals ging es an der Kunsthochschule ziemlich konventionell zu, doch nach Kristals Ankunft bekam sie den Ruf, ultra-experimentell und innovativ zu sein. Wie Sie wissen, wagte sie sich an Aktionskunst heran, aber es brauchte zwei aufeinanderfolgende Events, damit sie sich einen Namen machen konnte. Beim ersten hatte sie mit einem anderen Studenten Sex vor Publikum.«

»Aha. Und was daran soll bitte schön Kunst sein?«

»Das haben die Zeitungen damals auch gefragt, aber Kristal argumentierte, es handele sich um radikal feministische Kunst, denn sie habe die Kontrolle über alles. Sie nannte ihr ›Werk‹ Preconception – ›Vor der Schwangerschaft‹ oder auch einfach ›Vorurteil‹.«

»No comprende.«

»Nun, ich nehme an, es ging ihr darum, unsere vorgefassten Meinungen auf den Prüfstand zu stellen, was Kunst ist. Gleichzeitig ging es um die Zeugung von etwas Neuem – in diesem Fall eines Kindes.«

»Das ist doch krank.«

»Sie hat das ganze Event inszeniert und ihren Liebhaber sorgfältig ausgewählt. Ich meine, mich zu erinnern, dass sie sogar einen anderen Studenten als eine Art unbezahlten PR-Assistenten beauftragt hat, der die Presse kontrollieren und sich um Set und Beleuchtung kümmern sollte. Ich weiß, was Sie jetzt denken: Hat Yoko Ono all das in den Sechzigern nicht auch schon getan?«

»Ehrlich gesagt, habe ich das nicht gedacht. Wer war denn der glückliche Lover?«

»Ein Kommilitone, soweit ich weiß. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern.«

»Sein Name war nicht zufällig Callum Oak?«

»Könnte sein. Ja, Oak. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er so hieß.«

»Dann ist er der Mann, den ich als Nächstes aufsuchen werde. Der Witwer. Er hat gestern Abend versucht, Kristal zu reanimieren. Sie haben ihn in den frühen Morgenstunden aus dem Krankenhaus entlassen. Benno hat um drei einen Befragungstermin ausgemacht.«

Sie war weiterhin unsicher, was Caine betraf, aber sein Wissen über Kristal Havfruen und ihre Arbeit konnten unbezahlbar sein. »Hören Sie, Caine, ich weiß, dass Sie an dem Fall nicht mitarbeiten möchten, und das akzeptiere ich. Wirklich. Aber würden Sie Callum Oak trotzdem gern kennenlernen? Es wäre ungeheuer hilfreich, Sie mit an Bord zu haben, denn ich kenne mich hier in der Gegend nicht aus, und um ehrlich zu sein: Ich verstehe absolut nichts von Kunst.«

»Das ist sehr nett von Ihnen, Shanti, aber ich weiß, welch großen Einfluss diese Dinge auf mein Leben nehmen, und ich bin beurlaubt.«

»Hm. Sie sind nicht beurlaubt, Sie sind krankgeschrieben. Darf ich Sie fragen, was dazu geführt hat? Stress? Familiäre Angelegenheiten?«

Er drehte sich abrupt um, was sie mitten im Schritt innehalten ließ. Zum ersten Mal bemerkte sie etwas schwer Einschätzbares in seinem Blick, als habe sie dunkle Erinnerungen aufgewühlt.

»Ich würde lieber weiter über Kristal reden.«

»Klar. Tut mir leid. Das geht mich nichts an.«

Sie traten aus dem Wald hinaus in das blendende Nachmittagslicht. Nun war der Weg breit genug, um nebeneinander zu gehen, auch wenn Shanti feststellte, dass sie zwei Schritte zurücklegen musste, wenn Caine nur einen machte. Er war wie jemand, der aus einem langen Schlaf erwacht war, doch wenn sie sich nicht täuschte, fing er an, sich für die Geschichte zu interessieren.

»Es geht darum, zu verstehen, dass jede von Kristals Aktionen darauf ausgerichtet war, mit kleinstmöglichem Einsatz den größtmöglichen Effekt zu erzielen.«

»Ein Kontrollfreak?«, fragte sie.

»Möglich. Die Performance, die ich gerade erwähnt habe, Preconception …«

»Die Sexshow.«

»Nennen Sie es, wie Sie möchten – der Punkt ist, dass sie genau neun Monate vor ihrer Darbietung zum Studienabschluss aufgeführt wurde, A Boy Named Art.«

»Augenblick mal. Was sagen Sie da …?«

»Ja, genau das. Die Geburt fand im Theatersaal der Kunsthochschule vor einem großen Publikum aus Journalisten und Fernsehteams aus aller Welt statt. Es erstaunt mich, dass Sie noch nie davon gehört haben.«

»Wie ich schon sagte: Kunst ist nicht mein Ding. Und genau so etwas ist der Grund dafür. In meinen Ohren klingt das prätentiös, zügellos und gezielt provokant.«

»Glauben Sie mir, wenn Sie den Film sehen, werden Sie ihn nicht so schnell vergessen. Es gibt darin eine Szene, in der Kristal das Neugeborene hochhält, das noch an der Nabelschnur hängt, und dem Publikum mitteilt, dass es Art heißen wird. Ein Junge namens Art.«

»Mein Gott! Das ist verrückt!«

»Sie hat ein Statement abgegeben, das als das ›Kristal-Havfruen-Manifest‹ bekannt wurde. In diesem Statement verkündet sie, dass der Junge ein lebendes Kunstwerk sei – dass alles, was er je tun werde, Kunst sei. Ganz gleich, ob er die Schule besuche, ein Bild male oder …«

»… aufs Klo gehe?«

»Kunst. Alles Kunst. Selbst wenn er einen Job beginnen würde, wäre das ein Kunstwerk.«

Shanti dachte liebevoll an ihren eigenen Sohn, der irgendwo mit ihrer Mum unterwegs war.

»Was für eine Mutter tut so etwas? Das grenzt doch an Missbrauch!«

»Ein paar Jahre lang konnten die Medien gar nicht genug bekommen von der Story. Sie folgten dem Kind überallhin. Doch das Problem war, dass der gute Art ein bisschen langweilig war. Nach einer Weile verloren sie das Interesse. Oh, da fällt mir noch etwas ein …«

Shanti warf ihm einen neugierigen Seitenblick zu.

»Vor ein paar Jahren brachte Kristal einen teuren Bildband mit Fotos aus ihrem Leben und von ihren Werken heraus. Vielleicht versuchen Sie, ein Exemplar aufzutreiben – The Mother of Art lautet der zweideutige Titel, der sich sowohl auf die Kunst als auch auf ihren Sohn bezieht. Wenn ich mich richtig erinnere, hat der Student, den sie zu ihrem Assistenten ernannt hatte, den Bildband zusammengestellt. Wie dem auch sei – es war ein kompletter Schuss in den Ofen. Ein Verleger hatte einen fetten Vorschuss bezahlt, aber es wurden nur ein paar Hundert Exemplare verkauft. Das war so ziemlich das Ende von Kristals Karriere.«

»Bis gestern Abend, da hatte sie ein Riesen-Comeback.«

Sie hatten die Wiesen oberhalb des Hafens erreicht. Von hier aus sah man winzige Gestalten über die Cobb schlendern, wie Ameisen auf dem Rückgrat eines Geschöpfs aus der Jurazeit.

»He, wissen Sie was, Caine? Ich bin mir ziemlich sicher, dass dort Die Geliebte des französischen Leutnants gedreht wurde – einer der Lieblingsfilme meiner Mutter. Hat nicht Meryl Streep am Ende der Hafenmauer gestanden und aufs Meer hinausgeblickt, um nach ihrem verschollenen Geliebten Ausschau zu halten?«

»Exakt, Shanti. Und Jane Austen hat auch darüber geschrieben. Denken Sie nur an die Szene in Überredung, in der Louisa Musgrove von den Stufen stürzt!«

»Muss mir entfallen sein. Egal. Hören Sie, das war ausgesprochen hilfreich. Ich habe am anderen Ende der Stadt geparkt, in der Nähe des Uhrenturms. Danke für die Vielzahl an Informationen, und noch einmal: Entschuldigen Sie, dass ich in Ihre … Sie wissen schon … Klausur geplatzt bin. Es ist schrecklich schade, dass ich Sie nicht überreden kann, an Bord zu kommen, aber irgendwer muss sich ja ums Meditieren kümmern.«

Zunächst dachte sie, er würde Luft holen, dann stellte sie fest, dass er eine weitere Pause einlegte. Sie wandte sich ab und spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten.

»Okay«, sagte er schließlich. »Ich gebe zu, dass ich nachvollziehen kann, warum Sie fasziniert sind. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist irgendwo da draußen ein Killer, den Sie unbedingt schnappen müssen. Aber wie ich schon sagte, Shanti: Ich habe mich geändert. Ich habe jetzt alles, was ich brauche.«

»Ihre gesundheitsbedingte Auszeit wird bezahlt, hab ich recht?«

»Im Augenblick, ja.«

»Nun, wie schön, dass Sie alles so gut organisiert haben.«

Plötzlich kam ihr ein Gedanke.

»Was Sie mir über diesen Art erzählt haben, dass er ein, Sie wissen schon …«

»… lebendes Kunstwerk ist?«

»Ja, genau. Muss der nicht stinksauer darüber sein? Ich meine, seine Mum, diese Kristal, scheint mir eine echte Primadonna zu sein. Eine Narzisstin. Was nicht unbedingt gut ist für ein Kind. Art musste in ihrem Schatten aufwachsen – so etwas nimmt einem doch jeder krumm. In meinen Augen ist es keine Überraschung, dass er so neben der Spur ist.«

»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, Shanti, doch dazu kann ich nur sagen, dass uns der Buddhismus lehrt, das Ungewisse zu umarmen, statt Lücken zu füllen. Es gibt keinerlei Beweise, oder? Ich habe absolut keine Idee, wer Kristal Havfruen umgebracht hat, also kann ich nichts anderes tun, als Mitgefühl für ihre Familie zu empfinden.«

Shanti dachte an den labilen jungen Mann, der seinen Zeigefinger in Richtung ihrer Augen gestoßen hatte, und stellte fest, dass es mit ihrem Mitgefühl nicht sonderlich weit her war. Ihr Handy klingelte erneut. Diesmal war Dawn Knightly dran. Shanti machte ein paar Schritte, um außer Hörweite zu gelangen.

»Dawn, wie läuft’s?«

»Hi, Shanti.« Dawns Stimme vibrierte vor Aufregung. Im Hintergrund waren fröhliche Stimmen und das Klirren von Gläsern zu vernehmen. »Kannst du mich hören?«

»Bist du in einem Pub?«

»Es ist Sonntag, Shanti. Außerdem habe ich die ganze Nacht lang gearbeitet. Ich finde, ich habe ein Shandy verdient.«

Bier mit Limo – das klang gut. »Natürlich hast du das.«

»Wie dem auch sei, ich rufe an, um dir mitzuteilen, dass meine Pension gesichert ist. Ich hab was für dich, und zwar genau das, was ich vermutet hatte. Kristal wurde tatsächlich unter Drogen gesetzt. Ich habe die ersten Untersuchungsergebnisse aus der Pathologie bekommen: Es handelt sich um Ketamin – den Liebling eines jeden Tierarztes. Kennst du den Witz: Ketamin? Sag einfach ›Niehiehieh‹!« Dawn fing an zu wiehern wie ein Pferd.

»Du bist eine gottverdammte Legende, Dawn. Hast du schon mit Benno gesprochen?«

»Er hat mir soeben mitgeteilt, dass der junge Art Ketamin in der Tasche hatte. Ich will ja nicht die Pferde scheu machen, aber es sieht nicht gut aus für unseren Jungen.«

»Hast du sonst noch was für mich, Dawn?«

»Ich kann bestätigen, dass die stümperhafte Einstichwunde an ihrem Hals von einer Injektionsnadel stammt, die in die Drosselvene gesetzt wurde – ich vermute, dass ihr auf diese Weise die Droge verabreicht wurde. Es ist schwer, den genauen Todeszeitpunkt zu bestimmen, weil Formaldehyd den Verwesungsprozess verzögert. O mein Gott, Shanti, welcher Sohn bringt denn seine eigene Mutter um? Ich muss auf meine Jungs achtgeben. Ach übrigens, ich hab gehört, du hättest Vincent Caine einen Besuch abgestattet?«

»Herrgott, gibt es in diesem Teil der Welt keine anderen Neuigkeiten?«

»Was hältst du von ihm?«

»Warum fragt mich das eigentlich jeder? Er ist ausgesprochen nervig, wenn du es genau wissen willst.«

»Aber er ist gleichzeitig auf eine merkwürdige Art und Weise attraktiv, findest du nicht?«

»Ist mir nicht aufgefallen. Er interessiert sich nicht für Polizeiarbeit, und ich interessiere mich nicht für Männer, ganz gleich, welcher Art.«

»Ich hatte deine Scheidung vergessen … Tut mir leid.«

»Mein einziges Interesse gilt dem Fall: Ich will herausfinden, wer Kristal Havfruen umgebracht hat, und den oder die Täter für lange Zeit hinter Gitter bringen. Trotzdem, Dawn, vielen Dank. Was hast du heute noch vor?«

»Ich werde mich betrinken und ins Bett gehen, nicht zwingend in dieser Reihenfolge. Wir sehen uns am Montag.«

Ein unbewusstes Lächeln trat auf Shantis Gesicht, als sie Caine die steilen Stufen hinunter zu den Pubs und Cafés von Lyme folgte. Dawn hatte recht – sie sollten nicht die Pferde scheu machen, aber es war schon eine verdammt nette Vorstellung, dass sie ihren ersten großen Fall im neuen Job auf Anhieb lösen könnte. Vielleicht brauchte sie diesen Veggie-Cop ja gar nicht. Es wäre weitaus beeindruckender, wenn sie es allein schaffte. Sie tippte eine Nachricht an Benno in ihr Handy. Er sollte ihren Vorgesetzten um die Genehmigung bitten, Art noch eine weitere Nacht festzuhalten, damit sie ihn am nächsten Morgen befragen konnte.

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, fing Caine an zu sprechen.

»Sie können Art Havfruen nicht wegen Mordes unter Arrest stellen.«

»Niemand behauptet, dass er der Mörder ist, aber er wirkt schon mehr als verdächtig, finden Sie nicht? Vor allem in Anbetracht der absurden Hintergrundgeschichte, die Sie mir erzählt haben. Überlegen Sie mal, Caine – erstens: Art hat ein handfestes Motiv, seine Mum zu hassen. Zweitens: Er hat eine Droge bei sich, die in dieser Gegend nicht allzu geläufig ist, und einer der beiden Bestandteile wird in Kristals Blut nachgewiesen. Was für ein Zufall. Wenn man darüber nachdenkt, liegt die Sache doch auf der Hand: Sie verwandelt seine Geburt in Kunst. Im Gegenzug dazu verwandelt er ihren Tod in Kunst. Das gefällt mir. Das gefällt mir sogar sehr.«

Sie hatten sich den lärmigen Urlaubern, Sonntagsausflüglern und Einheimischen angeschlossen, die über die Promenade bummelten. Caine wurde von allen Seiten begrüßt.

»He, Vince. Du bist weg gewesen, oder?«

»Wie geht’s dir, Vince?«

»Hallo, Mr. Caine, wir haben Sie vermisst.«

Caine erwiderte jeden Gruß mit einem Lächeln, einem Handschlag, Highfive, einem Wangenkuss, einem Faustcheck oder Schulterdruck. Für einen Mann, der nach so vielen Tagen des Schweigens gerade erst ins Leben zurückgekehrt war, schien er sich unter Menschen bemerkenswert wohlzufühlen

»Sie haben mich um meine Meinung gebeten, Shanti«, sagte er, als sie weitergingen. »Und ich rate Ihnen, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Es ist Ihr Fall, doch für mich riecht das nach Ungerechtigkeit, und den Geruch mag ich am wenigsten. Ich möchte nicht näher darauf eingehen, aber ich weiß, wie es ist, eine schwierige Beziehung zu einem Elternteil zu haben, daher empfinde ich Mitleid mit diesem Burschen.«

Als sie den Parkplatz betraten, spürte sie, dass seine Augen auf sie gerichtet waren. Dawn hatte recht – er war in der Tat auf eine merkwürdige Art und Weise attraktiv. Sie rutschte auf den glühend heißen Fahrersitz und kurbelte das Fenster herunter.

»Hören Sie, Caine, Sie wissen, was man über Menschen sagt, die in unser Leben geschickt werden, damit sie uns etwas lehren?«

»Rumi.«

»Wie auch immer. Nun, nehmen wir mal an, es funktioniert in beide Richtungen. Nehmen wir an, Sie wurden aus einem bestimmten Grund in mein Leben geschickt.«

»Ich höre.«

»Ich möchte ehrlich zu Ihnen sein. Meine letzte Ermittlung in London ging komplett schief. Sie hat meinem Ruf als Cop geschadet, und mein Selbstbewusstsein war danach ziemlich im Keller. Deshalb bin ich in Südwestengland gelandet. Es sollte nicht unbedingt eine Degradierung sein, aber …«

»… aber genauso hat es sich angefühlt.«

»Ja, das mag sein. Ich meine, ich hab es nicht zuletzt für mein Kind getan – Sie wissen schon, die frische Luft, Schulkameraden ohne Messer in ihren Ranzen. Aber seit ich in Yeovil bin, habe ich auf einen großen Fall gewartet, damit ich die Dinge richtigstellen kann. Und das hier ist dieser Fall, da bin ich mir ganz sicher. Lassen Sie mich offen sein: Ich komme allein damit klar, aber Sie haben eine gewisse Sachkenntnis – Sie wissen über Kristal Bescheid und Sie kennen sich in der Gegend aus. Vielleicht sind wir ja dazu bestimmt, zusammenzuarbeiten. Ist das nicht genau das, was Sie sagen würden? Hören Sie auf das Universum, Caine.«

Es entstand eine Pause. Eine lange Pause. Shanti zählte die Sekunden. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben …

Dann ging Vincent Caine langsam um den Wagen herum zur Beifahrertür und stieg ein.