Kapitel acht

Liebe bis zum Umfallen

Die Polizeistation von Yeovil war ein hässliches Gebäude, in dem hässliche Dinge passierten. Als Caine auf den Haupteingang zustrebte, sehnte sich sein Körper danach, anderswo zu sein – an irgendeinem Ort mit weniger Beton und mehr menschlicher Anteilnahme.

Als er die Medienmeute auf den Eingangsstufen entdeckte, machte er einen Schlenker zum Seiteneingang des Präsidiums, vor dem sich mehrere seiner ehemaligen Kollegen zum Rauchen und E-Zigaretten-Dampfen versammelt hatten.

»Teufel noch mal! Wen haben wir denn da?«

»Veggie-Cop!«

»Warst ja ziemlich beschäftigt, oder, Vince?«

»Beschäftigt damit, seine Haare wachsen zu lassen!«

»Was macht das Bio-Wohlbefinden?«

»Immer noch am Puls der Zeit?«

»Gibt es eigentlich eingefleischte Vegetarier?«

Caine kam damit klar. Er hätte selbst austeilen können, wenn er gewollt hätte, aber er wollte nicht. In Augenblicken wie diesen wurde ihm klar, dass er sich verändert hatte. Nur das Ego fühlte sich bedroht. Ohne Ego gab es keine Bedrohung.

Er schmunzelte freundlich, drückte ein paar Hände und betrat das Gebäude. »Wovon lebt ein vegetarischer Vampir?«, hörte er einen aus der Gruppe fragen. »Von Blutorangen!«

Drinnen wurde er sogleich von Benno entdeckt. Sie begrüßten sich, und Caine stellte fest, dass er die väterliche Art des Kollegen vermisst hatte. Seinen angeborenen Sinn für Integrität. Seine Fähigkeit, Respekt zu erzeugen, ohne jemals die Stimme zu erheben. In den dampfigen Wäldern von Thailand war er noch anderen Männern wie Benno begegnet.

Als er durch die Gänge des Präsidiums zu dem Raum schlenderte, der einst sein Büro gewesen war, kam sich Caine vor wie ein wilder Fuchs, der sich verirrt hatte. Die grellen Neonlichter, die Polysteren-Deckenplatten und die kalten Wandfarben waren ihm nun ein Gräuel.

Sein altes Büro zu betreten, kam ihm vor wie eine Rückkehr in die Vergangenheit. Doch die Dinge hatten sich verändert. Der Raum war chaotisch, aber voller Leben. Auf sämtlichen Oberflächen stapelten sich Papiere. An der Wand hingen Kinderzeichnungen, auf einem Teppich auf dem Fußboden entdeckte er einen Eimer voll Lego. Mehrere großblättrige Zimmerpflanzen standen neben einem niedrigen Sofa. Alles war anders, aber als Shanti Joyce ihn anlächelte, fiel ihm wieder ein, warum er hier war.

Sie stand auf, stellte einen Wasserkocher an und wischte zwei halbwegs saubere Tassen mit einem halbwegs sauberen Geschirrhandtuch aus. »Seltsames Gefühl, wieder da zu sein?«, fragte sie über das Rauschen des Wasserkochers hinweg.

»Seltsam ist doch genau mein Ding«, erwiderte Caine. »Ist das Ihr Sohn?« Er nahm ein gerahmtes Foto von ihrem Schreibtisch und betrachtete es.

»Er heißt Paul.«

»Er wird eines Tages jede Menge Herzen brechen.«

Der strahlende Junge hatte die großen, warmherzigen Augen seiner Mutter und ein ganz eigenes, pausbäckiges Gesicht.

»Er ist ein braves Kind. Verbringt leider viel zu viel Zeit damit, auf Bildschirme zu starren. Und er sehnt sich nach seinem Dad. Dann hat Zeb Ihnen die Nachricht also überbracht?«

»Danke, dass Sie Dunster mit dem Wagen geschickt haben.«

»Ich dachte, Sie würden das intellektuelle Geplänkel mögen. He … es tut mir übrigens leid, dass ich gestern ein wenig kratzbürstig war. Nehmen Sie’s nicht persönlich – ich hasse Männer im Allgemeinen.«

Er warf ihr einen prüfenden Blick zu, um festzustellen, ob sie scherzte, aber sie hatte sich bereits abgewandt.

»Okay, kurzes Briefing. Der Junge namens Art sitzt mit seiner Anwältin – irgendeine arrogante Kuh aus Kensington – in Vernehmungsraum zwei. Die hiesigen Anwälte sind dem lebenden Kunstwerk anscheinend nicht gut genug.«

»Sie sind ihm gegenüber wirklich voreingenommen, finden Sie nicht?«

»Für mich sind alle verdächtig, Caine, Sie eingeschlossen. Allerdings ist mir aufgefallen, dass er ziemlich gesprächig wird, wenn er wütend ist. Wie ich schon sagte: Wir spielen guter Cop, böser Cop. Sie schmieren ihm Honig ums Maul, und ich grille ihn. Auf Garstufe sieben.«

Sie reichte Caine Tasse, Teelöffel und ein Glas Honig.

»Entschuldigung, Biohonig konnte ich mir nicht leisten. Aber was sind schon ein paar Pestizide unter Freunden?«

Sie nahm ihren Laptop und klopfte mit dem Finger darauf. »Sie werden Augen machen, wenn Sie sehen, was ich hier drauf habe …«

»Dann zeigen Sie’s mir doch einfach.«

»Das würde die Überraschung verderben. Sagen wir, es ist ein kleines Filmchen, das Art Havfruen sich bestimmt nicht gern anschauen wird. Ich kann es kaum erwarten, sein Gesicht zu sehen!«

Sie trugen ihre Tassen, Unterlagen und den Laptop durch endlose Gänge, in denen jede einzelne Tür Erinnerungen in Caine weckte – Erinnerungen an Prostituierte, Stricher, Betrunkene, Pädophile, Cracksüchtige, Brandstifter, Täter und Opfer von häuslicher Gewalt. Hinter diesen Türen saßen die Hoffnungslosen. Die Missbrauchten. Die Verlorenen. Diejenigen, die mit schlechten Karten ins Leben gestartet waren. Wenn Caine eines wusste, dann das: Jeder hatte eine Vorgeschichte, und Schmerz wurde weitergegeben wie der Stab beim Staffellauf.

Vernehmungszimmer zwei hatte ein Architekt entworfen, der Licht, Farbe, Raum und Liebe für überflüssige Details hielt. Hier gab es keine Fenster. Keine Luft. Nur flackernde Neonröhren, Einwegspiegel, Kameras, Mikrofone und Listen mit Vorschriften überall dort, wo eigentlich Bilder hängen sollten.

Caine schüttelte der Anwältin (gelangweilt) und dem Jungen (wütend) die Hand, dann nahm er an dem zerkratzten Resopaltisch Platz und suchte nach den Reserven, die ihn schon zuvor durch Situationen wie diese getragen hatten. Die Anwältin, eine überhebliche Frau mit einem Nullachtfünfzehn-Haarschnitt, machte den derangierten, grünäugigen jungen Mann darauf aufmerksam, dass er nicht verpflichtet war, irgendetwas auszusagen, doch Caine vermutete, dass ihr Rat auf taube Ohren stoßen würde. Art Havfruen konnte nicht anders, als sie mit einem wahren Wortschwall zu überschütten, und selbst wenn er nichts sagte, war seine nervöse Körpersprache so leicht zu verstehen wie bei einem Pantominen. Im Augenblick bebte er vor Empörung, trotz einer Nacht in der Zelle und den obszönen Umständen, unter denen seine Mutter zu Tode gekommen war.

Shanti drückte auf ein paar Tasten am Aufnahmegerät, zog einen Plastikstuhl neben den von Caine und setzte sich. Dann fing sie an, die Formalien herunterzuleiern: Ort, Datum, Zeit und Namen der Anwesenden.

»Art Havfruen, ich bin Detective Inspector Shantala Joyce …«

»Verdammt noch mal, ich weiß, wer Sie sind.«

»… und bei mir ist DI Vincent Caine. Ich bin mir sicher, Sie möchten schnell wieder gehen, daher komme ich direkt zum Punkt: In der Nacht des zweiundzwanzigsten Juli wurden Sie in der Meat Hook Gallery in Bruton, Somerset, wegen des Besitzes von drei Komma sieben Gramm CK1 festgenommen, eine Kokain-Ketamin-Mischung.«

»Ich möchte an dieser Stelle festhalten, dass mein Klient den Vorwurf nicht bestreitet, außerdem möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass er bislang auf jede ihm mögliche Art und Weise kooperiert hat«, unterbrach die Anwältin.

»Tatsache ist, dass Ihr Klient sich der Verhaftung widersetzt und einen Officer angegriffen hat«, hielt Shanti dagegen. »Wie ich das bewerte, hängt ganz davon ab, wie wir heute vorankommen.«

»Wie wir heute vorankommen, hängt ganz davon ab, wie viel Schwachsinn ich mir von Ihnen anhören muss …«

»Art«, mischte sich Caine mit sanfter Stimme ein. »Hören Sie, mein Freund. Sie machen eine furchtbare Zeit durch, das wissen wir. Und wir möchten genau das Gleiche wie Sie: Wir möchten die Person finden, die Kristal das angetan hat, und Sie so schnell wie möglich nach Hause schicken. DI Joyce und ich haben uns gestern mit Ihrem Dad getroffen. Er ist ein liebenswürdiger Mann, und er vermisst Sie …«

Der Junge sah zu dem ernst dreinblickenden Mann mit den schulterlangen Haaren und den freundlichen dunklen Augen hinüber, und für einen Moment entstand so etwas wie eine Verbindung zwischen den beiden.

»Unglücklicherweise geht es nicht nur um den Besitz der Droge«, fuhr Shanti fort. »Darf ich Sie bitten, Ihre Aufmerksamkeit auf Punkt 1a in der vor Ihnen liegenden Akte zu richten?«

Die Anwältin öffnete die Akte und las gründlich die erste Seite, die in einer Plastikhülle steckte.

»Es handelt sich um die vorläufigen Befunde der Obduktion von Kristal Havfruen, Art Havfruens Mutter. Etwa auf der Mitte der Seite … ja, gleich hier … wird eine seltene Substanz erwähnt, die man in Ms. Havfruens Blut entdeckt hat.«

Arts ohnehin blasses Gesicht verlor schlagartig jegliche Farbe. »Das ist ein abgekartetes Spiel!«, donnerte er, sprang auf und versetzte seinem Stuhl einen kräftigen Tritt. »Das haben Sie ihr untergeschoben! Meine Mutter hat K nie angerührt … Wahrscheinlich hat sie nicht mal gewusst, was das ist!«

»Setzen Sie sich, Mr. Havfruen. Ihre Mutter ist in einem Tank mit Formaldehyd ertrunken, doch bevor man sie dort hineinbefördert hat, wurde sie unter Drogen gesetzt, und zwar mit einer extrem großen Dosis ebenjenes Rauschmittels, das wir in Ihrem Besitz und in Ihrer Blutbahn gefunden haben.«

»Das zeigt doch, dass Sie absolut keine Ahnung haben – zwischen CK1 und K besteht ein gewaltiger Unterschied.«

»Soweit ich weiß, ist Letzteres Bestandteil von Ersterem. Ich weiß auch, dass Sie keine Drogen spritzen, Art, aber besitzen Sie vielleicht eine Injektionsspritze?«

»Scheiße!«, tobte er.

»Haben Sie irgendeine Erklärung dafür, warum Ihre Mutter so viel Ketamin im Blut hatte?«

»Weil du es ihr verabreicht hast, du dämliche Schlampe! Weil du und deine miesen Kollegen der Presse Antworten schuldig seid, und wie gewöhnlich bietet Art Havfruen genau die Story, nach der sie suchen. Sie schlachten euch aus, und ihr seid zu dumm, das zu kapieren.«

Caine sah, wie Shanti kurz nach dem Köder schnappte, also stand er auf, fasste Art am Arm und drückte ihn sanft zurück auf seinen Stuhl.

»Art Havfruen«, sagte Shanti mit fester Stimme, »ich möchte Sie dringend bitten, ruhig zu bleiben und persönliche Beleidigungen zu unterlassen. Habe ich mich klar ausgedrückt? Wenn ja, lassen Sie uns zur nächsten Frage kommen: Wo waren Sie am Tag der Ausstellungseröffnung, genau gesagt am Samstag, dem zweiundzwanzigsten Juli?«

Art zuckte sichtbar zusammen.

»Sie müssen nicht antworten«, flüsterte die Anwältin ihm zu.

»Wir stehen auf Ihrer Seite«, beruhigte ihn Caine.

»Schon gut, ich werde es Ihnen ja sagen. Ich habe … ich habe ein Wochenendrefugium in Charmouth. Vermutlich wissen Sie das ohnehin schon. Ich habe gechillt. Wollte mal ein bisschen runterkommen von meinem Job und mir das Spiel Barcelona gegen Arsenal ansehen. Barcelona hat gewonnen.«

»Kann das irgendwer bestätigen?«

»Was, dass Barcelona Arsenal besiegt hat?« Art beugte sich zu seiner Anwältin und flüsterte ihr etwas ins Ohr, die an seiner Stelle das Wort ergriff.

»Mr. Havfruen hat dem nichts hinzuzufügen. Er war in seinen vier Wänden und hat ferngesehen.«

Shanti lehnte sich zurück. Atmete tief durch und verschränkte die Arme.

Jetzt war Caine dran.

»Ihre Mum war eine außergewöhnliche Frau, Art. Sie scheint die Menschen auf unterschiedliche Art und Weise bewegt zu haben. Manche liebten ihre Arbeit, andere dagegen … eher nicht so sehr. Trotzdem würde ich Ihnen gern eine Frage stellen, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Wie war es, der Sohn von Kristal Havfruen zu sein? Wie ist es, ›ein Junge namens Art‹ zu sein?« Seine warme Stimme brachte das Eis im Vernehmungsraum zum Schmelzen.

Art zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Wie ist es, irgendwer zu sein? Ich habe doch nie etwas anderes kennengelernt. Für mich war das ganz normal.« Er wischte sich mit der Faust über die Nase wie ein verletztes Kind. »Als ich jünger war, hab ich mir gewünscht, ich wäre einfach nur ihr Sohn und nicht ihr … ihr beschissenes Karrieresprungbrett.«

»Das kann ich verstehen. Und wie fühlen Sie sich dabei?«

Art schüttelte seufzend den Kopf. War das eine polizeiliche Vernehmung oder eine Therapiestunde? Caines sanfte Befragungsmethode schien ihn aus dem Konzept zu bringen.

»Ich fühle mich … verdammt noch mal … ich bin total durcheinander!« Die Anwältin tippte ihm auf den Arm und versuchte, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, aber Art schüttelte sie ab. »Ich hab sie angebetet, als ich ein Kind war. Ich war verliebt in sie, so wie jedes Kind verliebt in seine Mum ist. Aber sie hat mir nie, wirklich nie etwas von meiner Liebe zurückgegeben, und das hat mich … nun, es hat mich wütend gemacht!«, stieß er zähneknirschend hervor. Seine Augen wurden glasig.

»Haben Sie sie gehasst?«, wollte Shanti wissen.

»Sehen Sie, jetzt macht sie es schon wieder!«, schimpfte Art, an Caine gewandt. »Sie legt mir Worte in den Mund und versucht ständig, mir etwas unterzuschieben. Hören Sie«, fuhr er fort, »mir ist klar, was Sie sich wünschen: einen abgefuckten Drogenkonsumenten, der seine Mutter umgebracht hat, weil er als Kind nicht genügend gestillt oder geknuddelt wurde. Ja, Kristal war nicht perfekt, aber sie war ein verdammtes Genie, und vielleicht können Genies nichts dafür, dass sie sind, wie sie sind. Ich habe mein Bestes gegeben, mich um sie zu kümmern. Dad ebenfalls. Und ich habe sie nicht umgebracht. Ich habe sie nicht umgebracht, verflucht noch mal.«

»Wer, glauben Sie, hat es dann getan, Art?«, fragte Caine. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

Art sackte auf seinem Stuhl zusammen. »Das herauszufinden ist Ihr Job, Kumpel. Dafür werden Sie bezahlt.«

Caine blieb völlig gelassen. »Na schön, Sie machen das gut. Sind uns eine wirkliche Hilfe. Trotzdem möchte ich, dass Sie noch einmal nachdenken. Gehen Sie zeitlich ruhig zurück, ein paar Jahre oder auch nur ein paar Wochen. Gibt es irgendwen, der Ihre Mutter gern tot gesehen hätte?«

»Hören Sie, Mum hat jede Menge Leute angepisst. Das war es, was sie getan hat. Sie war eine professionelle Leute-Anpisserin. Sie hat Leute in Dänemark angepisst, Leute in Falmouth, und das während ihrer gesamten Karriere. Dennoch fällt mir niemand ein, der so weit gehen würde.«

»Ich habe ebenfalls eine wichtige Frage an Sie, Art«, meldete sich Shanti zu Wort. »Haben Sie mit Ihrer Mutter vor der Ausstellung in der Galerie gestritten?«

»Scheiße, das weiß ich nicht. Kann sein. Wir haben uns ständig gezofft. Aber nein … warten Sie ’ne Sekunde … ich habe sie in der Galerie gar nicht zu Gesicht bekommen. Genau genommen habe ich sie an jenem Tag nur ein einziges Mal gesehen, und da trieb sie in dem Tank.«

»Sind Sie sich sicher?«

»Hundertprozentig.«

»Okay. Nun, wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich Ihnen gern etwas zeigen«, sagte Shanti, klappte den Laptop auf und drehte ihn so, dass jeder den Monitor sehen konnte.

»Was ist das?«

»Augenblick … Ja, das ist das Material aus den Überwachungskameras der Meat Hook Gallery am Tag der Vernissage. Ein Mann und eine Frau betreten um achtzehn Uhr dreißig die Hauptgalerie. Die Zeit steht hier oben auf dem Bildschirm. Sie ›zoffen‹ sich. Würden Sie das auch so sehen, Art?«

»Keine Ahnung, die Kamera hängt zu hoch.«

»Aber das da sind doch Sie, oder nicht? Die Kamera ist genau auf Ihr Gesicht gerichtet.«

Art Havfruen wand sich auf seinem Plastikstuhl und wurde – wenn überhaupt möglich – noch eine Spur bleicher.

»Sie machen ein ziemliches Aufhebens, und auch, wenn es keine Tonaufzeichnung gibt, würde ich behaupten, dass Sie schreien. So wie Sie mich am späteren Abend angeschrien haben.«

»Leck mich, Miststück.«

»Außerdem schubsen Sie die Frau auf der Aufnahme, packen Sie auf äußerst aggressive Weise an den Schultern und schütteln Sie. Wer ist die Frau, Art? Mit wem streiten Sie?«

»Mein Klient gibt keinen weiteren Kommentar ab. Die Qualität des Films lässt arg zu wünschen übrig. Das Licht in der Galerie ist schlecht, außerdem wurde die Frau hauptsächlich von hinten gefilmt. Sie wissen genau, dass diese Aufnahmen vor Gericht nicht zugelassen werden.«

»Nicht zugelassen werden? Stimmen Sie mir etwa nicht zu, dass wir hier Mr. Havfruen – der gerade eben kategorisch ausgeschlossen hat, seiner Mutter in der Galerie begegnet zu sein – bei einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit einer zierlichen Frau mit auffällig blonden Haaren, einem kurzen weißen Spitzenkleid und einem Paar roter Dr.-Martens-Stiefel sehen? Ist das nicht genau das, was uns die Aufnahmen klar und deutlich zeigen?«

»Es ist nicht so, wie Sie denken«, murmelte Art Havfruen.

»Sehen Sie sich diesen Ausschnitt doch mal ein wenig genauer an. Hier rennt sie nach draußen. Da, sehen Sie die Stiefel? Sie stolpert auf der Schwelle und krabbelt weiter. Sie hat Angst vor Ihnen, Art.«

 

»Was halten Sie von meiner kleinen Filmvorführung?«, fragte Shanti, als sie in ihr Büro zurückkehrten. »Das ist der Knaller, finden Sie nicht? Haben Sie gesehen, wie er reagiert hat?«

»Die Aufnahmen sind definitiv von Bedeutung«, pflichtete ihr Caine bei. »Trotzdem glaube ich nicht, dass er es war.«

»Von Bedeutung? Das ist nuklearer Sprengstoff! Außerdem – wie meinen Sie das: Er war’s nicht? Bin ich die Einzige hier mit halbwegs klarem Sehvermögen? Ist Ihnen die aggressive Auseinandersetzung mit Kristal tatsächlich entgangen? Die war doch wirklich nicht zu übersehen!«

»Ich stimme Ihnen zu, dass es nicht gut für ihn aussieht, aber Callum Oak hat uns mitgeteilt, dass die beiden die ganze Zeit über gestritten haben, deshalb hat Art den Vorfall bei der ganzen Aufregung womöglich vergessen. Wir sehen nicht, wie er sie umbringt, Shanti. Zudem weiß ich nicht, ob Sie bemerkt haben …«

»Natürlich hab ich das bemerkt, was denken Sie denn? Sie reden von dem Tank im Hintergrund, in dem eine Figur zu schwimmen scheint.«

Caine nickte. »Was bedeutet, dass Kristal um halb sieben noch am Leben war. Hätte Art sie tatsächlich ermordet – und das gilt nicht nur für Art, sondern für jeden, der für den Mord infrage kommt –, würden wir sehen, wie die Figur aus dem Tank gefischt und durch Kristal ersetzt wird.«

»Das weiß ich, Caine. Zugegeben, es ist ziemlich seltsam. Wie bei einem Zaubertrick von Houdini.«

Zurück im Büro, machte sich Shanti besitzheischend hinter dem Schreibtisch breit. Caine schob vorsichtig einen Stapel Papiere und Spielzeug beiseite, zog seine Schuhe aus und setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen auf das niedrige Sofa. Shanti drehte den Laptop zu ihm.

»Ich spiele den Nachmittag in der Hauptgalerie mal im Schnelldurchlauf ab. So … um fünfzehn Uhr sechsundzwanzig bringt der Gabelstapler den Tank. Hier sind die beiden Jungs von MasterMoves zu sehen, die ihn vorsichtig auf dem Podium abladen. Sie schrauben die Sperrholzverschalung auseinander, die sie mitnehmen. Insgesamt brauchen sie dafür nur knapp sieben Minuten. Um achtzehn Uhr dreißig folgt die hitzige Auseinandersetzung zwischen Art und Kristal. Zu der Zeit steht der Tank völlig unberührt hinter ihnen. Kurz darauf rennt Kristal hinaus, stolpert auf der Schwelle und krabbelt weiter, als habe sie Angst vor Arts Wutausbruch.

Art folgt ihr, und nichts passiert, bis neunzehn Uhr – ich lasse das Band an dieser Stelle mal langsamer laufen –, denn dann kommt dieser riesige Kerl, Oliver Sweetman, herein, stellt die Stiefel vorsichtig auf den Deckel des Tanks, poliert noch einmal schnell das Glas und verschwindet wieder. Wenn man genau hinschaut, sieht man, dass er die ganze Zeit über lächelt, was entweder ein bisschen unheimlich wirkt oder aber bedeutet, dass er komplett unschuldig ist. Anschließend zeichnet die Kamera keinerlei Bewegungen auf, bis Saul Spencer, der Kurator, die Gäste um zwanzig Uhr achtunddreißig in die Galerie führt. Kurz darauf bricht das Chaos aus, als Callum Oak den Tank auf die Seite kippt und den Deckel aufstemmt, woraufhin der Leichnam zusammen mit zig Litern Formaldehyd herausschwappt. Das ist absolut rätselhaft.«

»Sagten Sie nicht, Benno habe mit den Kurieren von MasterMoves gesprochen?«, fragte Caine.

»Ja, er ist überzeugt, dass sie sauber sind. Warten Sie kurz … Hier ist ihre Website.«

Shanti öffnete eine professionell wirkende Seite. Neben dem Foto eines kleinen Teams und mehrerer Lieferwagen stand der Slogan: MasterMoves. Wir transportieren Ihre Kunstwerke – Dalí und ohne Macke.

»Ich kapier’s nicht«, sagte Shanti.

»Das sind die Namen von … ach, egal.«

»Laut Benno sind die MasterMoves-Jungs wochenlang hin- und hergefahren, um bizarre Dinge in Glastanks aus Kristalls Atelier in die Meat Hook Gallery zu bringen. Nachzuschauen, was genau sich in diesen Tanks befand, gehörte nicht zu ihrem Job. Außerdem war der Ausstellungsraum nur sehr spärlich beleuchtet, als die zwei die Holzverschalung entfernten.«

»Wollen Sie damit sagen, dass die Kuriere keine Ahnung hatten, ob der Tank eine Replik oder einen echten Körper enthielt?«

»Genau das behaupten die zwei. Und Benno ist sich sicher, dass sie nichts zu verbergen haben. MasterMoves ist ein blitzsauberes Familienunternehmen. Außerdem wissen wir, dass sie eine Attrappe geliefert haben, denn auf dem Band sehen wir Art um achtzehn Uhr dreißig mit Kristal streiten, und da ist sie noch quicklebendig.«

»Zumindest sieht es danach aus.«

»Nun, Caine, sagen Sie, was Sie wollen, aber wenn Sie mich fragen, benimmt sich Art Havfruen weiß Gott nicht wie jemand, der gerade seine Mutter verloren hat.«

»Jeder trauert auf seine eigene Art und Weise, Shanti. Ich habe mich schon einmal damit auseinandergesetzt. Wir haben es hier mit einem jungen Mann zu tun, der von emotional unreifen Eltern großgezogen wurde, daher sind seine eigenen Gefühle ein wenig … unterentwickelt. Um ehrlich zu sein, bin ich noch nie einem Menschen mit einer derart konfliktbehafteten Wahrnehmung eines seiner beiden Elternteile begegnet. Sagte er nicht, er sei in seine Mutter ›verliebt‹ gewesen?«

»Ja. Er behauptete, jedes Kind sei in seine Mum verliebt. Waren Sie in Ihre Mutter verliebt, Caine?«

»Nicht auf diese Art und Weise, Dr. Freud.«

»Und erklären Sie mir eins: Warum war er so nervös, als er uns sagen sollte, wo er sich vor der Ausstellungseröffnung aufgehalten hat? Er hat uns erzählt, er habe das Wochenende in seiner Chillbude in Charmouth verbracht, doch näher wollte er sich definitiv nicht dazu äußern.«

»Das ist richtig – die Frage hat ihn aus dem Konzept gebracht. Es könnte allerdings sein, dass er sich schuldig fühlt wegen seiner illegalen Handlungen.«

Shanti kaute auf einem Fingernagel. »Hm. Ich gebe zu, dass ich buchstäblich nicht den blassesten Schimmer habe, wie jemand Kristal unter Drogen setzen und gegen eine Silikonattrappe austauschen konnte, ohne auf den Aufnahmen der Überwachungskameras zu erscheinen. Das ist wie in einer albernen Geistergeschichte – aber ich werde schon dahinterkommen, Caine. Ja, das werde ich. Ich, Shantala Holmes. Wenn Sie mitmachen wollen – super. Unterdessen wird sich Art Havfruen jede Menge Erklärungen einfallen lassen müssen. Der Superintendant möchte ihn weiterhin unter Arrest stellen. Das ganze Präsidium steht unter massivem Druck. Haben Sie die Pressemeute vor der Tür gesehen?«

»Hab ich.«

»Wenn ich noch ein einziges Mal gefragt werde: ›Wer hat Kristal ermordet?‹, dann schwöre ich, dass ich den Mord höchstpersönlich zugebe.«

»Dann macht es doch gewiss Sinn, das Ganze ordentlich hinzubekommen. Hören Sie, Shanti, Sie stehen unter gewaltigem Druck, das weiß ich. Allerdings haben Sie mir erzählt, dass Sie Ihren letzten Fall in den Sand gesetzt haben. Wenn Sie jetzt also den Falschen verhaften, könnte das das Ende Ihrer Karriere bedeuten. Ich rate Ihnen daher, die Dinge langsam angehen zu lassen. Wirklich. Art wird nicht davonlaufen. Ich denke, wir sollten ihn fürs Erste auf freien Fuß setzen, zumal er für niemanden eine Gefahr darstellt.«

»Sie raten mir, dass ich langsam machen soll, aber wenn Art tatsächlich unschuldig ist, läuft da draußen ein Killer frei herum.«

»Das ist richtig, wenngleich mir mein Instinkt sagt, dass es sich um eine persönliche Tat handelt. Ich meine, das Ganze zielte ausschließlich auf Kristal ab.«

»Das ist total frustrierend«, brauste Shanti auf. »Ich sehe doch, dass Art etwas vor uns verbirgt. Wenn er nicht schuldig ist, warum stellt er sich dann so quer, was unsere Ermittlungen betrifft? Ich kapier’s einfach nicht. Aber Sie haben recht: Wir können ihn nicht länger festhalten. Ich muss ihn entweder unter Anklage stellen oder laufen lassen. Trotz der Aufnahmen der Überwachungskameras, der Drogen und all seiner Lügen habe ich nicht genug in der Hand, um ihn festzunageln.«

»Exakt. Holen Sie Benno; er soll ihn anweisen, sich vorläufig in Südwestengland zu unserer Verfügung zu halten – entweder bei seinem Vater in Mangrove House oder in seinem Wochenendrefugium in Charmouth. Ich bin mir sicher, dass er für ein paar Tage von zu Hause aus arbeiten kann.«

»Und was schlagen Sie nun vor, weiser Mann? Sollen wir meditieren?«

»Wir könnten Sinnvolleres tun. Zum Beispiel könnten wir uns näher mit dem beschäftigen, was Art uns erzählt hat. Er sagt, Kristal habe die Leute seit Jahren vor den Kopf gestoßen. Also müssen wir genau dorthin zurückgehen.«

»Wohin?«

»Dorthin, wo alles begonnen hat.«