Kapitel neun
Wenn Sie noch nie in der kornischen Stadt Falmouth waren, sollten Sie sich vorstellen, dass ein riesiges Kleinkind seine Bauklötzchen hügelabwärts gekippt hat, wo sie kunterbunt durcheinander ins Wasser gepurzelt sind. Tatsächlich scheinen manche der Granitgebäude im Hafen selbst gelandet zu sein, wo sie zwischen den ächzenden Nabelschnüren der Boote auf Felsen und Pfeilern thronen. Es gibt geheimnisvolle Gassen, Muskelkater erzeugende Treppen und Palmen, mit denen man hier so gar nicht rechnet. Und all das wird begleitet von dem mörderischen Geschrei der Möwen.
Am Telefon hatte Marlene Moss begeistert zugestimmt, als Shanti und Caine ankündigten, bei ihr vorbeizuschauen. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich etwas Wertvolles zu Ihren Ermittlungen beitragen kann, aber ich bekomme derzeit nicht viel Besuch, deshalb wäre es schön, Sie zu sehen.« Sie hatte ihnen detailliert den Weg zu ihrem Cottage erklärt. »Die Zufahrt ist ziemlich steil«, hatte sie sie gewarnt, dann hatte sie das Gespräch beendet, indem sie noch einmal ihr tiefes Entsetzen und ihre aufrichtige Trauer über Kristals gewaltsamen Tod bekundete.
Bis zu ihrem Treffen mit der ehemaligen Leiterin der Fakultät für Malerei an der Falmouth School of Art blieb ihnen noch eine Stunde, die Shanti und Caine in einer höher gelegenen Straße, die sich Woodlane nannte, verbrachten. Ein Schild an einem schmiedeeisernen Flügeltor informierte sie darüber, dass sie sich vor ebenjener Kunsthochschule befanden, an der Moss unterrichtet hatte. Zu ihren Studenten zählten damals auch Kristal Havfruen, Callum Oak und Oliver Sweetman.
Die beiden Detectives schlenderten eine sich in sanften Schlangenlinien dahinwindende Zufahrt entlang, vorbei an weichen Rasenflächen und elefantösen Pflanzen. Selbstbewusste Studenten mit kunstvollen, an Topiari erinnernden Frisuren lagen lachend und scherzend im Gras oder entspannten in den subtropischen Gartenanlagen. Niemand schenkte Shanti und Caine, die mehrere ganz aus Glas bestehende Ateliers und gut besuchte Werkstätten passierten, auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Ein Gebäude war besonders beeindruckend – ein scharfkantiger Komplex aus Stahl und Glas, in dem teures Film- und Computerequipment zu sehen war. Eine Tafel teilte dem aufmerksamen Leser mit, dass es sich dabei um das Havfruen-Gebäude handelte, ermöglicht durch eine großzügige Spende der Rasmussen-Stiftung aus Kopenhagen. Hinter die Tafel hatte jemand einen Strauß roter und weißer Rosen gesteckt, der in seiner Zellophanhülle vor sich hin welkte.
Auf einem weniger gepflegten Teil des Campus gelangten sie zu den etwas langweilig aussehenden Ateliers für die bildenden Künste – schlichte, holzverkleidete Gebäude, in denen ein paar Studenten miteinander plauderten oder halbherzig an farbbeklecksten Staffeleien arbeiteten.
»Haben Sie den Unterschied bemerkt?«, fragte Caine.
»Welchen Unterschied meinen Sie?«
»Vielleicht bilde ich mir das ein, aber es kommt mir beinahe so vor, als wären die traditionellen Künste weit abgeschlagen hinter der Performance- und Videokunst. Ich frage mich, ob das Kristals Verdienst ist.«
»Ich wünschte jedenfalls, jemand hätte mich dafür bezahlt, ein Sonnenbad auf dem Rasen zu nehmen, als ich in dem Alter war«, erwiderte Shanti seufzend.
Kurze Zeit später verließen sie das Gelände der Falmouth School of Art und kehrten in die Stadt zurück, wo sie durch die kopfsteingepflasterten Straßen bummelten, heiße Pasteten in der Hand – einmal vegetarisch, einmal mit Hühnchen. Trotz des Drucks, den der Fall mit sich brachte, stellte Shanti überrascht fest, dass sie den Sonnenschein genoss, genau wie die Anwesenheit des hochgewachsenen Mannes an ihrer Seite – auch wenn sie das niemals zugegeben hätte.
Die Schlagzeile einer Lokalzeitung vor einem Zeitungskiosk riss sie aus ihren Tagträumen:
WER HAT KRISTAL ERMORDET?
NOCH IMMER KEINE FESTNAHME IM HAVFRUEN-FALL
»Verflucht, als müsste man mich extra daran erinnern«, murmelte sie.
Sie sprach mit sich selbst, denn Caine war von ihrer Seite gewichen und vor einem Schlafsack in einem Hauseingang in die Hocke gegangen. Ein alter Mann steckte darin, der ihm einen armseligen Styroporbecher entgegenstreckte. Ohne zu überlegen, durchforstete Caine seine Tasche und warf eine ordentliche Handvoll Münzen hinein.
War das so eine typisch männliche Sache, mitten in einem Gespräch einfach abzuhauen? Caine und der alte Mann schienen jetzt tief in ihr eigenes Gespräch versunken zu sein.
»He, Caine, sind Sie mit mir hier, oder möchten Sie lieber bei Ihrem neuen Kumpel bleiben?«, rief Shanti.
Er drückte dem Mann die Hand, dann rappelte er sich auf und holte sie schnellen Schrittes ein.
»Entschuldigung«, sagte er.
»Wir sind Polizisten, keine Sozialarbeiter«, erinnerte sie ihn.
»Wie ich immer so schön sage: Was man sät …«
»Ja, ich weiß, was Sie immer sagen. Und – was haben Sie geerntet? Eine Ausgabe der Straßenzeitung Big Issue?«
»Ich habe Informationen erhalten. Der Alte hat sein ganzes Leben in Falmouth verbracht. Nach dem Tod seiner Frau ist er abgerutscht …«
»Das ist ausgesprochen tragisch, Caine, aber wie hilft uns das weiter?«
»Er weiß alles über Kristal Havfruen. Behauptet, jeder in der Stadt wisse über sie Bescheid. Als Studentin hat sie ein Haus namens Rock Cottage gemietet, zu dem man offenbar durch eine dieser Gassen gelangt … die da drüben, glaube ich. Allem Anschein nach ist es ein ziemlich sonderbarer Ort. Möchten Sie einen Blick darauf werfen?«
Shanti schaute auf die Uhr und nickte. Einen Augenblick später eilten sie über rutschiges Pflaster, vorbei an einer barbusigen Galionsfigur. Katzen und riesige Möwen stritten sich um den Inhalt mehrerer umgekippter Mülltonnen. Es war ein finsterer Ort, und es stank. Am Ende der zum Meer hinunterführenden Gasse schwappte öliges Wasser um ihre Füße.
»Oh, ich kann es sehen«, sagte Caine und deutete aufs Wasser hinaus. »Dort hinten, Rock Cottage.«
»Wie bitte? Kristal hat auf einem Boot gelebt?«
»Nein. Schauen Sie doch mal genauer hin … Sehen Sie den schwarzen Felsen? Da steht ein Gebäude drauf.«
Shanti entdeckte den Felsen weit draußen im Meer. Tatsächlich, darauf stand ein winziges Fischerhäuschen, das gut getarnt und daher kaum zu erkennen war. Es schien aus demselben schwarzen Stein erbaut zu sein, aus dem die kleine Insel bestand, und war vermutlich nicht weniger überzogen mit Rankenfußkrebsen und Guano.
»Und dort soll sie als Studentin gelebt haben? Aber … ich meine, wie zum Teufel ist sie dorthin gekommen?«
»Bei Ebbe führt ein Damm dorthin«, sagte eine Stimme hinter ihnen. »Sonst müssen Sie rudern.«
Sie drehten sich um und sahen einen birnenförmigen Mann in Arbeitsoverall und Gummistiefeln. Die Vorderseite seines dicken Bauchs war verschmiert mit Blut und silbernen Fischschuppen. In einer Hand hielt er ein Messer mit Knochengriff, in der anderen einen Eimer mit sich windenden Krabben.
»Ich wollte Sie nicht erschrecken, aber Rock Cottage gehört mir. Ich habe es ihr in den Neunzigern vermietet. Sie sprechen doch von Kristal, oder?«
Shanti nickte. »Wie gut kannten Sie sie?«
»Nicht sonderlich gut. Ihr Stiefvater hat die Miete auf mein Konto überwiesen, deshalb gab es nie irgendwelche Probleme. Ein Mr. Ras-, Ras-…«
»Rasmussen?«
»Ja, so hieß er. Niemand, der Kristal einmal kennengelernt hatte, konnte sie wieder vergessen, und ich bin wirklich traurig über das, was mit ihr passiert ist. Sie war ein echter Hingucker, das kann ich Ihnen sagen. Trug immer ein weißes Kleidchen und glänzende rote Stiefel. Alle in der Stadt haben sich nach ihr umgedreht. Ich wohne übrigens dort oben«, sagte er und deutete mit dem Kinn auf den Erker eines maroden Häuschens. »So kann ich meine Mieter im Auge behalten. Wenn Sie sich im Schlafzimmer auf einen Stuhl stellen, sehen Sie alles. Ich hab sie oft dabei beobachtet, wie sie das Wasser überquert hat, und ich erinnere mich genau daran, wie ihre blonden Haare nachts im Mondschein schimmerten. Es sah aus, als würde sie über das Wasser wandeln.«
»Hat sie allein dort gewohnt?«
»Sie sind von der Presse, hab ich recht?«
»Nein, nicht von der Presse …« Shanti zückte ihren Dienstausweis und zeigte ihn dem Mann, der weise nickte.
»Ich darf die Fischerhütte wohlgemerkt nicht mehr vermieten – aus Sicherheitsgründen. Mir bleibt daher nur noch die Krabbenfischerei.«
Caine las ihn wie ein offenes Buch. »Wie viel kosten die Krabben? Alle, die Sie hier in dem Eimer haben?« Er zückte seine Geldbörse.
»Zwanzig.«
»Zehn?«
»Abgemacht.«
Der Mann reichte ihm den Eimer und steckte den Geldschein ein. Shanti sah, wie sein schroffes Gehabe einem leutseligen Lächeln wich.
»Kristal hat allein gelebt, aber es kamen jede Menge Besucher zu ihr. Zwei junge Burschen schienen ganz besonders von ihr angetan zu sein. Kunststudenten – Gott weiß, was die da angestellt haben.«
»Kennen Sie die Namen von den beiden ›Burschen‹?«
»Nein, aber ich habe ein gutes Gedächtnis, was Gesichter betrifft. Einer war groß, sah gut aus und hatte Locken, der andere war ein wahrer Riese mit einem Gesicht wie ein Petersfisch und fuchsroten Haaren. Die beiden pendelten ständig hin und her, immer über den Damm. An eine Nacht erinnere ich mich ganz besonders – ich schaute durch mein Fernglas, deshalb konnte ich alles genau sehen. Der Hässliche kam zu Besuch. Ging über den Damm, als habe er Angst, ins Wasser zu fallen. Er klopfte an die Tür, und als sie öffnete, hatte sie kaum einen Fetzen Kleidung an ihrem jungen Körper – ich wusste gar nicht, wo ich hinschauen sollte. Hinter ihr stand der Gutaussehende. Sie stritten miteinander, zwischen den beiden Burschen knallte es heftig. Aber für Kristal war das anscheinend alles nur ein Spiel.«
»Hatten Sie Gefühle für sie?«
»Na klar doch! Selbst eine Klaffmuschel hätte Gefühle für ein Mädchen wie Kristal entwickelt. Es gab viel Gerede über das, was sich auf der Kunsthochschule abspielte – lebende Modelle, die stundenlang ihre Intimteile präsentierten, während die Studenten sie malten. Aber die Show, die dann folgte, war noch mal eine andere Nummer. Sie wissen, wovon ich spreche: von dieser verfluchten Sexshow. Eine Gruppe meiner Kumpel war da, als Zuschauer. Sie hat die Leute so richtig provoziert. Unnatürliche Bedürfnisse geschürt. Und jetzt hat sie den Preis dafür bezahlt. Ich behaupte damit nicht, dass ich das richtig finde, ganz und gar nicht, aber ich habe Verständnis für die, die das tun – mehr habe ich dazu nicht zu sagen.«
Der birnenförmige Mann drehte sich um und verschwand im Schatten der Häuser.
»Was zum Teufel machen Sie jetzt mit denen?«, fragte Shanti, als er weg war, und deutete auf den Eimer, den Caine immer noch in der Hand hielt.
Anstelle einer Antwort bückte er sich und leerte den Inhalt vorsichtig in die an Land rollenden Wellen, wobei er ein paar verirrte Krabben behutsam mit den Fingern in die richtige Richtung lenkte. Anschließend spülte er den Eimer gründlich aus und stellte ihn vor die Tür des Krabbenfischers.
»Herrgott«, seufzte Shanti.
Zurück auf der High Street sagte Caine: »Ich nehme an, der mit den lockigen Haaren war Oak.«
»Und der mit dem Gesicht wie ein Petersfisch?«
»Wer auch immer das war: Er hatte hinterher ein gebrochenes Herz, soviel steht fest.«
Sie folgten den Anweisungen von Google Maps auf Shantis Handy und machten sich auf den steilen Weg zum östlichen Ende der Stadt. Es war extrem anstrengend, und als sie den Ort erreichten, der »Jakobsleiter« genannt wurde, bliebt Shanti stehen und sah sich bestürzt um.
»Sie machen Witze!«
Vor ihnen ragte die längste Granittreppe in die Höhe, die sie in ihrem ganzen Leben je gesehen hatte, abgetreten von unzähligen Füßen, die sie über Hunderte von Jahren hinweg benutzt hatten.
Der Aufstieg war schwer genug, doch das wirklich Nervtötende dabei war, dass Caine unentwegt plapperte, als sei ihm gar nicht klar, was für eine alpine Meisterleistung sie gerade vollbrachten.
»Wissen Sie, was ich dachte, als ich den Mann reden hörte?«
»Was?«, japste Shanti.
»Er kam mir vor wie ein Komparse! Das Bild, das er in mir heraufbeschwor, war das einer wunderschönen Sirene, die Seemänner ins Verderben lockt.«
Shanti blieb zusammengekrümmt stehen und stieß angestrengt »Typischer sexistischer Unsinn!« hervor. »Derartige Märchen haben Frauen jahrhundertelang auf ihre Plätze verwiesen. Glauben Sie mir, jede Kultur hat ihre eigene Art und Weise, Frauen zu unterdrücken. Entweder sind wir alt und jenseits von Gut und Böse, oder wir sind jung und tödlich.«
»Sie haben vermutlich recht. Ich werde darüber nachdenken. Ich nehme an, Orte wie dieser sind voller Legenden. Möchten Sie eine Pause einlegen?«
»Mir geht es wunderbar, vielen Dank. Gehen Sie ruhig voran. Ich genieße noch ein wenig die Aussicht.«
Und was für eine Aussicht das war – über die Bucht nach St. Mawes und den Helford River. In der Ferne war Pendennis Castle zu erkennen.
Als sie endlich oben angekommen war und gierig nach Luft schnappte, hatte Caine das kleine Cottage von Marlene Moss am Vernon Place bereits entdeckt. Der Vorgarten wurde von einer Mülltonne auf Rollen und mehreren Recyclingbehältern dominiert, daneben lagen zusammengerechte Blätterhaufen.
Caine schien Schwierigkeiten mit der Türklingel zu haben. Er drückte lang und fest darauf, aber anscheinend war die Batterie fast leer.
Das dumpfe Rasseln erinnerte an Todesröcheln.