Kapitel III
Kein Land in Sicht

Die Nacht wich langsam der hereinbrechenden Morgendämmerung. Angestrengt suchte von Berg den Horizont ab, in der Hoffnung, die Küste ausmachen zu können. Es lag noch ein Dunstschleier auf der Wasseroberfläche, in dem von Berg die Ursache hoffte, noch nichts erkennen zu können. Doch von Minute zu Minute wurde es heller und die ersten Sonnenstrahlen tilgten den Schleier über dem Atlantik und damit auch den letzten Rest Hoffnung, den von Berg noch hatte, die Küste sehen zu können. Er kniff die Augen zusammen und tastete den Horizont immer und immer wieder ab, aber nichts – einfach nichts als Wasser. Inzwischen kam auch Faßmann wieder zu sich. Er streckte beide Arme in die Höhe und sagte fast vergnügt: „Guten Morgen, Herr Kollege. Hoffe, wohl geruht zu haben.“ Von Berg war gar nicht zum Scherzen zumute. „Wir müssen gestern in die völlig falsche Richtung gefahren sein. Wahrscheinlich sind wir zu allem Übel in der Nacht dann auch noch weiter aufs offene Meer abgetrieben„, sagte er in ernstem aber bedacht ruhigem Tonfall. „Okay, und was bedeutet das jetzt?“, fragte Faßmann in der Hoffnung, dass von Berg ihm gleich sagen wird, wie sie dennoch sicher zur Küste kommen würden. „Das bedeutet, dass wir ziemlich weit von der Küste weg sind“, erklärte er in dem gleichen ruhigen Ton. Faßmann tastete sodann ebenfalls mit seinen Augen angestrengt den Horizont ab. Auch er sah nichts, nichts als die Weiten des Atlantiks. Von Berg versuchte, sich mit seiner Erfahrung aus jahrelanger Seefahrt am Stand der Sonne zu orientieren. „Die Küste muss in diese Richtung sein“, sagte er schließlich, als er über seinen ausgestreckten Arm und Zeigefinger in Richtung Horizont blickte. „Okay, dann lass uns fahren“, sagte Faßmann, während er bereits zum Zündschlüssel griff, um den Motor zu starten. „Ja, aber fahr langsam, damit wir nicht unnötig Sprit verbrauchen“, ermahnte ihn von Berg. „Keine Sorge“, erwiderte Faßmann, der die Anmerkung für etwas überflüssig hielt. Er drehte den Zündschlüssel bis zum Anschlag nach rechts, und der Motor sprang an. Sie fuhren mit der aufgehenden Sonne im Rücken langsam über den immer noch ruhigen Atlantik, ohne dass von der Küste irgendetwas zu sehen war. Nach einer halben Stunde und weiterhin ohne einen Schimmer von der Küste, fragte von Berg: „Wieviel Sprit haben wir noch?“

„Immer noch viertel voll.“

„Gut.“

Plötzlich bekam der Motor kleine Aussetzer.

„Was ist los?“, fragte von Berg.

„Keine Ahnung. Am Sprit kann’s nicht liegen.“

Aus den Aussetzern wurde schnell ein andauerndes Stottern, bis der Motor schließlich überhaupt keinen Schub mehr gab und ganz ausging. Faßmann betätigte den Anlasser – nichts. Er versuchte es wieder und wieder, bis der Anlasser hörbar schwächer wurde, durch die sich damit schnell entladende Batterie. „So eine verdammte Scheiße!“ brüllte Faßmann schrill. Er war offensichtlich kurz davor, die Nerven zu verlieren. „Jetzt lass uns erst mal nachsehen, woran es liegen kann“, versuchte von Berg ihn zu beruhigen. Von Berg kam der Benzingeruch wieder in den Sinn, als sie auf der Flucht vor den Piraten mit Vollgas durch die Nacht rasten. Er untersuchte den Rumpf des Jetski um den Tank herum und fand das Einschussloch, das sich allerdings recht weit oben befand, sodass der Tank mindestens halb voll geblieben sein musste. „Gut, daran kann es also schon mal nicht liegen“, dachte sich von Berg. Doch im nächsten Moment traf ihn eine Vermutung wie ein Schlag. Durch das Loch ist wahrscheinlich während der Fahrt kontinuierlich Wasser in den Tank gelangt, bis der Treibstoff so verdünnt war, dass der Motor nicht mehr zündete. „Und? Irgendeine Ahnung, woran es liegen könnte?“, fragte Faßmann, der sich inzwischen wieder etwas gefangen hatte.

„Ich fürchte ja.“

„Und?“

Von Berg schilderte Faßmann seine Vermutung, die so einleuchtend war und auch zu dem sich kein bisschen verändernden Füllstand des Tanks passte, dass auch er sofort erkannte, die Ursache für den Ausfall des Motors konnte nur das eingedrungene Meerwasser sein. „Was machen wir denn jetzt bloß?“, fragte Faßmann, dem man ansah, dass sein Nervenkleid auf’s äußerste angespannt war.

„Jetzt können wir nur warten und hoffen, dass rechtzeitig ein Schiff vorbeikommt, das uns aufnimmt.“

„Und wenn kein Schiff vorbeikommt?“

„Es wird eins vorbeikommen. Das ist ein viel befahrenes Gewässer.“

„Und wann wird das sein, denkst du?“

„Vielleicht gleich heute oder auch erst morgen. Das kann man nicht so genau wissen. Wir können jetzt nur abwarten.“

„Na, dann warten wir’s eben einfach mal ab!“, erwiderte Faßmann mit verzweifelter Ironie.

Von Berg wusste, dass ihnen deutlich weniger Zeit blieb, als Faßmann ahnte. Auf dem Meer in praller Sonne könnten sie kaum länger als drei bis höchstens vier Tage überleben und von Berg wusste, wie unwahrscheinlich es war, dass rechtzeitig ein Schiff nahe genug an ihnen vorbeifahren würde, sodass sie sich auf dem winzigen Jetski bemerkbar machen können.

Die beiden saßen stundenlang ohne ein Wort auf dem kleinen Wasserfahrzeug und starrten in die grenzenlose Weite, die sie umgab. Faßmann erinnerte sich an einen Zeitungsartikel, den er vor längerer Zeit gelesen hatte, in dem es um das Verhalten von Flugzeugpassagieren ging, nachdem ihnen der Kapitän eröffnete, dass sie abstürzen werden. Entgegen dem, was man allgemein vermuten sollte, bricht in dem Flugzeug kein panischer Tumult aus, sondern fast alle bleiben auffällig ruhig sitzen. Nicht wenige schreiben auf die Kotztüte oder was sie sonst schnell in die Finger bekommen ihr Testament und letzte Worte an ihre Lieben. Faßmann fühlt sich in einer ähnlichen Situation und war erstaunt, an sich keine Panik zu verspüren, sondern eher tief in Gedanken versunken zu sein an die besonderen Ereignisse, die sein bisheriges Leben geprägt hatten.

Plötzlich stand von Berg auf und bat Faßmann, ebenfalls aufzustehen. Als beide standen, klappte von Berg die Sitzbank zur Seite und nahm aus dem Fach darunter zwei der alten Handtücher. „Die legen wir uns über den Kopf und die Schultern“, sagte von Berg, während er eines Faßmann reichte, der sofort erkannte, dass das angesichts der inzwischen sengenden Sonne eine sehr gute Idee war. Dann durchsuchte von Berg die Mineralwasserflaschen und fand eine, die noch zu einem reichlichen Drittel gefüllt war. Er platzierte sie sorgsam gesichert aufrecht, nachdem er sich vom festen Sitz des Verschlusses überzeugt hatte. Faßmann erkannte sofort den potentiellen Wert des Fundes, auch wenngleich es in ihm weiteres Unbehagen auslöste. Beide setzten sich wieder hin und legten sich die Handtücher über Kopf und Schultern, die muffig und nach altem Motoröl rochen.

Faßmann verlor jedes Zeitgefühl. Als die Sonne ihren Zenit schon weit überschritten hatte und begann, sich wieder dem Horizont zuzuneigen, fragte Faßmann nach der Uhrzeit.

„Kurz nach vier.“

„Der Tag ist fast vorbei und in deinem viel befahrenen Gewässer war noch kein einziges Schiff zu sehen.“

„Das steigert nur die Wahrscheinlichkeit, dass bald eins vorbeikommen wird.“

„Ich hoffe, du hast recht. Kann ich mal einen Schluck aus der Wasserflasche haben?“

„Klar“, erwiderte von Berg. Sie erhoben sich, von Berg holte die Flasche aus dem Fach unter dem Sitz hervor und reichte sie Faßmann, der einige kleine Schlucke nahm und darauf achtete, nicht mehr als die Hälfte dessen zu trinken, was sie noch beinhaltete. Er gab sie von Berg zurück, der einen Blick auf ihren Füllstand warf und sie Faßmann noch mal reichte.

„Nimm noch einen Schluck.“

„Die andere Hälfte ist für dich.“

„Ja, die andere Hälfte“, sagte von Berg und hielt Faßmann die Flasche weiter entgegen. Faßmann nahm noch einen kleinen Schluck und gab die Flasche von Berg zurück. Dann setzte von Berg an und trank den Rest der Flasche in einem Zug aus. Danach stand er unvermittelt auf, öffnete seine Hose und pinkelte in die leere Flasche. Überrascht und auch ein wenig angewidert fragte Faßmann: „Was willst du mit der Urinprobe?“

„Nur für den schlimmsten Fall. Habe ich bei der Legion gelernt.“

Faßmann wurde klar, dass auch von Berg nicht unbedingt davon ausging, dass so bald ein Schiff vorbeikommen würde.

Inzwischen stand die Sonne tief und beide richteten sich gedanklich mehr und mehr darauf ein, eine weitere Nacht auf dem offenen Ozean zu verbringen. Doch plötzlich sprang Faßmann auf.

„Wilhelm, schau mal da! Das ist doch ein Schiff?“

„Ja, das ist eins! Versuch’ nochmal, den Motor zu starten.“ Faßmann betätigte den Anlasser, doch er gab mit seinen immer schwächer werdenden Umdrehungen nur einmal mehr die starke Erschöpfung der Batterie wieder. Dann standen beide auf, winkten mit den Armen in Richtung des Schiffes und schrien, so laut sie konnten, um Hilfe. Als sie merkten, dass das zwecklos war, sagte von Berg: „Los, wir versuchen in die Nähe zu paddeln“. Er kniete sich halbseitig auf das Trittbrett, das andere Bein ausgestreckt auf der Sitzbank, um mit der Hand so gut es geht durch das Wasser zu kraulen. Ohne einen Moment zu zögern, tat Faßmann das Gleiche. Und es schien, dass sie sich dem Schiff tatsächlich etwas nähern konnten. Beide mobilisierten ihre letzten Kräfte und wühlten sich so schnell und so kräftig sie konnten durch das Wasser. Als sie genau auf der Höhe des kreuzenden Schiffes waren, standen sie wieder auf und schrien, was ihre Stimmbänder hergaben, um Hilfe. Sie waren dem riesigen Containerschiff inzwischen so nahe, dass sie jedes Detail an Deck erkennen konnten. Das einzige, das nicht auszumachen war, war ein Mensch, der sie hätte sehen können. So beschlossen sie, sich wieder hinzuknien und noch weiter an der Schiff heran zu paddeln. Immer wieder suchten sie das Deck ab in der Hoffnung, einen Menschen darauf zu erblicken. Da sprang Faßmann plötzlich auf. „Ich habe jemanden gesehen – auf der Brücke“, rief er. Auch von Berg stand auf und beide schrien erneut aus Leibeskräften um Hilfe, während sie der Backbordseite der Brücke zuwinkten. Doch dann sahen sie, wie der Mann in einem kurzärmeligen weißen Hemd sich wieder langsam abwendete und wegging. Verzweifelt paddelten sie weiter in Richtung des Ozeanriesen, der seine Fahrt indes unvermindert fortsetzte. Inzwischen waren sie dem Schiff so nahe gekommen, dass Sie steil hinauf sahen. Wieder und wieder riefen Sie um Hilfe, doch niemand hörte oder sah sie, während das Schiff unerbittlich seine Fahrt fortsetzte. „Schnell, wir müssen wieder ein Stück von dem Schiff weg paddeln“, sagte von Berg mit inzwischen leicht heiserer Stimme.

„Wieso denn das?“

„Wir kommen dem Heck gefährlich nahe und wenn wir zu dicht dran sind, reißt uns der Schraubenstrudel mit.“

Von Berg ging wieder in die Knie und fing an, entgegengesetzt zu paddeln. Faßmann schaufelte mit seinem linken Arm in die andere Richtung durch das Wasser, um den Jetski zu wenden. So sehr die beiden dann auch ruderten, sie gewannen nicht schnell genug den nötigen Abstand. Auf der Höhe des Hecks bauten sich plötzlich für den kleinen Jetski riesige Wellen auf, die ihn wie ein Stück Treibholz anhoben und kurz darauf wieder in die Tiefe stürzen ließen. Beide hatten Mühe, sich auf der Sitzbank zu halten. Als sich der Jetski längsseits zur Fahrtrichtung des Schiffes drehte und von der nächsten Welle erfasst wurde, kenterte er, drehte sich um 180° und begrub Faßmann und von Berg unter sich. Es ging so schnell, dass keine Zeit blieb, bewusst tief einzuatmen. So blieb ihnen kaum mehr als eine Minute, um unter dem Jetski hinweg- und wieder aufzutauchen. Zuerst gelang es von Berg wieder an die Wasseroberfläche zu kommen. Sofort sah er sich nach Faßmann um, konnte ihn aber nicht finden. Er wusste, spätestens nach einer weiteren Minute würde Faßmann unwillkürlich dem Atemreflex nachgeben. Dann würde sich seine Lunge schlagartig mit Wasser füllen und er würde das Bewusstsein verlieren. Wenig später wäre er tot. Er holte tief Luft und tauchte wieder ab. Von Faßmann war weiterhin nichts zu sehen. Er schwamm wieder an die Oberfläche und sog so viel Luft ein, wie er nur konnte. Als er erneut abtauchte, fand er Faßmann einige Meter unter sich, wie er leblos in die Tiefe sank. Mit aller Kraft schwamm er zu ihm hinab, griff ihm unter die Arme und versuchte, mit seinen Beinen so schnell wie möglich an die Oberfläche zu schwimmen, wobei er zunehmend gegen das Brennen in seinen Schenkeln und den Körperreflex ankämpfte, den Mund zu öffnen, um einzuatmen. Im allerletzten Moment durchstieß er mit dem leblosen Körper Faßmanns die Wasseroberfläche, riss den Mund auf und stieß die längst verbrauchte Luft aus seiner Lunge, um sie sofort darauf mit einem tiefen Atemzug wieder zu füllen. Er wusste, dass es nach wie vor um Sekunden ging. Er zerrte mit schwindenden Kräften Faßmanns Körper auf die aus dem Wasser ragende Unterseite des Jetski. Zunächst war er froh, bei Faßmann noch einen, wenn auch schwachen Pulsschlag zu spüren. Deutlich beunruhigender war, dass er keine Atmung mehr feststellen konnte. Sofort begann er mit der Mund-zu-Mund-Beatmungen, wie er sie bei der Fremdenlegion nicht nur einmal schon anwenden musste. Plötzlich bäumte sich Faßmann krümmend auf und spie hustend Wasser aus. Von Berg half ihm, sich aufzusetzen, während er weiter wie wild hustete und fast gleichzeitig nach Luft schnappte. Als sich Faßmann halbwegs stabilisiert hatte und wieder zu sich kam, ließ sich von Berg auf die Unterseite des Jetski sinken. Völlig erschöpft auf seine Unterarme gestützt und ebenso tief nach Luft schnappend sah er Faßmann an. „Ich hab’ jetzt was gut bei dir“, sagte er zwischen zwei schnellen Atemzügen. Faßmann blickte von Berg nur an. Aus seinen Augen aber sprach unendliche Dankbarkeit. Von Berg hatte ihm gerade das Leben gerettet, wobei er beinahe seines verloren hätte.

„Wir müssen den Jetski wieder umdrehen“, sagte von Berg, als er spürte, seine Muskulatur wieder etwas beanspruchen zu können.

„Schaffst du es, für ein paar Minuten nochmal ins Wasser zu gehen?“

„Ja, klar“, erwiderte Faßmann, obwohl er sich tatsächlich alles andere als sicher war, dazu schon wieder in der Lage zu sein. Faßmann rutschte vom Rücken des Jetski und versuchte, sich so kräftesparend wie möglich über Wasser zu halten. Von Berg stellte sich mit den Zehenspitzen seitlich auf den Stoßfänger, der aus dem Wasser ragte und fing an, den Jetski aufschaukeln. Dann beugte er sich über das Gefährt und packte den Stoßfänger auf der gegenüberliegenden Seite und zog daran, während er sich ins Wasser fallen ließ, wodurch sich der Jetski tatsächlich wieder aufrichtete. Faßmann war schwer beeindruckt von dem, was er da sah. Von Berg stieg wieder auf und rief: „Los komm’, bevor dich die Haie noch in ihre Menüfolge aufnehmen“. Faßmann machte mit Mühe ein paar Schwimmzüge und ergriff von Bergs Hand, die ihn hinaufzog. Als beide wieder auf dem Jetski saßen, fiel alle Anspannung von ihnen ab und sie kamen für einen Moment zu einer erlösenden Ruhe. Inzwischen stand die Sonne nur noch knapp über dem Horizont und legte einen orange-rot glitzernden Streifen über die Wasseroberfläche. Faßmann dachte an die traumhaften Sonnenuntergänge, die er mit seiner Frau in Camps Bay erlebt hat, einem kleinen malerischen Küstenort in der Nähe von Kapstadt. Einmal haben sie sich nach dem Essen mit einer Flasche Wein einfach in den Sand gesetzt und eng umschlungen zugesehen, wie die Sonne langsam im Atlantik versank. Plötzlich überkam ihn eine schreckliche Sehnsucht nach Anja, die sich wie ein bleierner Druckschmerz auf der Brust anfühlte.

„Diesmal wechseln wir uns mit der Nachtwache aber ab“, sagte von Berg bestimmt und riss Faßmann aus seinen Gedanken.

„Ja, natürlich.“

„Dann gehe ich jetzt mal in den Ruhezustand“, sagte von Berg und legte seinen Kopf in die verschränkten Arme, mit denen er die Lenkstange des Jetski bedeckte, ganz so wie die Nacht zuvor Faßmann. Diesmal blieb Faßmann die ganze Nacht wach und dachte sich, dass das das Mindeste ist, was er gerade für von Berg tun könne.

Als der nächste Tag anbrach, hatte sich das Wetter verschlechtert und der Himmel war wolkenverhangen. Faßmann quälte zunehmend ein brennender Durst und er dachte an von Bergs Urinprobe, die jedoch verloren ging, als der Jetski umkippte. Es fühlte sich an, als würde die Zeit immer langsamer vergehen, wie ein zähflüssiger Lavastrom, der im Begriff ist, zu erkalten. Beiden war unausgesprochen klar, dass sie bald elendig verdursten und als Aas von den Haien verspeist werden würden, wenn nicht bald ein Schiff auftaucht, dem sie sich auch bemerkbar machen können. Die Hoffnung auf Rettung schwand zunehmend dahin, je weiter auch dieser Tag sich seinem Ende zuneigte und sich die Dämmerung ankündigte. Doch da tauchte in der Ferne erneut ein Schiff auf, das diesmal zuerst von Berg entdeckte.

„Da hinten kommt ein Schiff!“

Faßmann riss den Kopf herum, richtete sich auf und rief: „Wo?“ Von Berg zeigte in die Richtung des Schiffes. „Tatsächlich“, rief Faßmann aus. In ihm brannte die Hoffnung wieder auf, dass sie vielleicht doch noch gerettet werden. „Lass uns hin paddeln“, sagte er zu von Berg und strahlte wie jemand, der gerade erfahren hat, dass sich sein Arzt bei der Diagnose einer tödlichen Krankheit geirrt hat.

„Es ist noch viel zu weit weg. Lass uns warten, bis es näher ist. So vergeuden wir nur unsere letzten Kräfte.“ Faßmann erkannte einmal mehr, wie erfahren von Berg in solchen Notsituationen war, und war zugleich erleichtert darüber, von Berg in diesen Stunden an seiner Seite zu wissen. Beide starrten gebannt auf das Schiff, das direkt auf sie zuzusteuern schien. Auch in von Berg wuchs die Zuversicht, dass es diesmal klappen könnte. Als es näher kam, erkannten sie, dass es diesmal kein riesiges Containerschiff war, was ihre Hoffnung weiter steigen ließ, da sie sich diesmal wahrscheinlich leichter bemerkbar machen konnten. Sie ließen das Schiff keine Sekunde aus den Augen, jeden Moment bereit, mit allem, was ihre Stimmen und Gliedmaßen noch hergaben, auf sich aufmerksam zu machen.

„Nein, nein – nein – nein“, rief Faßmann plötzlich. Wenige Sekunden später erkannte auch von Berg, was Faßmann so in Panik versetzte. „Los, lass uns paddeln“, sagte Faßmann auffordernd und kniete sich sogleich auf das Trittbrett und hieb den Arm ins Wasser. „Das hat keinen Sinn“, entgegnete von Berg. Doch Faßmann hörte gar nicht, was von Berg sagte und brüllte ihn stattdessen nur an: „Verdammt noch mal, fang endlich an zu paddeln.“ Nun erhob von Berg ebenfalls leicht die Stimme und wiederholte energisch: „Das hat keinen Sinn, Ulrich! Die sind zu schnell. Da können wir paddeln, wie wir wollen.“ Da hielt Faßmann inne, richtete sich wieder auf und erkannte, seinen Blick auf das Schiff gerichtet, dass von Berg recht hatte. Es fuhr tatsächlich in größer werdendem Abstand an ihnen vorbei und in viel zu hoher Geschwindigkeit, als dass auch nur der Hauch einer Chance bestünde, in seine Nähe zu kommen. Faßmann drehte sich zu von Berg und sah ihn ausdruckslos an. Da schossen ihm plötzlich die Tränen in die Augen und ihn übermannte ein jäher unkontrollierbarer Weinkrampf. Von Berg neigte sich zu ihm und schloss ihn in die Arme. Ihm waren solche Gefühlsausbrüche aus seiner Zeit bei der Fremdenlegion nicht unbekannt. Inzwischen brach die dritte Nacht herein und es sah so aus, als sei es die letzte, die sie lebend verbringen würden.