Von Berg ging die breite Treppe aus weißem Marmor über den darüber gespannten dunkelroten Läufer hinauf zur Wohnung von seinem alten Freund, Siegfried Erler. Sein Gesicht brannte von der eisigen Kälte, der er auf dem gemeinsamen Heimweg mit Faßmann und Anja ausgesetzt war. Der Mief von Verfall und Vergänglichkeit hing schwer in der Luft des alten Hotels. Die einstige Nobelherberge, an der sich der Zahn der Zeit schon seit Jahren festgebissen hat, wirkte wie ein Spiegelbild des gelebten Lebens seines alten Freundes – voller Geschichten und Geheimnisse. Und nicht wenige Geheimnisse würde Siegfried Erler bald für immer mit sich ins Grab nehmen, bis auf das eine, das er ihm vor zwei Tagen ungefragt anvertraut hatte, dachte sich von Berg und seine Gedanken kreisten nicht zuletzt auch um die Frage, was sich Siegfried möglicherweise damals selbst zu Schulden kommen ließ.
Er schloss die Tür zu der ehemaligen Luxus-Suite auf und rief: „Hallo Siegfried, ich bin zurück.“ Seine Erwartung einer Antwort wurde nicht erfüllt, was unüblich war. Nachdem er seinen Mantel abgelegt und die nassen Schuhe ausgezogen hatte, ging er sofort ins Wohnzimmer. Da sah er Siegfried Erler sitzen, tief in das samtbezogene Sofa gesunken. Das gedämpfte Licht des nächtlichen Bad Gastein drang nur schemenhaft durch die Fenster. „Warum sitzt du hier im Dunkeln herum?“, fragte er, doch sein alter Freund reagierte nicht. Besorgt fragte er nach: „Ist alles in Ordnung mit dir?“ Da hob Erler langsam den Kopf, sah von Berg mit leerem Blick an und winkte ihn zu sich, wobei ihm augenscheinlich bereits diese Geste Mühe zu bereiten schien. In seinem wie versteinert wirkenden Gesicht spiegelte sich der nahende Tod wider. Sein Atem war unregelmäßig, jedes Ein- und Ausatmen eine sichtliche Anstrengung. Seine Augen, einst hell und lebendig, waren nun ausdruckslos und einer im Erlöschen begriffenen Flamme gleich. Er streckte von Berg seine linke Hand entgegen, an deren Mittelfinger ein alter, schwerer Ring prangte. Der Ring ist ihm schon damals in der Fremdenlegion aufgefallen, doch er hatte Erler nie darauf angesprochen. Er hatte immer das Gefühl, dass diese Frage zu sehr in seine Privatsphäre eingreifen würde. Als Erler merkte, dass von Berg nicht verstand, was die ausgestreckte Hand zu bedeuten hatte, nahm er sie zurück.
Mit einer Anstrengung, die ihm den Rest seiner eisernen Willenskraft abverlangte, streifte er den Ring von seinem Finger und griff nach der Hand seines Freundes. Er drehte sie um, legte den Ring hinein und verschloss sie. Es war wie ein feierlicher Akt der Übergabe einer heiligen Reliquie. „Darin“, flüsterte er mit letzter Kraft, „ist der Schlüssel zum Roten Koffer.“ Von Berg betrachtete den Ring unter dem Schein der kleinen Tischlampe neben dem Sofa. Der Ring enthielt im Inneren eine Gravur. Es war eine Folge von Ziffern in unterschiedlichen Abständen, die von sich aus keinen Zusammenhang und keine Logik erkennen ließen. Es schien eine Art Geheimcode zu sein. Dann ergriff Erler erneut seine Hand und zog ihn zu sich hin. „Ich... ich muss dir noch sagen...“ presste sein Freund nun förmlich jedes Wort aus sich heraus, doch seine Stimme wurde trotz aller Anstrengung noch schwächer, sein Atem noch flacher. Er kämpfte gegen die Dunkelheit an, die sich langsam über sein Bewusstsein legte. Die entscheidenden Hinweise zur Entschlüsselung des geheimen Codes lagen ihm förmlich auf der Zunge, doch bevor er sie aussprechen konnte, versagten seine Kräfte endgültig. Die Augen des alten Mannes schlossen sich sanft, sein letzter Atemzug strömte aus seinem Mund und dann lag er still da, vom Leben zur ewigen Ruhe übergegangen.
Von Berg legte den Leichnam behutsam auf das Sofa und den Kopf auf die breite Lehne. So sah es aus, als wäre er nur eingeschlafen. Er empfand tiefe Traurigkeit und fühlte sich irgendwie auch daran erinnert, dass er längst weit mehr als die Hälfte seines Lebens hinter sich hatte, in dem er sich oft viel mehr abverlangte, als es ihm gut tun konnte.
Mit dem Ring hielt er nun einen Schlüssel in seinen Händen, ohne zu wissen, wo sich das Schloss dazu befand. Diesen Teil des Geheimnisses, hat der Tod von Siegfried Erler mit sich in sein Schattenreich gerissen. Nach einer Weile war er wieder in der Lage, die ersten rationalen Gedanken zu fassen und er fragte sich, was er nun mit der Leiche seines Freundes machen sollte. Es war inzwischen weit nach Mitternacht und er dachte sich, dass es auf jeden Fall bis zum nächsten Tag Zeit hätte, den Tod seines Freundes irgendwem zu melden. Die Vorstellung, sich schlafen zu legen, während sein toter Freund im Nebenzimmer liegt, behagte ihm zwar nicht, aber er sah es als das Vernünftigste an und ging schließlich zu Bett.
Am nächsten Morgen wachte von Berg mit einem eisigen Schauder auf, der ihm durch Mark und Bein fuhr, da sein erster Gedanke sofort wieder bei seinem alten Freund war, der immer noch tot im Wohnzimmer lag. Ein Gefühl der Ohnmacht ergriff ihn, aber er musste handeln, konnte die Leiche ja nicht einfach weiter auf dem Sofa liegen lassen. Er setzte sich auf und der kalte lackierte Parkettboden unter seinen Füßen passte zu seinem Gemütszustand. Er sah auf die digitale Uhr auf seinem Nachttisch. Es war bereits weit nach 9 Uhr. Er hatte nicht mehr viel Zeit, um eine Entscheidung zu treffen. Sein Blick verweilte einen Moment auf der geschlossenen Tür zum Wohnzimmer. Dann trat er ein und ging zu der kleinen Küchenzeile, um sich einen Kaffee zu machen. Er brauchte unbedingt und schnell einen klaren Kopf. Der Schrecken drohte ihn zu überwältigen, als er seinen toten Freund auf dem Sofa liegen sah. Doch er musste jetzt besonnen und rational handeln, befahl er sich. Um 11 Uhr kamen Faßmann und Anja. Er musste bis dahin entschieden haben, was er tun würde. Die Gedanken wirbelten in seinem Kopf herum, während er den bitteren schwarzen Kaffee in großen Schlucken trank. Würde er die Polizei rufen, wären die Folgen nicht absehbar und noch schlimmer: sie wären nicht mehr in seiner Hand. Diese Option schied also schon mal aus, dachte er sich, ohne eine wirklich gute Idee für eine Alternative zu haben. Er ging verschiedene Handlungsoptionen immer und immer wieder durch, doch jede erwies sich letztlich als untauglich. Keine davon würde ihm vermutlich die Zeit lassen, die er mindestens bräuchte, um den Code in dem alten Ring zu entschlüsseln und den roten Koffer zu finden, bevor die ODESSA Wind davon bekommt, dass der alte Torwächter ihres Sakrilegs tot ist. Zudem hatte er das ungute Gefühl, dass es auch in der ODESSA einige Leute geben musste, die die Nachfolge Siegfried Erlers anzutreten strebten, gerade was den roten Koffer anging. Schließlich war er ja noch nicht mal ein Mitglied der Organisation. Er hatte also nichts in der Hand, womit er die ODESSA dazu bewegen könnte, ihn am Leben zu lassen. So sehr er auch nachdachte, er fand keinen gangbaren Weg.
Inzwischen war es 11 Uhr geworden und er musste damit rechnen, dass Faßmann und Anja bereits vor dem Hotel auf ihn warteten. Er entschloss sich, zunächst nach unten zu gehen und die beiden in Empfang zu nehmen. Und tatsächlich standen sie bereits in dem großen Eingangsportal. Er öffnete die Tür und noch bevor er etwas sagen konnte, begrüßte ihn Faßmann mit einem freudigen „Guten Morgen“. „Guten Morgen“, entgegnete er mit sorgenvoller Stimme. „Was ist denn los, Wilhelm?“, fragte Faßmann stirnrunzelnd. Von Berg überlegte kurz und sagte dann: „Kommt am besten mit nach oben.“ Beiden war nicht wohl bei der Vorstellung, seinem todkranken Freund zu begegnen, folgten ihm aber dennoch ohne zu zögern.
Als sie ins Wohnzimmer kamen, sahen sie Siegfried Erler auf dem Sofa liegen und beiden war sofort klar, dass er tot war. Beiden pochte das Herz, als sie die Leiche betrachteten, deren Gesicht kreidebleich war und der der Mund halb offen stand. „Er ist gestern Nacht gestorben“, sagte von Berg und ließ ebenfalls seinen Blick auf dem Leichnam ruhen. „Ich habe nur keine Ahnung, was wir jetzt tun sollen“, fügte er hinzu.
Faßmann und Anja sahen sich eindringlich an und erkannten gegenseitig, dass sie an der Frage hingen, ob es sich wirklich um einen natürlichen Tod handelte. Nach einem kurzen Moment kniff Faßmann die Augen zusammen und bedeutete Anja mit einer gleichzeitig subtilen Kopfbewegung, dass sie davon ausgehen sollten, dass der alte Mann schlicht seiner schweren Krebserkrankung erlegen ist. Dann wandte sich Anja von Berg zu und fragte: „Hat er Angehörige, die regelmäßig mit ihm Kontakt haben?“
„Er hat einen Sohn und eine Tochter. Mit seinem Sohn hat er wohl überhaupt keinen Kontakt mehr bzw. hat der ihn vor Jahren abgebrochen, mit seiner Tochter ist er, soweit ich weiß, nie besonders eng gewesen und seine Frau ist vor Jahren schon gestorben. Kurzum, soweit ich es beurteilen kann, nein.“
„Gibt es einen Arzt oder Pflegedienst, der regelmäßig nach ihm sieht?“
„Solange ich bei ihm wohne, hat sich kein Mensch blicken lassen. Auch angerufen hat hier in der ganzen Zeit niemand.“
„Also wird ihn heute und morgen niemand vermissen?“
„Davon ist auszugehen. Worauf willst du hinaus?“
Anja zögerte und überlegte angestrengt. Die Blicke beider Männer waren gespannt auf sie gerichtet.
„Ich denke im Moment nur über unseren Spielraum nach. Wenn ihn so schnell niemand vermisst, verfügen wir zumindest schon mal über das Wichtigste und zwar etwas Zeit.“
„Und was soll nun mit der Leiche geschehen? Wir können ihn doch nicht einfach so hier liegen lassen?“, insistierte von Berg, der sich in seiner Ratlosigkeit besonders unwohl fühlte.
„Warum nicht?“, entgegnete Anja, die von Berg damit beinahe aus der Fassung gebracht hätte. Doch noch bevor er etwas sagen konnte, fuhr sie fort: „Draußen ist es so kalt wie in einer Tiefkühltruhe. Wenn wir in diesem Raum die Heizung abdrehen und die Fenster ankippen, kann der Leichnam sicher noch über Tage hier liegen, ohne dass jemand etwas bemerkt.“
Von Berg ging die Logik, die darin lag, ein. Er erkannte zudem, dass er wohl derjenige im Raum war, dem am meisten die Emotionen der Ratio im Wege standen. „Du wirst das wissen“, entgegnete er schließlich in Anspielung auf Anjas Qualifikation als Biologin.
„Dann sollten wir die Zeit aber auch nutzen und anfangen zu suchen“, sagte Faßmann auffordernd, während er bereits die ersten Türen des schweren Wandschranks öffnete, der sich über eine gesamte Wandlänge erstreckte. Schnell stieß er auf einen Stapel unsortierter Papiere. Er nahm sie heraus, sah sie Blatt für Blatt durch und sagte: „Irgendwo könnte ja dein alter Freund notiert haben, wo sich dieser rote Koffer befindet und wie man an ihn herankommt. Vielleicht finden wir auch einen Schlüssel oder sonst irgendeinen Hinweis, der uns zu dem Koffer führt.“ Anja zog die oberste Schublade einer alten Kommode auf und durchsuchte ihren Inhalt. Von Berg ließ sich stattdessen auf dem Sessel neben dem Sofa nieder, auf dem die Leiche lag, was beide einigermaßen irritierte. Anja fragte: „Geht‘s Dir nicht gut, Wilhelm?“
„Doch doch, mir geht‘s gut.“
„Dann wäre es nett, wenn du uns beim Suchen helfen würdest.“
„Bevor ihr die ganze Bude auf den Kopf stellt, hört mir einen Moment zu.“
Faßmann und Anja wandten sich ihm zu, äußerst gespannt darauf, was er ihnen zu sagen hatte, das offensichtlich mit ihrem Versuch zu tun hat, Hinweise auf den roten Koffer zu finden.
„Wenn wir gestern nur ein paar Minuten länger in dem Gasthaus geblieben wären, hätte ich meinen alten Freund tot vorgefunden und er wäre alleine gestorben. Ich kam gerade noch rechtzeitig. Mit seinen letzten Worten übergab er mir diesen Ring. Leider konnte er mir nur noch sagen, dass er der Schlüssel zum Roten Koffer sei. So sehr er auch seine letzten Kräfte mobilisierte, es war ihm nicht mehr möglich, mir noch zu sagen, wie ich den in den Ring eingravierten Code entschlüsseln kann. Der Tod kam ihm zuvor.“
Von Berg reichte Faßmann den Ring. Er erkannte die eingravierte Ziffernfolge, die ihn, ebenso wie von Berg, völlig ratlos blieben ließ. Dann gab er den Ring an Anja weiter, der es beim Betrachten der Ziffern in unterschiedlichen Abständen nicht anders ging. „Jetzt können wir nur hoffen, dass wir hier irgendwo einen Hinweis darauf finden, was diese Ziffernfolge bedeutet“, sagte sie. „Dann machen wir uns mal an die Arbeit“, sagte von Berg und stand auf, um den beiden bei der Suche zu helfen.
In den nächsten Stunden durchsuchten sie die gesamte Hotelsuite. Ihre ganze Aufmerksamkeit fokussierte sich fortan auf den einen Zweck, Hinweise zur Entschlüsselung des Codes in dem Ring zu finden. Papier nach Papier wurde von Faßmann sorgfältig durchgelesen, jede Zeile wurde analysiert, selbst wenn es nur ein alter Einkaufszettel war. Anja widmete sich dem Bücherregal. Jedes Buch schlug sie auf, jede Seite durchsuchte sie auf Randnotizen oder Einkerbungen, wie man sie mit dem Fingernagel schon mal vornimmt, um eine Stelle zu markieren. Von Berg untersuchte jede Ecke der Suite, kroch unter die Betten, klopfte die Wände ab, drehte alle Teppiche um, kroch in den Kamin und suchte nach Geheimfächern in allen Möbelstücken. Sogar jede einzelne Steckdose schraubte er ab. So ging es den ganzen Tag. Mit der Abenddämmerung mussten sie sich eingestehen, dass ihre Suche umsonst war. Es war buchstäblich nicht das Mindeste mehr übrig, was sie noch unter die Lupe nehmen könnten. Es war inzwischen unmöglich, noch etwas zu finden, was ihnen auch nur annähernd beim Entschlüsseln des völlig kryptischen Codes weiterhelfen könnte.
„Und was jetzt?“, fragte Faßmann etwas nervös. „Jetzt bringen wir hier alles in Ordnung und gehen erstmal was essen. Mir knurrt nämlich der Magen“, erwiderte von Berg.
Damit entsprach er grundsätzlich Faßmann und Anja, für die es ebenso höchste Zeit für eine Mahlzeit war. „Ich gehe kurz was aus dem Foyer holen“, sagte von Berg und verschwand. Faßmann und Anja fragten sich, was das sein könnte. Als er nach kurzer Zeit zurückkam, hatte er eine alte Zeitschaltuhr in der Hand.
„Als das Hotel noch in Betrieb war, haben sie damit vermutlich die Beleuchtung des Weihnachtsbaums gesteuert. Jetzt steuern wir jedenfalls damit diese Stehlampe.“
Von Berg steckte die Zeitschaltuhr in die Steckdose und den Stecker der Lampe in die Uhr. Als er auf dem Stellrad die Zeitspanne von 17:30 Uhr bis 23:30 Uhr eingestellt hatte, sagte er: „Jetzt geht hier regelmäßig das Licht an und hoffentlich so schnell niemandem eins auf.“
Dann beseitigten sie unter der Anleitung von Bergs so gut es ging alle Spuren ihrer Anwesenheit.
Als von Berg schließlich seine Sachen gepackt hatte, sagte er: „Ich ziehe für diese Nacht mit zu euch ins Hotel, wenn euch das nichts ausmacht.“ „Nein, ganz und gar nicht“, erwiderte Faßmann, „auch wir müssen da erst wieder einchecken. Wir hatten unsere Zimmer nur für die letzte Nacht gebucht.“
Als sie mit dem Wagen des Maklers an dem Hotel angekommen waren, wurden sie wieder empfangen von der resoluten schlanken Dame, die auch an diesem Tag in ihre auffällige graue Strickstola gewickelt war. „Wir sind’s wieder“, sagte Faßmann etwas scherzhaft. „Wir bräuchten für diese Nacht doch nochmal drei Zimmer.“ „Wir zahlen auch diesmal bar“, fügte er hinzu, um der Frage danach diesmal zuvorzukommen. Die Dame blickte kurz auf ihren Computerbildschirm und klickte mit der Maus etwas an. „Tut mir sehr leid, aber wir haben nur noch zwei Zimmer frei“, sagte sie, während ihr Blick weiter auf den Bildschirm gerichtet war.
Die drei sahen sich an und Anja ergriff das Wort: „Dann nehmen wir die zwei Zimmer.“ Faßmann‘s Herz machte einen Sprung. Mit Anja diese Nacht in einem Zimmer? Die Vorstellung weckte sofort eine Mischung aus großer Aufregung und riesiger Freude in ihm. Sichtlich überrascht und mit einem kaum zu verbergenden Lächeln sagte er: „Natürlich, das wird schon gehen.“ Die Dame legte zwei Zimmerschlüssel auf den Tresen, nachdem sie Faßmanns Bargeld nachgezählt und in ihrer Kassenschublade verstaut hatte. Faßmann war völlig aufgewühlt. Anja nahm den Schlüssel und machte sich auf in Richtung ihres Zimmers, als wäre es das Selbstverständlichste. „Wir sehen uns dann gleich wieder hier in der Lobby“, sagte sie und von Berg, der auch einigermaßen erstaunt war, antwortete: „In Ordnung, bis gleich“. Fassmann fragte sich, was nur in ihrem Kopf vorging? Warum hatte sie sich so schnell entschieden, das Zimmer mit ihm zu teilen? War das einfach nur situativer Pragmatismus oder ging es ihr dabei auch um ihn? So oder so, er konnte sein Glück, das die kommende Nacht für ihn bereithielt, kaum fassen, denn sie konnten sich, anders als in der Wohnung in Chemnitz, hier kaum aus dem Weg gehen. Es würde eine Nähe zu Anja bedeuten, von der er kaum noch zu träumen gewagt hatte.
Als sie diesmal im „Jägerhaus“ einkehrten, ein ebenfalls altes und traditionelles Gasthaus in Bad Gastein, suchten sie sich wieder einen ruhigen Tisch etwas abseits. Ihre Gespräche kreisten einzig und allein um die Frage, was sie als nächstes nur tun könnten, um den Code in dem alten Ring zu entschlüsseln. Doch satt von dem deftigen Abendessen und erschöpft von den Anstrengung der stundenlangen Suche in Erlers Wohnung, fiel es ihnen immer schwerer, sich zu konzentrieren. Die Stimmung war gedrückt, da nach wie vor keiner von ihnen auch nur eine vage Idee hatte, wie sie dem alten Ring sein Geheimnis entlocken könnten. Von Berg spielte abwesend mit dem Ring, indem er ihn immer wieder durch seine faltigen Finger gleiten ließ. In seinen Augen spiegelte sich das sanfte Flackern der halb abgebrannten Kerze auf dem Tisch. Er war mit seinen Gedanken weit weg, in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort. Plötzlich verharrte er. Er atmete scharf ein und starrte auf den Ring, die Stirn hochgezogen, die Augen weit aufgerissen. Dann schnellte sein Kopf hoch, ein Lächeln erhellte sein wettergegerbtes Gesicht und seine Augen funkelten nun im Kerzenschein. „Ich glaube, ich hab‘s“, sagte er, seine Stimme voller Aufregung. Faßmann und Anja sahen ihn überrascht an. Sie hatten sich bereits damit abgefunden, dass sie zumindest an diesem Abend keine Lösung mehr finden würden.
„Die Lebensversicherung, die sich Otto Skozerny mit dem roten Koffer schaffen wollte, konnte ja nur funktionieren, wenn dieser nicht mit seinem Tod unauffindbar wird. Andererseits musste er für eine höchstmögliche Verschlüsselung der Informationen sorgen, die zu dem Lagerort des Koffers führen. Was liegt da näher, als die alte Chiffriertechnik der Nazis einzusetzen?“
Faßmann und Anja hingen an von Bergs Lippen. Was er da sagte, ergab absolut Sinn, doch sie hatten noch keine Ahnung, worauf genau er hinaus wollte.
„Wir brauchen eine Enigma.“
„Du meinst diese Chiffriermaschine aus dem Zweiten Weltkrieg“, fragte Faßmann.
„Ganz recht!“
„Darüber hab’ ich vor Jahren mal einen Film gesehen. Es geht um das Ding mit einem Tastenfeld, wie auf einer alten Schreibmaschine mit einem Wirrwarr aus Kabeln, Lämpchen und Zahnrädern, das ein bisschen so aussieht, wie das Steuergerät für ein Raumschiff in einem Science-Fiction Film der fünfziger Jahre“
„Ja, so könnte man das Ding ungefähr beschreiben, Ulrich, und genau so ein Ding brauchen wir jetzt.“
Anja nahm das Handy aus ihrer Tasche und tippte etwas ein. Nach einer Weile sagte sie: „Wir haben zwei zur Auswahl. Die eine ist in München und die andere in Wien.“
„Und jeweils wo genau?“, fragte von Berg.
„Im Deutschen Museum in München oder im Technischen Museum in Wien.“
„Na bravo“, warf Faßmann ein, „ich glaube ja nicht, dass das Ding im interaktiven Erlebnisbereich steht. Wie willst du da rankommen? Ich denke, das fällt realistisch betrachtet unter die Kategorie ‘Mission Impossible’.“
Anja und von Berg sahen Faßmann ebenso ratlos an. Sie wussten nichts darauf zu erwidern. Ein bleiernes Schweigen breitete sich aus. Ihre Gesichter, die eben noch von Hoffnung und Begeisterung erfüllt waren, erstarrten nun in grübelnde Masken. „Vielleicht könnten wir ...“, begann Faßmann und brach dann, seinen Kopf schüttelnd, im Satz ab. „Was könnten wir vielleicht?“, fragte Anja nach. „Mein Mundwerk war mal wieder schneller als mein Kopf. Vergiss es.“ Nach einer Weile fuhr er fort: „Ich fass’ es nicht, unser Leben hängt möglicherweise von einem Museumsstück aus dem Zweiten Weltkrieg ab.“ Er seufzte und ließ sich in seinen Stuhl sinken. Sie saßen festgefahren in einer Sackgasse. Und trotz ihrer Ratlosigkeit wussten sie, dass Aufgeben keine Option sein konnte. So hofften sie alle auf einen Funken Inspiration, der sie aus dieser verfahrenen Lage führen würde.
Dann machten sie sich auf den Rückweg ins Hotel. Sie liefen durch das spätabendliche Bad Gastein, fast ohne ein Wort miteinander zu sprechen. Ihre Gedanken rankten sich alle um die eine Frage: wie den geheimnisvollen Code entschlüsseln, wenn es keine Möglichkeit gab, an eine Enigma heranzukommen? Anja allerdings trieb noch eine andere Frage um, die nach einer Antwort verlangte, je näher sie dem Hotel kamen. Auch an diesem Abend war die Luft stechend kalt und es ging ein eisiger Wind. So waren alle froh, als sie das Hotel erreicht hatten. Es war ein erlösendes Wohlgefühl, in die beheizte Hotellobby zu treten.
„Wollen wir noch einen Absacker nehmen?“, fragte Anja. Vor allem Faßmann war überrascht. Früher war er es allermeist, der einen derartigen Vorschlag nach einem geselligen Abend geäußert hatte und auf dem Heimweg von Anja einen Rüffel bekam, die längst nach Hause gewollt hätte. „Wir haben ja noch gar nicht darüber gesprochen, wie es nun morgen weitergehen soll“, fügte sie an und ihre Worte klangen fast etwas flehend. Faßmann und von Berg sahen sich kurz fragend an und von Berg sagte: „Och, ja klar, warum nicht.“ Sie setzten sich an den kleinen Bartresen, der sich nahezu direkt an die Rezeption anschloss. Es sah nicht danach aus, dass man erwarten durfte, hier bald bedient zu werden. Da entdeckte von Berg einen kleinen Stapel Zettel. Jeder war bedruckt mit einer Tabelle, in der Getränke und deren Preise aufgelistet waren, überschrieben mit einem Feld für den Eintrag des Namens und der Zimmernummer. „Schaut mal, hier wird auf die Ehrlichkeit der sich selbst bedienenden Gäste vertraut“, sagte von Berg und hielt einen der Zettel hoch. „Wie oldschool“, bemerkte Faßmann, während von Berg den Kühlschrank öffnete und sich einen Überblick über dessen Inhalt verschaffte. Neben einigen Sorten Bier war die Wein- und Sekt-Auswahl sehr eingeschränkt und wenig ansprechend, sodass sich alle für ein Stiegl Pils aus Salzburg entschieden. Von Berg stellte drei Flaschen davon auf den Tresen, öffnete sie, nahm eine an sich und prostete Anja und Faßmann zu. „Auf unseren Endsieg“, sagte er und lachte dabei. Faßmann und Anja wussten nicht, ob sie diese Verwendung des Nazijargons noch lustig finden sollten, nahmen es aber letztlich gelassen und stießen mit von Berg an.
Faßmann und von Berg unterhielten sich sodann intensiv darüber, wie man dem Code beikommen oder vielleicht doch an eine Enigma herankommen könnte. Anja versank derweil immer mehr in der Frage, die sie schon auf dem Weg zum Hotel plagte. Sie wusste, bald an einer Weggabelung angekommen zu sein, an der sie sich entscheiden musste, welchen Weg sie einschlagen wird. Der Füllstand der Bierflaschen glich einer Sanduhr. Sollte sie Ulrich bitten, mit von Berg in einem Zimmer zu schlafen, oder sollte sie Ulrichs unübersehbare Hoffnung wahr werden lassen, eine Nacht mit ihr in einem Bett zu verbringen. „Dabei müsste es ja noch nicht zum Äußersten kommen“, dachte sie sich, gewann aber gleichzeitig die Erkenntnis, dass es wohl nicht gelingen wird, das Pulverfass, das sie damit öffnen würde, von seinem Zündfunken fernzuhalten.
„Anja, Aaaanja“, sagte von Berg fast mit erhobener Stimme und fragte: „Was meinst du dazu?“ „Oh, entschuldigt bitte vielmals, ich hab’ gerade nicht zugehört. Ich bin todmüde“, erwiderte sie und bemühte sich um einen besonders erschöpften Gesichtsausdruck. Von Berg trank demonstrativ sein Bier aus und sagte: „Dann lasst uns jetzt ins Bett gehen und morgen zeitig nach München fahren.“ Anja war so in ihre Gedanken versunken, dass sie erst jetzt mitbekam, dass Faßmann und von Berg beschlossen hatten, am nächsten Tag nach München zu fahren, um offensichtlich ins Deutsche Museum zu gehen. Schon weil es beiden noch mehr offenbaren würde, dass sie während des gesamten Gesprächs geistesabwesend war, stellte sie in dem Moment keinerlei Fragen.
Als sie die Treppe zu den Zimmern hinauf und den Gang entlang gingen, wünschte sie sich, die Zeit anhalten zu können, um noch ein letztes Mal darüber nachzudenken, was sie nun tun soll. Faßmann sagte auch kein Wort und folgte Anja mit etwas Abstand. Er bebte vor Aufregung und war froh, das Gespräch mit von Berg endlich beendet haben zu können, dem er mit den begehrenden Gedanken an Anja nur mit äußerster Anstrengung noch folgen konnte. Wie ein Schlag in die Magengrube traf ihn plötzlich ein Gedanke. Was, wenn Anja gar nicht vorhatte, mit ihm ein Zimmer für diese Nacht zu teilen, sondern ihn in ein paar Sekunden auffordert, mit seiner Tasche in das Zimmer von von Berg zu ziehen und dort die Nacht zu verbringen? Noch nie zuvor hatte er ein so intensives Gefühl von Hoffen und Bangen in sich gespürt. Mit jedem Schritt, mit dem sie dem Zimmer näher kamen, stieg die ihn zerreißende Anspannung. Dann blieb Anja vor dem Zimmer stehen, schloss auf und trat ein. „Jetzt ist der Moment der Wahrheit“, dachte er sich. Er überschritt ebenfalls die Schwelle und schloss langsam die Tür hinter sich. Anja stellte ihre Handtasche auf der kleinen Anrichte am Fußende des Bettes ab und legte ihren Mantel über die Lehne des Stuhls davor. Dann drehte sie sich zu Faßmann um und sah ihm in seine Augen voll unsicherer Erwartung. Beide gingen einen Schritt aufeinander zu und ehe das passieren konnte, an das beide dachten, wich Anja aus und sagte: „Ich brauche dringend eine heiße Dusche“. „Ich auch“, erwiderte Faßmann sofort. Da kochten Anjas Gefühle über und sie sprang ihn förmlich an. Sie küsste ihn mit so großer Hingabe, dass sie in dem Moment alles um sich vergaß. In diesem Moment gab es nur noch ihn und sie und nichts sonst. Nach diesem Kuss sahen sich beide an und zitterten beinahe vor Erregung. Dann erwiderte er ihren Kuss und sein Glücksgefühl ließ auch nichts anderes mehr zu, als Hingabe zu ihr. Ihre Umarmung war so fest, dass es ihnen beinahe den Atmen nahm. Als sie sich zaghaft voneinander lösten, aber sich mit den Augen weiter verschlangen, murmelte sie: „Du zuerst.“
Als Faßmann die Dusche betrat, schloss er die Augen und ließ das heiße Wasser über seinen Körper fließen. Die Wärme drang in seine Muskeln und löste die Anspannung, die sich über die letzten Stunden aufgebaut hatte. Nur mit einem Handtuch um die Taille, kam er zurück ins Zimmer. Anja stand in Gedanken verloren am Fenster. Sie drehte sich zu ihm um und lächelte. Dann verschwand sie im Badezimmer. Er legte sich auf das Bett und war unfähig auch nur annähernd einen klaren Gedanken zu fassen. Das allerdings war ihm bewusst und er genoss es. Er ließ sich fallen ins Hier und Jetzt und ergab sich ganz dieser Nacht mit Anja.
Nur in den weißen Hotel-Bademantel gehüllt, kam Anja aus dem Bad. Ihre nassen Haare lagen glänzend auf ihrem Nacken und der lose gebundene Bademantel gab einen tiefen Einblick auf ihr wunderschönes Dekolleté. Sie setzte sich auf die andere Seite des Bettes und schaute ihn wortlos an. Er merkte, dass sie immer noch etwas unsicher war, aber gleichzeitig konnte er ein glühendes Funkeln in ihren Augen erkennen. Sie lehnte sich zu ihm hinüber und küsste ihn erneut, diesmal sehr langsam und zärtlich. Es war ein Kuss voller alter und neuer Vertrautheit und Liebe. In diesem Moment wussten sie, dass sie zusammengehörten.
Als sie sich beide unter der großen Bettdecke wiederfanden, knisterte es förmlich vor Spannung. Anjas Finger streiften sanft über Ulrichs Haut und folgten den Linien seines muskulösen Körpers, der ihr so vertraut und doch etwas fremd geworden war. Sie sah ihm in die Augen und er erwiderte ihren Blick mit demselben Verlangen. Ulrichs Hände wanderten langsam ihren Rücken hinunter und lösten in ihr einen lustvollen Schauer aus. Sie schmiegte ihren Körper an seinen. Es war eine ihr bekannte Intimität, die sich in diesem Moment aber doch anders und ein wenig fremd anfühlte. Anjas Herzschlag beschleunigte sich, als sie Ulrichs Atem an ihrem Ohr spürte. Seine Stimme war in ein sanftes Flüstern gehüllt, als er sagte: „Ich liebe dich, Anja.“ Dieser Satz, den sie schon so oft gehört hatte, hatte jetzt eine neue Bedeutung, eine neue Kraft und eine neue Tiefe. Sie erwiderte seine Worte aus dem Innersten ihres Herzens, legte ihre Lippen auf seine und ließ sich eins werden mit ihm. Mit jeder Berührung, jedem Kuss begegneten sie der verzehrenden Sehnsucht, die sie füreinander doch immer empfunden hatten. Es war eine Vereinigung zweier Seelen, die nach langer Suche endlich wieder zueinander gefunden hatten. Als sie den Zenit ihres Gleichklangs erreichten, war es, als ob die letzten Grenzen zwischen ihnen verschwammen und sich schließlich auflösten, ihre Seelen endgültig miteinander
verschmolzen.
Sie blieben eng umschlungen liegen, die Stille nur von ihrem synchronen Atmen durchbrochen. Sie hatten sich wiedergefunden, so viel mehr als nur körperlich. Sie schliefen ein, eng aneinander geschmiegt, geborgen in der vertrauten Wärme des anderen, während draußen der neue Tag bereits unbemerkt anbrach.