Kapitel XX
Enigma

Ulrich und Anja kamen Hand in Hand in den kleinen Frühstücksraum des Hotels und gingen auf den Tisch zu, an dem von Berg bereits saß. Er schmunzelte, als er die beiden so sah. „Bemerkenswert, wie man sich über eine einzige Nacht wieder so näherkommen kann“, bemerkte er süffisant. Ohne mit einer Silbe auf seine Bemerkung einzugehen, begrüßten sie ihn mit einem breiten Lächeln und einem freundlichen „Guten Morgen“. Sie versorgten sich an dem kleinen Frühstücksbuffet und setzten sich zu ihm.

„Ich denke, wir brauchen mindestens drei Stunden bis München. Lasst uns möglichst bald aufbrechen“, schlug von Berg vor. Beide waren einverstanden. „Sagt mir doch bitte nochmal, was genau ihr in München vorhabt. Ich war gestern einfach zu müde, um noch alles mitzubekommen“, log Anja ein wenig, was Faßmann nicht entging. „Wir schauen uns im Deutschen Museum an, wie die Enigma ausgestellt ist und versuchen herauszufinden, ob man an sie herankommt, ohne einen Alarm auszulösen“, erwiderte Faßmann.

„Und was dann?“

„Dann warten wir versteckt, bis das Museum geschlossen hat, nehmen uns die Enigma und übersetzen den Code.“

„Und wenn ihr feststellt, dass ihr einen Alarm auslösen würdet?“

„Dann brauchen wir Plan B.“

„Und der wäre?“

„Den überlegen wir uns, wenn wir ihn brauchen.“

„Also methodisch habt ihr echt noch Potenzial nach oben.“

Schließlich wandte von Berg ein: „Warum sollen wir uns jetzt schon Gedanken über Probleme machen, die wir möglicherweise gar nicht bekommen? Außerdem kennen wir die Gegebenheiten vor Ort ja überhaupt noch nicht.“

„Na, wie ihr meint.“

Auf der Fahrt gerieten sie immer wieder in Staus und der dichte Verkehr machte es unmöglich, auch nur halbwegs zügig voranzukommen. Für einen Freitag auf dieser Strecke allerdings nichts außergewöhnliches. Anja saß diesmal auf dem Rücksitz und von Berg fuhr, der ebenfalls in der Lage war, einen zu seiner neuen Identität passenden Führerschein vorzulegen. Sie war in das Handy vertieft, surfte im Internet und versuchte, sich auf verschiedenen Webseiten über die Funktionsweise der Enigma zu informieren. Nach einer Weile sagte sie: „Habt ihr gewusst, dass die Maschine Strom braucht?“ Faßmann kam sofort wieder der Film in den Sinn, den er vor vielen Jahren gesehen hatte, aus dem er wusste, dass die entschlüsselten Buchstaben aufleuchten. „Ja, das wusste ich“, antwortete er daraufhin betont sicher.

„Und woher wollen wir den Strom nehmen?“

„Wir nutzen einfach die nächstgelegene Steckdose.“

„Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass ihr euch das ein bisschen sehr einfach vorstellt?“

„Du bist doch sonst nicht so pessimistisch, Schatz.“

„Ich bin nicht pessimistisch, aber realistisch“, erwiderte sie leicht gereizt. Dann widmete sie sich wieder dem Handy. Sie quälten sich weiter über die überfüllte Autobahn und niemand sagte mehr ein Wort. Faßmann und von Berg dämmerte, dass es wohl doch nicht ganz so einfach werden würde, wie sie es sich am letzten Abend an der Hotelbar ausgemalt hatten. Da meldete sich Anja nach einer ganzen Weile erneut zu Wort: „Es wird auch nicht damit getan sein, die Ziffernfolge aus dem Ring in diese Enigma einzutippen. Wir müssen irgendwelche Walzen in der richtigen Reihenfolge in die richtige Position bringen, einen Ring drumherum auch und dazu müssen wir auf einem Steckbrett die richtigen Verbindungen herstellen.“ „Anja“, erwiderte nun von Berg mit ernster Stimme, „Wäre es damit getan, einfach die Ziffern in die Maschine zu tippen, wäre es nicht die erfolgreichste Chiffriermaschine ihrer Zeit gewesen.“ Was von Berg da eben sagte, trug nicht gerade zur Stärkung von Anjas Zuversicht bei, aber sie war ein wenig beruhigt, da von Berg offenbar um die Komplexität der Maschine grundsätzlich wusste.

Sie machten noch einen kleinen Umweg über einen Baumarkt, um sich vorsichtshalber mit etwas Werkzeug, Taschenlampen, einem Stromkabel und einem Schukostecker auszustatten. Sie wollten vor allem vorbereitet sein, sollte das Stromkabel an der Enigma fehlen. Nachdem sie am Imbissstand auf dem Parkplatz des Marktes noch schnell eine Kleinigkeit gegessen hatten, fuhren sie weiter und kamen schließlich gegen 15 Uhr am Deutschen Museum an. Es blieb ihnen immer noch genug Zeit, die Enigma in Ruhe in Augenschein zu nehmen und vor allem herauszufinden, welche Sicherungsmaßnahmen sie zu überwinden hatten, da das Museum erst um 17 Uhr schloss. Sie stellten den Wagen in einer der Straßen entlang der Museumsinsel ab, die vom Flusslauf der Isar sanft umspült wurde. Sie näherten sich dem riesigen Gebäudekomplex über eine der vier Brücken und in wenigen Minuten erreichten sie den Haupteingang. Sie lösten drei Tickets und folgten geradewegs der Ausschilderung zum Bereich „Informatik“. Dort waren zahlreiche historische Rechengeräte und die Urahnen unserer heutigen Computer, wie die legendäre „Z3“ von Konrad Zuse ausgestellt, der erste funktionsfähige Digitalrechner weltweit, der im Mai 1941 der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Als sie an diesen teils monströsen Apparaturen vorbeigingen, kamen sie zu einem schmalen Eingang in einen kleineren, eher schwach beleuchteten Raum, in dem gezielt arrangierte Spots die einzelnen Exponate ausleuchteten. Eine Informationstafel neben dem Eingang trug in großen Lettern die Überschrift „Kryptologische Geräte“. In diesem Raum fanden sie schließlich auch, wonach sie suchten.

Die Enigma befand sich in einer hüfthohen quadratischen Vitrine, in der sie das einzige Ausstellungsobjekt war. Der Korpus, der im oberen Teil aus dickem Glas bestand, befand sich in der Mitte des Raums und war damit prominent platziert. Man wollte offensichtlich so ihre besondere historische Bedeutung herausstellen. Die Vitrine stand frei auf dem alten polierten Steinboden des Museums. Hinter ihr war eine große Informationstafel montiert, die bis zur Decke reichte, aber auch nicht so aussah, als ob sie die Verkabelung für eine Sicherungseinrichtung in sich bergen würde.

„Hochwahrscheinlich ist die Vitrine nicht verkabelt“, sagte von Berg mit gedämpfter Stimme, als sie die Vitrine ausgiebig inspiziert hatten. „Bleibt jetzt nur noch die Frage, ob wir die Glaskuppel anheben können“, ergänzte er. Von Berg schaute zurück in den großen Ausstellungsraum, um sicherzustellen, dass ihnen in diesem Moment kein Besucher oder gar jemand vom Museumspersonal begegnete.

„Los, Ulrich, lass uns mal versuchen, das Glas anzuheben.“

Die beiden Männer pressten ihre Hände seitlich gegen den verglasten Teil des Korpus und zogen ihn mit aller Kraft nach oben. Tatsächlich löste er sich ohne Weiteres vom Unterbau der Vitrine. Sie setzten die schwere Glasformation daraufhin sofort wieder behutsam ab. „Und jetzt erstmal raus hier“, sagte von Berg, der so schnell es möglich war ohne aufzufallen, zurück in den großen Ausstellungsraum ging, dicht gefolgt von Faßmann und Anja. Sie taten so, als seien sie in die Beschreibungen der großen Rechenapparaturen vertieft, die dort standen. Als nach zehn Minuten immer noch niemand vom Museumspersonal auftauchte, konnten Sie sicher sein, dass sie auch keinen stillen Alarm ausgelöst hatten. Die Vitrine war also tatsächlich nicht alarmgesichert. „Besser geht‘s nicht! Jetzt müssen wir nur noch warten, bis die schließen“, sagte Faßmann in einem gepressten Flüstern. „Ja, wenn wir jetzt noch eine Steckdose finden“, sagte von Berg und sie machten sich auf die Suche nach einer Stromquelle in dem Raum mit der Enigma. Nach kurzer Suche hatte Anja am hinteren Ende des Raums eine entdeckt. „Wie für uns montiert“, sagte Faßmann zufrieden.

Von Berg sah auf die Uhr. Es war gerade mal 16 Uhr. Sie hatten also noch über eine Stunden Zeit, bis das Museum schloss. „Dann lasst uns mal sehen, wo wir am besten die Nacht verbringen“, sagte von Berg und erst in diesem Moment wurde Faßmann und Anja vollends klar, dass sie keine andere Wahl hatten, als hier zu übernachten, um nicht aufzufliegen. „Hier wird sicher ein Wachschutz patrouillieren. Wir müssen uns also ein Plätzchen suchen, an dem wir nicht entdeckt werden“, fügte von Berg hinzu.

Sie mischten sich unter die Besucher und hielten Ausschau nach einem geeigneten Versteck für die Nacht. Als sie im nahegelegenen Themenbereich „Schifffahrt“ angekommen waren, sagte von Berg, als er vor einem riesigen Schlepperboot namens „Renzo“ stand: „Na bitte, hier machen wir es uns nachher gemütlich.“ Zwar war eine Flanke des Bootes weiträumig aufgeschnitten, damit die Besucher das Innere bequem in Augenschein nehmen konnten, doch der hintere Teil, der offensichtlich nichts Interessantes zu sehen bot, war noch in seinem ursprünglichen Zustand erhalten. „Hier werden wir dann die paar Stunden abwarten, bis das Museum wieder öffnet“, sagte von Berg zufrieden. Die Vorstellung, tatsächlich in diesem alten Boot die Nacht zu verbringen, behagte Faßmann und Anja überhaupt nicht, doch da sie keinen anderen Vorschlag hatten, nahmen sie es unkommentiert hin.

Dann gingen sie zurück zur Enigma und versuchten schon eine Ahnung davon zu bekommen, welchen Bezug die Ziffern des Rings, die sie auf einem Zettel notiert hatten, vor allem zu den vier Einstellschritten der Chiffriermaschine haben konnten, die Anja während der Fahrt im Detail recherchiert hatte. „Verdammt, ist euch schon aufgefallen, dass man in das Ding gar keine Ziffern eintippen kann? Unser Code besteht aber ausschließlich aus Zahlen“, sagte Anja etwas aufgeregt. Von Berg betrachtete die Maschine und wunderte sich, dass ihm das erst jetzt auffiel, nachdem es Anja erwähnt hatte. Aus seiner Zeit bei der Fremdenlegion waren ihm Chiffriermethoden nicht ganz fremd und ihm fiel ein, dass Ziffern häufig ausgedrückt werden durch ihre entsprechende Position im Alphabet und umgekehrt. „Das sollte uns nicht beunruhigen“, erwiderte er gelassen, „wir nehmen einfach den entsprechenden Buchstaben in der alphabetischen Reihung.“ Anja leuchtete diese einfache, aber sehr plausible Erklärung ein und vertraute darauf, dass er Recht hatte. Während sie alle weiter darin vertieft waren, ein logisches Muster zwischen dem Code und den Eingabemöglichkeiten der Enigma zu erkennen, ertönte die ersehnte Durchsage: „Sehr geehrte Besucherinnen und Besucher, das Deutsche Museum schließt in 15 Minuten. Bitte begeben Sie sich langsam zu den Ausgängen. Wir bedanken uns für Ihren Besuch und hoffen, Sie bald wieder begrüßen zu dürfen.“ Die verbleibende Zeit nutzten sie weiter hoch konzentriert, die in den Ring gravierten Ziffern in eine schlüssige Beziehung zu den Einstellmöglichkeiten der Enigma zu bringen. Als die vorherige Ansage fünf Minuten vor Schließung nun allerdings mit der Aufforderung, sich umgehend zu den Ausgängen zu begeben, wiederholt wurde, gingen sie zurück zu dem Schlepperboot und warteten in dessen uneinsehbarem hinteren Teil die Schließung ab.

Nachdem das Museum endlich geschlossen war, warteten sie noch einige Zeit, um sicherzugehen, dass auch das Personal das Gebäude verlassen hatte. Umsichtig traten sie heraus und huschten so leise und schnell sie konnten zur Enigma zurück. Der Raum lag nun im Dunkel. Sie zückten die kleinen Taschenlampen, die sie im Baumarkt gekauft hatten und richteten deren Strahl auf die Vitrine mit der Enigma. „Einer von uns sollte draußen bleiben und Wache halten“, sagte von Berg. Da keiner diese Aufgabe unbedingt übernehmen wollte, sahen sie sich zunächst einen Moment lang wortlos an. Dann verdrehte Anja die Augen und sagte: „Okay, ich steh’ Schmiere.“ Anja ließ sich auf dem Fußboden nieder und lehnte sich an das Eingabeterminal eines der alten Riesencomputer, das eher aussah wie ein mit Tasten und Hebeln übersähter Schreibtisch aus der Bauhaus-Ära. Von dort aus konnte sie den Eingang zu der Ausstellungshalle gerade so noch gut überblicken, ohne sofort gesehen zu werden. Die schwache Notbeleuchtung fiel auf die schrankgroßen Computer mit ihren unzähligen aneinandergereihten Relais und kleinen Kabelverbindungen. Die Apparaturen sahen irgendwie aus, als seien sie schon Jahrhunderte alt, obwohl sie tatsächlich vor 50 bis 60 Jahren noch im Einsatz waren.

Faßmann und von Berg nahmen die Glaskuppel ab und stellten sie vorsichtig auf den Boden. Von Berg ergriff die Maschine mit beiden Händen an ihrer Holzverschalung und hob sie heraus. Sofort wurde ihm klar, dass sie auch den daneben ausgestellten, ebenfalls in Holz eingefassten Transformator benötigen würden, um die notwendige Stromversorgung herzustellen. Daher nahm er auch diesen behutsam heraus. Beide Geräte trugen sie vorsichtig zur Steckdose am Ende des Raums. Von Berg verband die Enigma mit dem Transformator durch das Kabel, das aus der Rückwand der Holzverschalung kam. Den Stecker am Stromkabel des Transformators versuchte er in die Steckdose zu stecken, doch der alte Stecker aus Bakelit passte nicht. Kurz entschlossen schraubte er ihn auf und führte vorsichtig die beiden losen Metallstifte in die Steckdose. Als der zweite Stift Kontakt mit der spannungsgeladenen Aufnahmegabel in der Steckdose bekam, gab der Transformator ein surrendes Brummen von sich.

Faßmann und von Berg nickten sich freudig zu und von Berg drückte mit leicht zitternden Fingern eine beliebige Taste nieder. Ein leises Klacken durchbrach die Stille, als der Mechanismus der Enigma in Bewegung geriet. Die Walzen, die vermutlich Jahrzehnte des Stillstands hinter sich hatten, begannen zu rotieren. Ein fast unhörbares Wispern ließ erahnen, wie die elektrische Energie durch die alten Schaltkreise floss. Danach gab die Maschine ihre Antwort preis. Der schwache Lichtschein einer der kleinen Glühlampen unter dem Buchstabenfeld zeigte das Ergebnis der Verschlüsselung an. „Das ist halt noch Made in Germany“, flüsterte Faßmann und grinste dabei. Von Berg war in dem Moment überhaupt nicht für Scherze zu haben und sagte mit ernster Stimme: „Die eigentliche Arbeit fängt jetzt erst an.“ Er holte den Zettel mit dem Code hervor und beide sahen auf die lange rätselhafte Zahlenkolonne: <2413 15 20 20 15 1908 4 0416 0217 5323 0335>. „Das erste könnte doch die Reihenfolge dieser Walzen sein“, sagte Faßmann. „Du hast recht“, erwiderte von Berg. Er versuchte, die Abdeckung um vier teilweise herausstehende Zahnräder herum zu öffnen. Nachdem er zwei nach innen gerichtete kleine Hebelchen gleichzeitig nach außen drehte, löste sich die Abdeckung einen millimetergroßen Spalt. Als er sie anhob, waren die vier Walzen, an denen jeweils seitlich ein Zahnkranz angebracht war, zugänglich. Von Berg nahm eine nach der anderen heraus und beide Männer betrachteten sie drehend und wendend. „Woher sollen nun wir wissen, in welcher Reihenfolge sie eingelegt werden müssen?“, fragte von Berg.

„Vielleicht haben sie irgendwo eine Nummerierung“, erwiderte Faßmann.

Während sie die eigenwilligen Bestandteile der Maschine untersuchten, die an den Zahnkranz eines Fahrrades erinnerten, hörten sie plötzlich ein leises, dumpfes Pochen, das rasch näher kam. Wenige Augenblicke später stand Anja in Socken vor ihnen, je einen Schuh in der Hand. „So ein Wachmann ist im Anmarsch“, sagte sie mit einem hauchdünnen Flüstern. Sie pressten sich mit dem Rücken links und rechts vom Eingang in den kleinen Ausstellungsraum an die Wand und achteten darauf, kein noch so kleines Geräusch von sich zu geben. In den Vitrinen spiegelte sich der näher kommende Schein der Taschenlampe des Wachmanns, gefolgt von seinen schweren Schritten, die nach grobem Schuhwerk klangen. Anja dachte sich, „auch wenn er uns hier nicht entdecken würde, so würde ihm doch sofort die auf dem Boden liegende Enigma auffallen und er würde Alarm schlagen.“ Panik stieg in ihr auf. Als der Wachmann fast auf Höhe des schmalen Eingangs angekommen war, hielten alle die Luft an. Die Anspannung war so groß, dass sie das pulsierende Rauschen ihres eigenen Blutes in den Ohren wahrnehmen konnten. Genau vor dem Eingang verstummten die Schritte. Sie schlossen die Augen und machten sich darauf gefasst, jeden Augenblick entdeckt zu werden. Der Lichtkegel der Taschenlampe zappelte über die Vitrinen zunächst auf der linken und dann der rechten Seite, aber immer knapp vorbei an der Stelle, an der die Enigma auf dem Boden lag. Die große, deckenhohe Informationstafel der Vitrine, die genau hinter dem Eingang stand und den Blick in den Raum einschränkte, verdeckte dem Wachmann den Blick auf die Stelle, die sie verraten hätte. Er müsste in den Raum treten, um ihn vollständig zu überblicken. Es genügte ihm aber offensichtlich zu sehen, dass mit den Exponaten, die der linken und rechten Wand entlang ausgestellt waren, alles seine Ordnung zu haben schien. So wurde es nach wenigen Sekunden auch wieder dunkel und der Wachmann setzte seine Patrouille fort. Als seine Schritte leiser wurden, stießen sie alle erleichtert die Luft aus und lösten sich aus ihrer angespannten Position. „Puh, das war knapp“, sagte Faßmann und von Berg bemerkte: „Der kommt hoffentlich nicht so schnell wieder.“

„Ich geh’ dann mal zurück auf meinen Posten“, sagte Anja und gab Faßmann einen Kuss, den von Berg mit einem wohlwollenden Augenrollen beobachtete. Dann widmeten sich die beiden Männer wieder den Chiffrierwalzen aus der Enigma. Sie suchten daran weiter nach einer Zahl oder einem Symbol, mithilfe dessen es möglich wäre, ihre richtige Reihenfolge in der Maschine zu bestimmen. „Das geht ja gut los“, bemerkte Faßmann spitz, als sie nach einer Weile immer noch nicht fündig wurden.

„Ulrich, was bitte sollen wir mit dieser Bemerkung anfangen?“

„Ist ja schon gut“, erwiderte Faßmann und dachte sich: „Er ist wieder in seinem Einzelkämpfer-Modus. Restlos auf die Aufgabe fokussiert. Jede noch so kleine Ablenkung wird aufs Äußerste missbilligt. Hätte ich eigentlich wissen müssen.“

Nach einer Weile stieß von Berg flüsternd aus: „Hier, sieh mal“ und hielt Faßmann die Walze hin, „erkennst du die eingestanzte römische Ziffer? Sie ist fast ausgeschliffen, aber es sollte eine ‘drei’ sein.“

Faßmann betrachtete angestrengt die betreffende Stelle an dem Zahnrad.

„Ja, könnte eine ‘drei’ sein.“

Sofort nahm von Berg die nächste Walze zur Hand und fand an der gleichen Stelle eine ebenfalls fast komplett ausgeschliffene römische Ziffer, die aussah wie eine ‘Vier’. An den anderen beiden Walzen ließen sich die römischen Ziffern ‘I’ und ‘II’ auch gerade noch so erahnen. Von Berg legte die Walzen in ihrer numerischen Reihenfolge vor die Enigma auf den Boden und fing an, sie einzeln in der Reihenfolge 2-4-1-3 wieder einzulegen, was den ersten vier Ziffern des Codes in dem Ring entsprach. „Das hätten wir schon mal. Jetzt müssen wir die Position der Walzen einstellen“, flüsterte von Berg und holte den Zettel mit dem Code wieder hervor. Es galt nun die Ziffernfolge „15 20 20 15“ in Buchstaben zu übersetzen und die Walzen danach auszurichten. Er zählte die entsprechenden Buchstaben des Alphabets ab und kam auf den alten deutschen Vornamen „OTTO“. Ohne weiter darüber nachzudenken, ob das Zufall war oder eine besondere Bedeutung hatte, drehte er die Walzen jeweils so lange, bis in den kleinen Sichtfenstern O-T-T-O erschien. „Soviel dazu. Jetzt noch die Steckverbindung herstellen“, murmelte er.

Während Faßmann einige Zeit nichts weiter tun konnte, als aufmerksam zu verfolgen, wie von Berg den alten Chiffrierapparat weiter einstellte, durchdrang ein nur zu bekanntes, nagendes Gefühl seine Konzentration. Ein hartnäckiger Druck breitete sich in seinem Unterleib aus. Es kündigte sich ein Bedürfnis an, das über jenes einer kleinen menschlichen Erleichterung hinausging. Er hoffte, mit der Anspannung seiner Muskulatur so entgegenwirken zu können, dass der Druck wieder verklingt. Doch ein baldiger erneuter Wellenschlag dieses unangenehmen Gefühls schaffte letzte Gewissheit: Etwas Größeres duldet keinen Aufschub mehr. Faßmann wollte von Berg nicht stören, so sehr vertieft er in dem Moment in die Enigma war. Aber die Natur verlangte nach ihrem Recht und ihre Geduld schien fast erschöpft. „Sorry, aber ich muss mal kurz wohin“, sagte er leise von Berg zugewandt.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst. Kannst du deine Studentenblase nicht noch ein wenig zukneifen?“

„Wenn’s nur die Blase wäre.“

„Scheiße!“

„So direkt wollte ich es nicht ausdrücken.“

„Sei bloß vorsichtig und zieh die Schuhe aus.“

Faßmann machte sich im wahrsten Wortsinne auf die Socken in Richtung Toilette, die sich im Treppenhaus befand. Er kam an Anja vorbei, die erschrak, als sie ihn sah. „Alles okay, ich muss nur... “, sagte er, ohne den Satz zu vollenden. Anja verdrehte leicht die Augen, lächelte aber dann und sah ihrem Liebsten nach, wie er im Treppenhaus verschwand. Ein einsames Licht beleuchtete neben der Tür die Aufschrift „WC“ an der Wand. Nur das Symbol auf der Tür passte nicht zu seinem Geschlecht. Er zögerte allerdings kaum eine Sekunde und trat ein. Ein Bewegungsmelder aktivierte die Beleuchtung. Mit einem erleichterten Seufzer schloss er die Tür der Toilettenkabine. Endlich konnte er sich der Notwendigkeit hingeben, die ihn hierher geführt hatte. Er genoss das angenehm befreiende Gefühl der Erleichterung und atmete tief durch.

Der Wachmann saß in seinem kleinen Büro im Erdgeschoss und sah gedankenverloren aus dem Fenster. Er ließ seinen Blick über die mächtige Fassade des alten Museumsgebäudes schweifen, das nachts noch wuchtiger wirkte und fast etwas Unheimliches ausstrahlte. Plötzlich sprang er auf, ging nah an das Fenster heran und stützte sich mit beiden Händen am Fensterbrett ab. Augenblicklich war er hellwach und sein Puls beschleunigte sich. Er sah das Licht in der Damentoilette brennen. Ohne einen Moment zu zögern, packte er seine große Taschenlampe, legte sich die schwere Koppel mit Schlagstock, Elektroschockpistole und Handschellen an und rannte hinaus in den Flur. Eigentlich wäre er verpflichtet gewesen, diesen Vorfall sofort bei der Zentrale zu melden, doch es wäre nicht das erste Mal, dass es nur ein Vogel war, der sich verflogen hatte, oder er auf harmlose Jugendliche trifft, für die es nichts weiter als eine spannende Mutprobe war, sich nachts im Museum einschließen zu lassen. Seit dem Film „Nachts im Museum“, hat diese Art der nächtlichen Freizeitgestaltung einen regelrechten Boom erfahren.

Von Berg konnte es nicht fassen. Der einzig logische nächste Schritt wäre nun, auf dem Steckbrett, das sich hinter einer Klappe in der Holzverschalung an der Stirnseite der Enigma befand, eine Kabelverbindung herzustellen zwischen den Ziffern 1, 9, 0 und 8. Doch das war unmöglich. Wieder und wieder suchte er die vielen Anschlüsse und ihre Nummerierungen ab, doch es fehlte ein Anschluss. Keine der Steckverbindungen entsprach der Ziffer „0“. Die Ziffernfolge aus dem Ring 1-9-0-8 musste also eine andere Bedeutung haben, doch so angestrengt er auch nachdachte, ihm wollte nichts einfallen, was auch nur annähernd Sinn ergeben würde.

Der Wachmann musste bis zur beleuchteten Toilette fast 300 Meter zurücklegen, was ihm mit seinen 64 Jahren und von der deftigen bayerischen Küche gezeichneten Statur einige Mühe bereitete. Doch ihn trieb der persönliche Ehrgeiz an, die mutmaßlichen Schlawiner zu erwischen. Als er das Treppenhaus erreicht hatte, zog er vorsichtshalber die Elektroschockpistole, mehr um sich damit den nötigen Respekt zu verschaffen, als in der Absicht, sie tatsächlich einzusetzen. Die letzten Treppenstufen ging er langsam hinauf, um den Überraschungsmoment auf seiner Seite zu haben. So kam er außerdem langsam wieder zu Atem. Vor der Toilettentür baute er sich auf und umklammerte mit beiden Händen die Elektroschockpistole.

Anja gefror das Blut in den Adern, als sie sah, wie der Wachmann mit seiner Waffe langsam auf die Toilette zuging. Sie schlich zu von Berg, um ihn zu warnen. Als sie ihn erreichte, saß er auf dem Boden und mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Er hatte die Enigma auf dem Schoß und starrte fast regungslos darauf. Sie ging auf ihn zu und beugte sich zu ihm hinunter.

„Wilhelm, sie haben Ulrich erwischt.“

„Wie erwischt? Wo ist er jetzt?“

„Auf dem Klo.“

Von Berg sah Anja verwirrt an.

„Der Wachmann hat seinen Toilettengang offensichtlich mitbekommen. Jetzt steht der vor der Klotür und fordert ihn auf, rauszukommen. Er wäre bewaffnet, hat er gerufen.“

„Na großartig.“

„Was machen wir denn jetzt?“, fragte Anja und sah von Berg verzweifelt an.

„Wir schauen uns das erst mal mit gebührendem Abstand an.“

Von Berg stand auf und bedeutete Anja, ihm zu folgen. Sie gingen langsam und mit äußerster Umsicht in Richtung des Treppenhauses. Als sie es von weitem einsehen konnten, blieben sie stehen und beobachteten die Szenerie.

Faßmann war noch immer in der Toilette. Er stand an einem der Waschbecken, die sich direkt neben der Toilettentür befanden und wusch sich die Hände, als ihn ein Schock traf, der ihm den Atem nahm und sein Herz sofort wie wild schlagen ließ. Er hörte die nahe Stimme des Wachmanns, die wie ein Donnerschlag durch das stille Museum hallte.

„Hier ist der Wachschutz. Ich weiß, dass ihr da drin seid. Ich richte eine Waffe auf die Tür, aus der ihr jetzt ganz langsam rauskommt.“

Seine Gedanken überschlugen sich. Angst und Unglauben, dass das gerade wirklich geschieht, vermischten sich und erfüllten ihn mit einem brennenden Gefühl der Ausweglosigkeit. Es war ihm in dem Moment unmöglich, Gedanken an eine rationale Handlung zu fassen. Wie zu Eis erstarrt, stand er da. Er fühlte sich wie ein Tier in der Falle, und verspürte knochentiefe Furcht. Er realisierte, dass er keine Chance zur Flucht hatte, aber er wäre nicht Ulrich Faßmann, wenn er nicht auch diese Situation irgendwie meistern könnte, sprach er sich in Gedanken Mut zu. Mit einem tiefen Atemzug machte er einen Schritt auf die Tür zu. Seine Hände zitterten. Er wusste, dass er da jetzt raus und sich dem Wachmann stellen musste – jetzt! Er öffnet langsam die Tür. Nun stand er dem Wachmann, der immer noch seine Elektroschockpistole im Anschlag hatte, direkt gegenüber, sah ihn an und zuckte bübisch mit den Schultern. Die große Erfahrung und Menschenkenntnis des Wachmanns sagte ihm sofort, dass von Faßmann keine wirkliche Gefahr ausging. „Die Lausbuben werden auch immer älter“, sagte der Wachmann, schüttelte mit dem Kopf und senkte seine stromgeladene Pistole, behielt sie aber vorsichtshalber einsatzbereit in der Hand.

„Was machen Sie denn hier um diese Zeit?“

„Ganz ehrlich: ich musste dringend auf die Toilette.“

Faßmann wusste genau, welchen Augenaufschlag er aufsetzen und welchen Tonfall er anschlagen musste, um sympathisch und vertrauensvoll zu wirken.

„Dann sollten Sie aber dringend zum Arzt gehen, wenn Sie da fünf Stunden gebraucht haben“, sagte der Wachmann in bayerischem Akzent und grinste.

„Es wäre gut, wenn Sie mir jetzt sagen, was Sie hier wirklich um diese Zeit verloren haben“, fuhr der Wachmann fort und wurde wieder ernst.

„Die Geschichte dauert länger, ist aber spannend.“

„Ich habe bis morgen früh Zeit. Dann gehen wir jetzt mal in mein Büro, nehmen ihre Personalien auf und dann können sie mir auch ihre spannende Geschichte erzählen.“

Der Wachmann trat einen Schritt zur Seite und sagte: „Bitte nach Ihnen.“

Faßmann verstand sofort und ging voraus.

Von Berg sah Anja erstaunt an.

„Tja, das kann er“, sagte sie und lächelte.

„Ja, ganz offensichtlich. Dann warten wir hier jetzt am besten ab, wie sich die Situation weiter entwickelt. Offensichtlich brauchen wir uns ja um Ulrich im Moment keine Sorgen machen.“

„Wie weit bist du mit der Enigma gekommen?“

„Das ist das nächste Problem. Der Teil des Codes, der nur zu dem Steckbrett gehören kann, ergibt überhaupt keinen Sinn. Es fehlt die Null.“

Anja blickte von Berg etwas verwirrt an.

„Es fehlt die Null?“

„Ja! Für das Steckbrett kommt nur die Codesequenz 1-9-0-8 in Frage, aber das scheiß Ding hat keine Null“, erklärte von Berg erregt und entschuldigte sich sogleich für seine vulgäre Ausdrucksweise.

„Schon gut. Verstehe.“

„Setzen Sie sich“, sagte der Wachmann auffordernd und zeigte auf den kleinen Stuhl an der Seite seines Schreibtischs. Faßmann nahm Platz und ließ seinen Blick über den Schreibtisch schweifen, auf dem neben einer zusammengefalteten Bild-Zeitung der Dienstausweis des Wachmannes lag, der ihm seinen Namen verriet.

„Kann ich mal Ihren Personalausweis sehen?“, fragte der Wachmann, nachdem er sich hinter den Schreibtisch gesetzt hatte.

„Aber sicher.“

Faßmann holte den Personalausweis hervor und reichte ihn dem Wachmann.

„Also, Herr Nagelsmann, was haben Sie im Deutschen Museum um diese Zeit verloren?“

„Wir sind hier, um einen alten Code zu entschlüsseln und dazu brauchen wir ein Dechiffriergerät, das hier ausgestellt ist, namens ‘Enigma’.“

Der Wachmann sah Faßmann mit großen Augen ungläubig an.

„Was heißt wir ?“

„Wir sind zu dritt.“

„Hier im Museum?“

„Ja. Aber bevor Sie jetzt den ganz großen Alarm auslösen, hören Sie mir bitte erstmal zu.“

Der Wachmann war sich unschlüssig, was er nun tun und ob er dem merkwürdigen Mann aus der Damentoilette überhaupt ein Wort glauben sollte. Er entschloss sich, für einen Moment doch noch weiter zuzuhören.

„Herr Grabmayr, natürlich fragen Sie sich jetzt, warum Sie mir glauben sollen und überlegen, nicht doch besser gleich die Polizei zu rufen.“

Der Wachmann war etwas überrascht, mit seinem Namen angesprochen zu werden. Außerdem fühlte es sich für ihn etwas unangenehm an, dass Faßmann seine Gedanken so präzise auf den Punkt gebracht hatte, als wenn er Gedanken lesen könnte. Irgendwie bestärkte es ihn aber darin, dem Mann, der offensichtlich bei sehr klarem Verstand zu sein schien, die Gelegenheit zu geben, seine Geschichte zu erzählen.

„Na, dann schießen sie mal los.“

Faßmann schilderte die wahren Hintergründe, die sie dazu gezwungen hatten, schnellstmöglich den geheimnisvollen Code zu entschlüsseln und erklärte, warum Sie dazu unbedingt eine Enigma benötigten. Er verstand es dabei sehr geschickt, nur so viel preiszugeben, wie nötig war, um seine Schilderungen glaubhaft und vor allem ihre Absichten über jeden Zweifel erhaben redlich wirken zu lassen. Faßmann sah dem alten Mann an, dass er tief ergriffen war von seinen Ausführungen und sagte schließlich: „Deshalb bitte ich Sie, nein, flehe ich Sie an, uns den Code entschlüsseln zu lassen. Damit verhindern Sie, dass unschuldige Menschen sterben.“ Eine lange Pause entstand, in der der Wachmann den Blick nicht von Faßmann wendete.

„Ich will Ihnen das alles glauben, nur kann mich das mehr als nur meinen Job kosten. Das ist Ihnen schon klar?“

„Das ist mir bewusst. Sobald wir den Code geknackt haben, was vielleicht bereits geschehen ist, verschwinden wir, wie wir gekommen sind, und die Enigma steht wieder an ihrem Platz, als wäre nichts gewesen. Versprochen.“

Erneut blickte der Wachmann Faßmann, ohne ein Wort zu sagen, lange an. Er schien offenbar mit sich zu ringen, was er nun tatsächlich tun sollte – dem charismatischen Unbekannten wirklich glauben oder doch die Polizei rufen. „Na schön, dann stellen sie mir mal ihre Kollegen vor.“

„Natürlich“, erwiderte Faßmann und beide machten sich auf den Weg durch das nur mit der Notbeleuchtung schwach erhellte, menschenleere Museum. Der Wachmann blieb immer einen Schritt hinter Faßmann und hielt sich, je näher sie der Ausstellung mit den kryptologischen Geräten kamen, mit seiner Elektroschockpistole schussbereit.

„An... äh An- und für sich müssten sie noch bei der Enigma sein“, sagte Faßmann, der beinahe Anjas richtigen Namen gerufen hätte. „Nicole? Heinrich? Ich bin in Begleitung von jemandem, der euch gerne kennenlernen möchte“, rief Faßmann, als sie nur noch wenige Schritte von dem kleinen separaten Ausstellungsraum entfernt waren. Da traten Wilhelm und Anja aus dem Zugang heraus und sahen den Wachmann unsicher und nervös an. „Guten Abend“, sagte Anja und von Berg wiederholte ihre Worte. Er dachte für eine Sekunde daran, dem Mann die Hand zu reichen und sich vertrauensfördernd vorzustellen, sah aber dann die Elektroschockpistole in seiner Hand und verwarf den Gedanken sogleich wieder. „Grüß Gott“, erwiderte der Wachmann, steckte seine Pistole in das Holster, ging vorsichtig an den Dreien vorbei in den kleinen Ausstellungsraum und sah die mit dem Transformator verkabelte Enigma auf dem Boden liegen. „‘Bitte nicht berühren’, kann ich mir hier wohl sparen“, sagte der Wachmann scherzhaft und wandte sich wieder der Gruppe zu. Spätestens jetzt merkten Anja und von Berg, dass ihnen der Wachmann, soweit die Umstände es zuließen, wohlgesonnen war und Anja lächelte ihn an. Er erkannte in ihren Augen die große Dankbarkeit, die sie darüber empfand, dass er sie offenbar gewähren ließ.

„Habt ihr den Code schon geknackt?“, fragte Faßmann. „Äh, noch nicht ganz. Wir sind noch dabei“, erwiderte von Berg, machte einige Schritte auf Faßmann zu und flüsterte ihm ins Ohr: „Wir kommen nicht weiter. Eine Codesequenz ergibt einfach keinen Sinn.“ Es blieb dem Wachmann nicht verborgen, dass von Berg Faßmann etwas zuflüsterte. „Gibt‘s Probleme?“, fragte er argwöhnisch und wandte sich dabei direkt an von Berg. Der fuhr herum und fühlte sich ertappt.

„Offen gestanden, ja. Wir kriegen eine letzte Einstellung an der Maschine nicht hin. Die Information, die wir dazu haben, stimmt einfach nicht mit den Einstellmöglichkeiten überein. Es ist zum Verrücktwerden.“ „Kann ich mal schauen?“, fragte der Wachmann. Von Berg ging mit ihm zur Enigma und hob sie achtsam auf, um sie auf eine der Vitrinen zu stellen. Als ihm auffiel, dass das Kabel zum Transformator zu kurz war, bat er den Wachmann, diesen aufzuheben und ebenfalls auf die Vitrine zu stellen. Dann erklärte er das Problem.

„Können die Zahlen noch etwas anderes bedeuten? Haben Sie schon andere Kombinationen versucht?“

„Alles, wirklich restlos alles habe ich schon durchdacht und versucht. Nichts ergibt annähernd einen Sinn.“

„Der Adolf; da macht er einem heute noch das Leben schwer.“

Von Berg wusste auf diese Anmerkung nichts zu erwidern und beide Männer standen einen langen Moment stumm vor der historischen Maschine.

Dann drehte sich der Wachmann um, sah allen nach und nach in die erwartungsvollen Augen und stieß die Luft aus.

„Ich weiß nicht, warum ich das jetzt sag’, aber ich wüsste wen, der euch helfen könnt’“.

Keiner machte einen Mucks. Sie konnten kaum glauben, was sie da eben hörten. Ausgerechnet der Mann, dessen Aufgabe es war, genau das zu verhindern, was sie hier taten, war nun möglicherweise ihre Rettung. Gespannt verharrten sie im Halbkreis um den Uniformierten, zum Zerreißen gespannt darauf, was er bereit war, ihnen sogleich zu offenbaren.

„Mein Vater kennt sich mit der Enigma sehr gut aus. Er war damals Funker. Deswegen hat er auch den Krieg überlebt.“

„Und Ihr Vater wäre bereit, jetzt hierherzukommen?“, fragte Faßmann.

„Naja, er müsste abgeholt werden. Er ist seit Jahren im Heim.“

„Das wäre kein Problem“, erwiderte Faßmann.

Von Berg sah auf die Uhr. „Es ist schon fast zehn“, sagte er ohne nachzudenken und bereute sogleich seinen überflüssigen und zudem kontraproduktiven Einwand.

„Das macht nichts“, erwiderte der Wachmann, „mein Vater ist immer bis spät in die Nacht auf. Er braucht nicht viel Schlaf.“

„Na dann“, sagte Faßmann, „machen wir uns auf den Weg.“

„Es ist besser, wenn ich meinen Vater alleine abhole.“

„Ja, natürlich, wie Sie meinen. Und wo sollen wir so lange bleiben?“, fragte Faßmann.

„Ihr geht’s derweil ein Bier trinken.“

Als sie dem Wachmann alle durch die schummrig beleuchteten Gänge des Museums folgten, vorbei an den unterschiedlichsten Exponaten wissenschaftlicher und technischer Errungenschaften der letzten Jahrhunderte, sagte er: „Eins solltet ihr noch wissen: Mein Vater ist schon sehr alt. In den letzten Jahren ist er etwas... naja, eigenwillig geworden. Mit anderen Worten: Er hat Probleme mit seinem Gedächtnis. Es ist nicht nur, dass er ständig seine Wohnungsschlüssel vergisst oder die meisten seiner Termine verpasst. Manchmal kann er sich nicht mal daran erinnern, was er zum Frühstück hatte und wenn’s ganz schlimm kommt, verwechselt er mich schon mal mit jemandem aus seiner Vergangenheit. Er war Offizier bei der Waffen-SS. Er ist bis heute stolz darauf, mit seinen damals gerade mal 26 Jahren den Rang eines Hauptsturmführers erreicht zu haben. Versteht das richtig! Er ist keiner von den überzeugten Altnazis. Durch seine Krankheit lebt er nur zunehmend in seiner Vergangenheit, weil er sich an die noch am besten erinnern kann. Bitte nehmt darauf Rücksicht.“

„Ja, sicher. Danke, dass Sie uns das gesagt haben“, erwiderte Anja mit nicht nur gespielter Betroffenheit.

Als sie den Seitenausgang passiert hatten, sagte der Wachmann: „Seien Sie spätestens in einer Stunde wieder genau hier.“ „In Ordnung und Danke“, sagte von Berg und reichte nun dem Wachmann die Hand für einen festen, verbindlichen Händedruck. Dann verschwand der Wachmann im Dunkel des kleinen Personalparkplatzes.

Sie suchten sich ein Gasthaus, in dem sie die Zeit im Warmen verbringen konnten, bis der Wachmann mit seinem Vater zurück war. Sie kehrten im nur ein paar Schritte vom Museum entfernten „Wirtshaus in der Au“ ein. Die ausgelassene Atmosphäre verhalf ihnen, die stundenlange Anspannung in dem Museum etwas von sich abfallen zu lassen. Im Vorbeigehen fragte der lederbeschürzte Kellner: „Drei halbe?“ Von brennendem Durst geplagt, erwiderte Faßmann ein spontanes „ja“. Als der Kellner bereits weiterlief, fragte Anja vorwurfsvoll: „Du willst allen Ernstes jetzt ein Bier trinken?“ „Der Kellner hat uns doch keine andere Wahl gelassen“, erwiderte Faßmann schelmisch und grinste. Anja machte eine abfällige Handbewegung, allerdings ohne Faßmann ernsthaft böse zu sein. Von Berg bemerkte: „Szenen einer Ehe“ und lachte. Dann kam schon der Kellner zurück und stellte drei Biergläser mit Augustiner Hell, eines der traditionellsten und beliebtesten Lagerbiere in München, von seinem randvollen Tablett auf ihrem Tisch ab und sagte „Zum Wohl“, als er bereits auf dem Weg zum nächsten Tisch war. „Na dann, prost und auf unseren neuen Freund“, sagte Faßmann und hob sein Glas, um mit Anja und von Berg anzustoßen. Beide mussten amüsiert schmunzeln und Anja sah Faßmann verliebt an. Seine Fähigkeit, in den schwierigsten Situationen den Humor und damit eine gewisse Leichtigkeit nicht zu verlieren, hat sie schon immer bewundert und ihr schon oft geholfen, schwierige Situationen zu meistern.

„Jetzt können wir nur hoffen, dass sich Herr Alzheimer im Kopf des alten Herrn nicht schon allzu häuslich eingerichtet hat“, sagte von Berg und sprach damit die Befürchtung aus, die alle in sich trugen. Sie tranken, ohne sich viel zu unterhalten, ihr Bier aus und gingen nach gut einer halben Stunde bereits wieder zurück, denn sie wollten unter allen Umständen eher als der Wachmann wieder vor dem Seiteneingang des Museums sein.

Als sie genau an der Stelle angekommen waren, an der sie sich von dem Wachmann getrennt hatten, war von diesem noch nichts zu sehen. Da sie noch vor der verabredeten Zeit waren, machte sich noch niemand darüber Gedanken. Während sie warteten, erfasste sie schnell die winterliche Kälte, die durch die Feuchte, die von der eisigen Isar aufstieg, umso durchdringender war. Als Anjas Hände und Füße zunehmend von den frostigen Temperaturen stechend durchdrungen wurden, tauchte das Bild von Siegfried Erlers leblosem Körper vor ihrem geistigen Auge wieder auf. Die Einsamkeit seiner Wohnung, durchzogen von der Eiseskälte, die durch die angekippten Fenster hereinströmte, musste bereits seit langem die Temperatur in dem Raum nahe des Gefrierpunktes gebracht haben, sodass zumindest in dieser Hinsicht so schnell keine weiteren Probleme zu erwarten waren, dachte sie.

„Wie spät ist es?“, fragte Faßmann, während er vor Kälte von einem Fuß auf den anderen trat. „Zehn nach Elf“, erwiderte von Berg nach einem längeren Blick auf seine Uhr. „Vielleicht ist es doch nicht so einfach, den alten Herrn um die Zeit aus diesem Heim zu holen und hierher zu bringen. Wir sollten uns noch keine Sorgen machen“, versuchte er Faßmann zu beruhigen, der sichtlich nervös wurde. Nach weiteren quälend langen zehn Minuten fragte Faßmann: „Was machen wir, wenn er nicht mehr auftaucht?“ „Er muss zurückkommen. Er hat hier heute Wachdienst. Es würde ja spätestens morgen früh auffallen, dass er einfach so seinen Posten verlassen hat“, sagte Anja. Das war wiederum so einleuchtend, dass es Faßmann und von Berg um einiges die Befürchtung nahm, dass der Wachmann nicht mehr zurückkommen würde.

Dann wurde der Platz plötzlich durch die Scheinwerfer eines Wagens erhellt. Sie waren alle von dem gleißenden Licht, das ihnen plötzlich entgegen schien, geblendet und hofften, dass es der Wachmann mit seinem Vater war. Der Wagen parkte in der Nähe des Eingangs und ihre Hoffnung war berechtigt. Der Wachmann stieg aus, ging eilig um sein Auto herum und öffnete die Beifahrertür. Sie sahen, wie er einem alten, gebrechlichen Mann half, mit Mühe auszusteigen und sich aufzurichten. Es war nicht zu übersehen, dass es ihm trotz der Hilfe seines Sohnes einige Mühe bereitete, die kurze Strecke zurückzulegen. Entsprechend lange dauerte es, bis sie den Eingang erreichten. Alle fragten sich, warum der Wachmann das alles überhaupt tat und das damit verbundene Risiko für sich einging. Doch die empfundene Dankbarkeit dafür, dass er sein Versprechen eingehalten hatte, überlagerte in diesem Moment jede Frage.

„Helmut, das sind die Kameraden, von denen ich dir im Auto erzählt habe“, sagte der Wachmann. Sie sahen den alten Mann alle unsicher an. Dann sagte von Berg mit fester Stimme „Guten Abend“, während er eine Haltung annahm, die an das Strammstehen beim Militär erinnerte und seine Hand zur Begrüßung ausstreckte. Als er die Hand schon fast wieder zurückziehen wollte, ergriff der alte Mann von Bergs Hand und erwiderte: „Guten Abend, Kamerad“.

„Lasst uns reingehen“, sagte der Wachmann und stützte seinen Vater, als sie langsam Stufe für Stufe hinauf stiegen zum Eingang. Dann schloss er die Tür mit seinem großen, schweren Schlüsselbund auf. Als er seinem Vater half, sich auf einen Besucherstuhl im Eingangsbereich zu setzen, sagte er: „Wartet bitte hier einen Moment. Ich bin gleich zurück“. Dann verschwand er in den finsteren, menschenleeren Tiefen des Museums. Alle empfanden eine große Unsicherheit, wie sie sich dem alten Mann gegenüber verhalten sollten und das nicht zuletzt angesichts seiner Alzheimer-Erkrankung. Dann setzte sich Anja auf den Stuhl neben ihm. „Sie können sich gar nicht vorstellen, wie dankbar wir ihnen sind, für ihre Hilfe“, sagte sie, während sie seine Hand ergriff. „Für Kameraden mache ich das gerne, mein Kind. Wir müssen in diesen schweren Zeiten doch zusammenhalten“, erwiderte er und sie ahnte, dass er in diesem Moment in einer anderen, eigenen und längst vergangenen Welt zu ihr sprach.

Da kam der Wachmann mit einem der Rollstühle zurück, die am Haupteingang für gehbehinderte Besucher bereitgestellt waren, ging damit auf seinen alten Vater zu und sagte: „Nur damit du den ganzen langen Weg nicht laufen musst, Vater.“

„Ich bin doch kein Versehrter“, erwiderte er entrüstet und mit leicht erhobener Stimme.

„Das hat auch niemand gesagt, Vater.“

„Dann nimm das Ding da weg.“

Der alte Mann richtete sich mit Mühe auf und hatte Schwierigkeiten, sich ohne fremde Hilfe auf den Beinen zu halten.

„Wo ist der Gefechtsstand?“, fragte er, während er von Berg mit glühenden Augen ansah und mit äußerster Anstrengung ein paar Schritte machte, offensichtlich, um allen zu beweisen, dass er dazu durchaus im Stande war.

„Hier entlang“, sagte von Berg und ging langsam voraus. Der alte Mann folgte von Berg und ließ sich dabei nur mit Widerwillen von seinem Sohn stützen. Sie näherten sich in einem immer wieder von Pausen unterbrochenen, nervenzehrenden Kriechgang der Stelle, an der die Enigma auf sie wartete. Als der altersschwache Mann die Maschine erblickte, mit der er im Zweiten Weltkrieg unzählige Nachrichten empfangen und versandt hatte und das nicht selten unter lebensgefährlichen Umständen, tauchte er noch weiter ab in eine längst vergangene Gegenwart, die viele Jahrzehnte von der entfernt war, in der alle nun gespannt darauf hofften, dass er die rätselhafte Codesequenz in die richtige Verbindung mit den Einstellungen der Enigma bringen konnte. Es sah fast so aus, als würde er vor der alten Maschine Haltung annehmen.

„Hauptsturmführer“, sagte von Berg mit besonders respektvollem Unterton, „es geht darum, im Steckfeld der Enigma die Verbindungen 1-9-0-8 herzustellen. Ich bin mit der Enigma leider noch nicht so vertraut und weiß daher nicht, wie das funktioniert. Das Steckfeld hat ja keine Null. Ich hoffe, Sie können mir dabei helfen. Es geht um eine äußerst wichtige Geheimoperation.“ Alle merkten, dass er den alten Mann mit der eigenartigen Wortwahl genau in der richtigen Weise angesprochen hatte und so zu ihm durchgedrungen
war.

„Natürlich gibt es kein Feld für Null auf dem Steckbrett, Soldat“, erwiderte der alte Offizier in militärisch barschem Tonfall. „Die Null hat eine besondere Bedeutung. Sie steht für eine Rechenoperation. Sie wird selten verwendet und wenn, dann nur für streng geheime Nachrichten aus dem Führerhauptquartier oder dorthin“, erklärte er und jeder merkte, dass er seinen Wissensvorsprung in diesem Moment genoss. „Wie wendet man die Rechenoperation an?“, fragte von Berg. „Sie sind aber neugierig, Soldat“, erwiderte er und sah ihn argwöhnisch an.

„Woher weiß ich überhaupt, dass Sie zum Rheingoldring gehören?“

Von Berg hatte diesen Begriff noch nie gehört, ahnte aber, dass damit nur der Kreis derer gemeint sein konnte, die in die Rechenoperation eingeweiht waren und erwiderte mit gespielter Empörung: „Bei allem Respekt, Hauptsturmführer, wie sonst sollte ich überhaupt in der Lage sein, Ihnen diese Frage zu stellen?“

Die vordergründig simple Logik und die Selbstverständlichkeit, die in von Bergs Entrüstung lag, tilgten die Zweifel des Mannes.

„Na schön. Die Null bedeutet, dass wir die umgebenden Zahlen quadrieren, addieren und dann durch die Anzahl der Zahlen teilen. Das Ergebnis muss immer 26 sein.“

Von Berg konnte in der Zahl 26 nicht sofort einen logischen Bezug erkennen und fragte: „26? Warum 26?“

„26 ist die Anzahl der Steckfelder auf dem Steckbrett. Damit überprüfen wir, ob der Sender, der die Enigma bedient, auch berechtigt ist, die Nachricht zu senden.“

Von Berg sah auf das Stück Papier in seiner Hand und bat Anja um das Handy.

„Da ist doch auch ein Taschenrechner drauf?“

Anja gab von Berg das Handy mit der bereits aufgerufenen Taschenrechner-App. „1 Quadrat plus 9 Quadrat plus 8 Quadrat ergibt 166, geteilt durch 3 ergibt 55,3. Das ist nicht 26“, sagte er nervös. Der alte Mann lächelte milde.

„Sie haben die Reihenfolge nicht beachtet. Zuerst quadrieren, dann addieren und zum Schluss durch die Anzahl der Zahlen teilen. Also 1 Quadrat plus 9 Quadrat geteilt durch 2 plus 8 Quadrat. Das ergibt genau 26.“

Ein Ausdruck tiefen Erstaunens stand in von Bergs Gesicht ob dieser enormen Leistung im Kopfrechnen.

„Wie lautet die Zusatzzahl?“, fragte der alte Mann sodann unvermittelt.

Von Berg sah auf die Zahlenkolonne auf dem Zettel und fragte sich, welche Ziffer gemeint sein könnte. Es konnte nur die nächstfolgende Ziffer sein, dachte er sich und erkannte auch die Logik, da nun für die letzte Steckverbindung eine Zahl fehlte.

„Die Vier“, antwortete er knapp.

Der alte Offizier machte sich sofort daran, die Steckverbindung entsprechend zu vervollständigen.

„Die Rotoren sind in der korrekten Reihenfolge und richtig eingestellt?“, fragte er anschließend. Von Berg überlegte kurz, was er nun mit Rotoren meinte, kam aber dann schnell darauf, dass es nur die Walzen sein konnten, die in der korrekten Reihenfolge eingelegt und sich in der richtigen Stellung befinden mussten. „Ja, das war kein Problem“, erwiderte er schließlich.

„Dann lassen Sie doch mal die Nachricht sehen, die wir entschlüsseln müssen.“

Von Berg gab ihm den Zettel mit dem Code aus dem Ring von Siegfried Erler und sagte: „Die Nachricht besteht nur aus dieser hinteren Ziffernfolge.“

Der Mann ließ eine Weile seinen Blick auf dem kleinen Stück Papier ruhen und erwiderte dann: „Das muss tatsächlich geheime Reichssache sein.“

Er nahm den Zettel an sich und tippte wie selbstverständlich die einzelnen Ziffern in Textform nach und nach in das Tastenfeld ein. Von Berg schrieb konzentriert jeden Buchstaben auf, der in der Enigma nach jeder Eingabe aufleuchtete.

„Wie lange braucht ihr noch?“, fragte der Wachmann, der plötzlich wieder auftauchte. „Ich hoffe, nicht mehr lange. Wir sind gerade dabei, die verschlüsselte Nachricht einzutippen“, erwiderte Faßmann.

„Ich werde um 2 Uhr abgelöst. Bis dahin muss ich meinen alten Herrn zurückgebracht haben und wieder auf meinem Posten sein.“

Von Berg sah kurz auf die Uhr und erkannte, dass die Zeit dafür jetzt schon knapp war, da es bereits weit nach Mitternacht geworden war. Doch keinesfalls wollte er jetzt den alten Mann stören, der vollends in seinem Element
war.

„Das war‘s“, sagte der alte Offizier einige Zeit später. Von Berg betrachtete den Zettel, auf dem er nach und nach die Buchstaben „F A G E H I F H B D E F C C F I“ notiert hatte. Sie ergaben für ihn keinerlei Sinn. Anja und Faßmann sahen ebenfalls mit Entsetzen auf den Buchstabensalat, mit dem sie rein gar nichts anfangen konnten. „Sagt Ihnen das was“, fragte von Berg den alten Offizier, während er ihm den Notizzettel zeigte. „Das ist doch Ihre Sache, Soldat“, erwiderte er barsch. „Ich habe Ihre Nachricht nur entschlüsselt, was auch schon Ihre Aufgabe gewesen wäre“, ergänzte er abweisend.

„Wir müssen jetzt wirklich Schluss machen“, drängte der Wachmann. „Ja, natürlich“, entgegnete Anja, die erkannte, dass die Geduld und Hilfsbereitschaft des Wachmanns erschöpft war, wofür sie auch vollstes Verständnis hatte angesichts seiner nahenden Ablösung. Von Berg legte eilig die Enigma und den Transformator wieder zurück in die Vitrine und setzte mit Faßmann die Glaskuppel wieder vorsichtig darüber.

Als sie in Richtung Ausgang gingen, war der alte Mann immer noch völlig in seiner eigenen Welt gefangen. „Wir müssen zurück zum Stützpunkt, Kameraden“, murmelte er und seine Stimme war nur noch schwer verständlich. Der Wachmann griff nach dem Arm seines Vaters, um ihn zu stützen, doch der wehrte ihn ab. „Ich bin nicht invalide, ich kann selber laufen“, polterte er, während er versuchte, sich aus dem helfenden Griff seines Sohnes zu befreien. Doch seine Beine wollten ihm nicht mehr gehorchen und er verlor fast das Gleichgewicht, als er selbständig einen Schritt machen wollte. Sein Sohn fing ihn gerade noch rechtzeitig auf. Die anderen standen hilflos um die beiden herum und wussten nicht, wie und ob sie überhaupt helfen sollten. Der Blick des alten Mannes huschte hektisch hin und her und ein Schrecken breitete sich in seinen Augen aus, als er offensichtlich in dem Moment versuchte, die für ihn ungewohnte Umgebung zu begreifen. „Wo sind wir hier überhaupt? Was ist das hier?“ fragte er und seine Stimme war erhoben. „Vater, es ist alles in Ordnung. Du bist im Deutschen Museum. Erinnerst du dich? Wir haben hier eine wichtige Aufgabe erledigt und alle sind dir sehr dankbar dafür. Wir müssen jetzt nach Hause“, versuchte der Wachmann seinen Vater zu beruhigen, doch der schüttelte den Kopf und sah seinen Sohn argwöhnisch an. „Was heißt hier Vater? Du bist nicht mein Sohn. Mein Sohn ist noch ein kleiner Junge, er kann nicht hier sein“, sagte er und trat misstrauisch einen Schritt zurück. Die Stimmung war zum Zerreißen gespannt und alle waren sich bewusst, dass die Situation nun jederzeit eskalieren konnte.

Da trat von Berg einen Schritt vor und sagte zu dem aufgebrachten Mann: „Hauptsturmführer, wir sind fast am Ziel. Wir sind gleich wieder im Stützpunkt. Sie haben uns so weit geführt, geben Sie jetzt nicht auf“, sagte er mit eindringlicher Stimme, streckte seine Hand aus und lächelte dem alten Mann ermutigend zu. Nach einem langen Moment angespannter Stille nickte der alte Mann langsam und ergriff die Hand von Bergs. Die Spannung löste sich und alle atmeten erleichtert auf. Mit zitternden Schritten unter der stützenden Hand seines Sohnes bewegten sie sich langsam und auch dieses Mal immer wieder unterbrochen von Pausen weiter in Richtung Ausgang.

Als die Tür zum Büro des Wachmanns in Sicht kam, blieb dieser abrupt stehen und hob seinen freien linken Arm, um den anderen zu bedeuten, ebenfalls sofort stehenzubleiben. Er sah Licht unter der geschlossenen Tür hindurchscheinen. Er war aber sicher, das Licht gelöscht zu haben, als er das Büro verlassen hatte. Das konnte nur bedeuten: Es war jemand im Büro. Faßmann und Anja waren für den ersten Moment verwirrt, denn sie wussten nicht, warum der Wachmann leise Alarm schlug. Doch dann sahen auch sie, was den Wachmann so in Aufruhr versetzte. „Mist, meine Ablösung ist schon da. Der kommt doch sonst nie so früh“, flüsterte er aufgeregt, „wir gehen jetzt so leise und so schnell wie möglich zum Ausgang und dann schleicht ihr euch“. Sie folgten dem Wachmann auf Zehenspitzen an der Bürotür vorbei, während dieser seinen Vater fast tragen musste, der in diesem Moment Gott sei Dank auch keinen Mucks von sich gab.

Beinahe hatten sie den Ausgang erreicht, da rief der Vater des Wachmanns: „Wir sind doch keine Feiglinge! Wenn wir kämpfen müssen, dann kämpfen wir! Aber wir stehlen uns doch nicht davon, wie Strauchdiebe!“ Da ließ der Wachmann seinen Vater los und machte einen Satz nach vorne, während er hektisch den großen Schlüsselbund hervorholte, an dem er fahrig nach dem für die Eingangstür suchte. Als er im Begriff war, sie aufzuschließen, hörte er im Hintergrund, wie jemand die Tür des kleinen Büros öffnete und heraustrat. Schnelle Schritte näherten sich. Er riss die schwere Eingangstür mit aller Kraft auf und Faßmann, Anja und von Berg stürmten hinaus in die eisige Nacht. Der alte Offizier war wild entschlossen, den dreien zu folgen. Es war in diesem Moment die einzig logische Handlung in seiner Realität. Im letzten Moment hielt der Wachmann seinen wankenden Vater zurück und zog die Tür so schnell wieder zu, dass sie krachend ins Schloss fiel.

Als er sich umdrehte, stand sein Kollege hinter ihm und sah ihn und seinen Vater verwundert an. Dem Wachmann fuhr der Schrecken durch Mark und Bein, da er nicht wissen konnte, wie lange sein Kollege da schon stand und ob er noch mitbekommen hatte, dass er eben drei Personen hatte verschwinden lassen. „Was ist das denn für ein Lärm, Alois“, fragte er, „und wer bitte ist dieser Herr?“, wollte er außerdem wissen, während er den Vater des Wachmanns mit einem kritischen Blick fixierte. Der Wachmann war dennoch erleichtert, dass er offenbar gerade noch rechtzeitig die Eingangstür geschlossen hatte, bevor sein Kollege auf der Bildfläche erschien. Auch dessen nachgeschobene Frage kam ihm gelegen, da er damit die erste nach dem Lärm nicht sofort beantworten musste.

„Das ist mein Vater, Franz.“

„Guten Abend, Herr Grabmayr“, sagte der Kollege höflich aber distanziert. Er bedeutete dem Wachmann mit einem eindringlichen Blick und leichtem Achselzucken, dass er dringend darüber aufgeklärt werden wollte, warum sein alter Herr um diese Zeit hier war. Der Wachmann ging auf seinen Kollegen zu, beugte sich zu ihm vor und sagte so leise, dass es sein Vater nicht mithören konnte: „Er ist aus dem Altersheim ausgebüchst und wie auch immer hat er es geschafft, hierher zu kommen. Er hat schwer Alzheimer und immer weniger lichte Momente.“

„Wer ist das? Und warum sind wir mit den Kameraden nicht zurück zum Stützpunkt gegangen?“, fragte der Vater des Wachmanns energisch. Wieder schnellte seinem Sohn der Puls in die Höhe.

„Vater, du bist hier im Deutschen Museum und das zu nachtschlafender Zeit. Weiß Gott, wie und warum du hierher gekommen bist.“

„Du hast mich doch mit dem Fahrzeug von zu Hause abgeholt.“

„Vater, du standest plötzlich hier vor der Tür! Erinnerst du dich denn nicht?“

„Das ist ja unerhört! Erst soll ich deinen merkwürdigen Kameraden bei der Nachrichtenentschlüsselung helfen und jetzt bin ich angeblich wie ein Geist einfach so hier hereingeschneit.“

Der Kollege des Wachmanns sah ihn und seinen Vater abwechselnd skeptisch an und der Wachmann merkte, wie sich sein Kollege immer mehr zu fragen schien, ob das wirklich alles nur wirres Zeug eines schwer Alzheimerkranken war, oder ob er etwas vor ihm verbergen würde, was ja tatsächlich absolut der Fall war. Bevor sein Vater die Skepsis seines Kollegen noch weiter anheizen konnte, sagte er: „Franz, ich muss meinen Vater jetzt zurück ins Heim bringen. Ich hol’ nur noch schnell meine Sachen und fahr’ dann.“

„Das scheint wohl auch das Beste“, erwiderte sein Kollege knapp.

Als er mit dem Vater des Wachmanns nun für einen kurzen Moment alleine war, fragte er ihn: „Warum sind Sie hergekommen?“

„Das habe ich doch schon gesagt. Mein Sohn hat mich mit dem Wagen abgeholt und hierher gefahren wegen einer sehr wichtigen Geheimoperation. Sie brauchten meine Hilfe mit der Enigma.“

„Mit der Enigma?“

„Ja, es ging um einen ...“

„Wir fahren jetzt nach Hause“, unterbrach der Wachmann seinen Vater mit drängender und leicht erhobener Stimme, fasste ihn unter und ging mit ihm so zügig es eben möglich war, hinaus. Sein Kollege blieb in der offenen Eingangstür stehen und sah den beiden mit fragendem Blick nach. Da drehte sich der alte Offizier noch einmal um und rief: „Sind Sie auch ein Kamerad vom Rheingoldring?“

Nach einer kurzen Gedankenpause rief der Kollege des Wachmanns zurück: „Ich weiß es nicht“. Noch bevor der greise Mann etwas erwidern konnte, ließ der Wachmann ihn auf den Beifahrersitz sinken und schloss sofort die Wagentür. Als er die Fahrertür öffnete, rief er seinem Kollegen zu: „Bis morgen.“ Nichts darauf erwidernd blieb dieser nur in der Eingangstür stehen und beobachtete, wie der Wachmann und sein gebrechlicher Vater in die späte Nacht davon fuhren.