Als Faßmann und Anja am nächsten Morgen aufwachten und sich aus dem schmalen Gästebett schälten, waren Steffi und Felix schon aus dem Haus. Sie hatten bereits am Vorabend vereinbart, nicht gemeinsam zu frühstücken, da die beiden sehr zeitig zur Arbeit mussten. Faßmann und Anja gingen stattdessen ein paar Straßenecken weiter in ein Café und frühstückten dort. Sie wollten unbedingt weiter vorsichtig bleiben. Daher beschlossen sie, sich zwei Prepaid-Handys zuzulegen, die man ohne persönliche Registrierung völlig anonym verwenden kann. Außerdem wollten sie die E-Mails aus ihren privaten Accounts von einem öffentlichen Ort aus abrufen, um sicher zu sein, dass niemand ihren Aufenthaltsort zurückverfolgen konnte. Faßmann erinnerte sich an den Business-Corner im The Westin Leipzig, das er gut kannte durch seine vielen Besuche des Restaurant „Falco“, zuletzt mit Hildegard Kaiser. Bedrückende Gedanken an sie und ihren mysteriösen Tod erfassten ihn für einen kurzen Moment.
Der Bereich des Business-Corner war offen zugänglich und bestand aus mehreren kleinen, mit Glaswänden unterteilten Nischen, in denen jeweils ein PC mit einem freien Internetzugang und ein Drucker standen. Gedacht war dieser Service natürlich nur für Hotel- oder Tagungsgäste, doch das wurde nicht wirklich kontrolliert.
Nachdem sie sich die Handys in einem Elektronikfachmarkt besorgt hatten, gingen sie zum The Westin und liefen mit dem Selbstverständnis von Hotelgästen durch die Lobby geradewegs zum Business-Corner. Ein kurzer Stups an die Maus genügte und der Bildschirm zeigte die vertraute Suchmaske von Google. Faßmann und Anja setzten sich je in eine der Nischen und riefen ihre Mail-Accounts auf. Konzentriert blätterten sie E-Mail für E-Mail durch und hielten Ausschau nach wichtigen Nachrichten. Nach etwa einer halben Stunde erhob sich Anja und kam zu Faßmann herum.
„Also ich wäre fertig. Wie sieht’s bei dir aus?“
„Ja, ich hab’s auch gleich.“
Als sie zurück durch die große Eingangshalle schritten, schlug Faßmann vor: „Ach, lass uns hier noch einen Kaffee trinken.“ „Von mir aus“, entgegnete Anja etwas verwundert, aber nicht abgeneigt. Sie ließen sich in einer der mit schweren Ledersesseln bestückten Sitzgruppen um die Lobbybar herum nieder. Faßmann holte ein zusammengefaltetes weißes Blatt Papier aus seiner Jackentasche und reichte es Anja.
„Was ist das?“
„Etwas, das uns vielleicht weiterhelfen kann.“
Anja faltete das Papier auf. Es war der Ausdruck einer E-Mail, die er vorhin abgerufen hatte. Sie war von einer Doreen Quitschalle vom Institut für Zeitgeschichte in Berlin.
<Hallo Herr Faßmann, ich war eine enge Freundin von Hildegard Kaiser. Ich würde sehr gerne mit Ihnen sprechen. Es gibt da etwas, das Sie wissen sollten. Rufen Sie mich doch bitte einmal an, aber nur über meine Handynummer.>
„Ich hab’ diese Mail erst heute Vormittag bekommen und ich hab’ keine Ahnung, was sie bedeuten könnte“, sagte Faßmann, die Ratlosigkeit in seinen Augen deutlich erkennbar. Anja schluckte schwer, ihr Herzschlag beschleunigte sich. Hildegard Kaiser, ihre langjährige enge Freundin, deren Tod sie noch überhaupt nicht verwunden hatte. „Was weiß diese Frau und warum meldet sie sich gerade jetzt bei Dir?“, fragte Anja aufgewühlt und eher sich selbst. Faßmann runzelte die Stirn.
„Doreen Quitschalle? Der Name sagt mir überhaupt nichts. Fällt dir gar nichts zu dem Namen ein?“ fragte Faßmann nach.
„Nein, leider wirklich überhaupt nichts. Aber wenn sie eine Freundin von Hildegard war... vielleicht hat sie tatsächlich Informationen, die uns weiterhelfen.“
„Dann ruf’ ich sie am besten gleich an“, schlug Faßmann vor und sah Anja fragend an. Sie hatte einen starren und abwesenden Blick. Die plötzliche Konfrontation mit Hildegards Tod, mit der sie eine so enge Freundschaft verbandt, hatte sie tief bewegt. Sie brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. „Anja?“, fragte Faßmann nach einem langen Moment des Schweigens nach. „Oh ja, entschuldige bitte, das wäre gut“, erwiderte sie mit brüchiger Stimme, „lass mich am besten mithören.“ Faßmann nickte verständnisvoll, zog sein neues Prepaid-Handy aus der Tasche und rief die Nummer an, die in der E-Mail angegeben war. Mit dem ersten Rufzeichen schaltete er in den Lautsprechermodus und beide beugten sich über das Handy. Es meldete sich eine Frauenstimme, kratzig und ein wenig zögerlich:
„Quitschalle“
„Hier ist Ulrich Faßmann. Ich rufe an wegen Ihrer Email.“
„Danke, dass Sie sich so schnell melden.“
Sie machte eine kurze Pause, in der man im Hintergrund das Tippen auf einer Computertastatur hören konnte.
„Herr Faßmann, Sie hatten sich vor einiger Zeit mit Hildegard Kaiser wegen eines alten Dokuments ausgetauscht, richtig?“
Nun machte Faßmann eine Pause.
„Und wenn es so wäre?“, entgegnete er sodann misstrauisch.
Quitschalle atmete hörbar aus und sagte: „Uns sind historische Unterlagen und Fotografien zugespielt worden, die im Zusammenhang mit diesem Dokument stehen.“ Anja zog scharf die Luft ein und Faßmann lief ein Schauder über den Rücken. Wieder entstand eine Pause. „Sind sie noch dran?“, fragte Quitschalle nach.
„Ja, ich bin noch dran. Darf ich fragen, was das für Unterlagen und Fotografien sind?“
„Ich kann Ihnen am Telefon nicht mehr sagen. Können wir uns kurzfristig treffen?“ „Ja, natürlich“, erwiderte Faßmann, ohne zu zögern.
„Können Sie morgen um 16 Uhr an der Kapelle des Parkfriedhofs Lichterfelde sein?“
„Ja, das kann ich einrichten. Meine Frau wird mich begleiten. Ich hoffe, das ist in Ordnung.“
„Ja, das ist in Ordnung.“
„Gut, dann treffen wir uns morgen um 16 Uhr an der Kapelle.“
„Sie müssen mir aber versprechen, dass Sie beide von unserem Treffen niemandem erzählen. Ich will Ihnen damit keine Angst machen, aber es wäre auch in Ihrem Interesse.“
„Versprochen!“
„Dann bis morgen.“
Die Verbindung wurde unterbrochen. Faßmann und Anja sahen sich einen Moment lang wortlos an. Dann sagte Faßmann: „Denkst du, was ich denke?“ „Ich denke schon“, erwiderte Anja und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Aber wenn es der Inhalt des roten Koffers ist, warum hat der Makler ihn dem Institut überlassen und aus welchem Grund will sich die Frau mit uns treffen?“ fragte sich Faßmann laut. „Es könnte vielleicht auch eine Falle sein?“, bemerkte Anja, während sie sich nachdenklich durch das Haar strich.
„Du hast recht. Wir müssen verdammt vorsichtig sein. Möglicherweise führt uns aber diese Frau geradewegs zum Makler und ist sogar unsere Chance, an die Dokumente und Fotos aus dem Koffer zu kommen.“
Anja seufzte.
„Ja, lass uns morgen nach Berlin fahren.“
Faßmann nickte bekräftigend.
„Und wenn es eine Falle ist, dann heißt das ja noch lange nicht, dass wir in sie hinein tappen müssen.“
Anja lehnte sich zurück und schaute Faßmann tief in die Augen.
„Da hast du recht. Wir müssen jedenfalls auf alles gefasst sein. Aber wir dürfen uns diese Chance nicht entgehen lassen. Es ist womöglich unsere einzige.“
Anja sprach damit aus, wovon er ebenfalls absolut überzeugt war.
Sie gingen zurück zu dem Business-Corner und verbrachten den restlichen Tag damit, alle möglichen Informationen über Doreen Quitschalle und das Institut für Zeitgeschichte in Berlin zu sammeln. Sie durchforsteten verschiedene Webseiten, Online-Archive und Foren, in der Hoffnung, irgendwelche Hinweise auf die sonstigen Aktivitäten oder Verbindungen von dieser Doreen Quitschalle zu finden. Versorgt mit Getränken und Snacks aus der Hotelbar, waren sie vertieft in ihre Recherchen. Doch als es Abend geworden war, hatten sie immer noch nichts gefunden, das sie irgendwie weitergebracht hätte, geschweige denn dass sie irgendetwas gefunden hätten, das einen Grund erkennen ließe, weshalb sich diese mysteriöse Frau mit ihnen treffen wollte. „Ich glaube, das hat keinen Sinn mehr“, sagte Faßmann.
„Ja, lass uns abbrechen und was essen gehen.“
„Gute Idee.“
Sie machten sich zu Fuß auf in Richtung der Wohnung von Steffi und Felix und wollten einfach in einem der Restaurants einkehren, die auf dem Weg lagen.
„Komisch, dass sich Malte auf die Nachricht von Felix so gar nicht gerührt hat“, sagte Anja, während sie Hand in Hand durch das abendliche Leipzig gingen.
„Stimmt. Wirklich ein bisschen seltsam.“
„Dass er auf mich sauer ist und womöglich erst recht auf dich, mag ja sein, aber Felix hätte er doch wenigstens irgendwie antworten können?“
„Da kann ich dir nur recht geben.“
„Ob ich ihn vielleicht mal anrufe?“
Die Worte trafen Faßmann im ersten Moment wie ein Schlag ins Gesicht. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Malte. Anjas Wunsch, mit Malte zu sprechen, hatte ihn augenblicklich aus der Bahn geworfen. Er blickte in ihre Augen, suchend nach einem Hinweis darauf, was sie wirklich fühlte. Anja bemerkte seinen zögerlichen Blick und fragte: „Was denkst du?“
Er rang nach Worten, versuchte, seine große Unsicherheit und Angst zu verbergen.
„Ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.“
„Sag’s einfach.“
„Mich überkommt plötzlich so eine Angst, dich wieder an ihn zu verlieren.“
Sie nahm seine Hand und drückte sie fest an sich.
„Ich verstehe deine Angst. Aber Malte war über einige Zeit Teil meines Lebens. Ich muss das sowieso irgendwann klären. Für uns beide.“
Faßmann nickte. Er wusste, dass sie Recht hatte, aber das machte die Sache nicht einfacher.
„Ich stehe hinter dir, egal wie es ausgeht. Aber versprich mir, dass du ehrlich zu dir selbst bist, zu mir und zu Malte.“
In Anjas Gesicht zeichnete sich ein Lächeln voller Zuneigung ab, während eine einzelne Träne über ihre Wange lief.
„Ich verspreche es.“
Sie umfasste Ulrichs Kopf mit beiden Händen, zog ihn sanft an sich und küsste ihn lange und innig. Er spürte in diesen Sekunden, wie groß seine Liebe zu ihr war und wie jede Faser seines Körpers nach ihrer Nähe verlangte.
„Ruf’ ihn an – jetzt gleich“, sagte Faßmann schließlich mit gedämpfter Stimme. Anja zögerte noch einen Moment, dann wählte sie Maltes Nummer. Es klingelte. Einmal, zweimal. Ihr Herz pochte. Als sie schon fast wieder auflegen wollte ...
„Reese“
„Guten Abend Malte.“
„Anja? Endlich!“
Maltes Stimme klang weder wütend noch enttäuscht, wie sie es am ehesten erwartet hätte, sondern besorgt und gleichzeitig erleichtert, endlich von ihr selbst ein Lebenszeichen zu bekommen.
„Malte... Es tut mir leid. Ich... ich weiß, ich hätte mich längst melden sollen.“
Ihre Stimme brach.
„Wo bist du denn jetzt? Gott, ich habe mir solche Sorgen gemacht! Ich dachte, dir ist was passiert.“
„Ich... Es ist schrecklich kompliziert“, sagte sie leise, blickte zu Faßmann, der sie unterstützend ansah.
„Kannst... Kannst du uns treffen? Es gibt so vieles, was ich dir sagen muss.“
„Uns? Wer ist denn noch bei dir?“
Maltes Stimme bekam plötzlich einen leicht eisigen Unterton. Sie zögerte, atmete tief durch und antwortete: „Ulrich ist bei mir.“ Ein langes Schweigen folgte. Es war, als könne man das Knistern der Spannung durch das Telefon hindurch spüren. Dann brach Malte das Schweigen. „Warum überrascht mich das nicht wirklich?“, fragte er rhetorisch. Anja antwortete mit zitternder Stimme: „Es hat sich alles anders entwickelt, als ich es erwartet hatte, Malte. Aber es ist wichtig, dass wir uns treffen und über alles reden.“ Malte seufzte hörbar. „Okay, wenn es dir so unbedingt wichtig ist. Wo und wann?“
„Hast du schon was gegessen?“
„Tatsächlich noch nicht. Wieso?“
„Wie wäre es, wenn wir irgendwo was zusammen essen und in aller Ruhe reden?“
Nach einer weiteren Pause antwortete Malte: „Na, meinetwegen. Woran hast du gedacht?“
„Sag du. Wir richten uns nach dir.“
„Hmm... Wie wär‘s mit Auerbachs Keller? Da begegnen wir am ehesten niemandem, den wir kennen.“
Anja nickte, obwohl er es natürlich nicht sehen konnte.
„Ja, okay! Wann kannst du da sein?“
„Von mir aus gleich in einer halben Stunde.“
„Alles klar. Dann bis gleich. Und danke!“
Sie legte auf. „Ich wüsste gerade nicht, ob ich es ohne dich aushalten würde“, sagte sie und sah Faßmann durchdringend an. Beide zogen sich in eine tiefe, tröstende Umarmung. Hand in Hand machten sie sich danach zu Fuß auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt.
Sie waren etwas früher am Auerbachs Keller angekommen und beschlossen daher, zunächst vor dem Eingang zu warten. Sie hielten stumm nach Malte Ausschau. Die beleuchteten Schilder des historischen Lokals warfen einen warmen Schimmer auf die Passanten, die darunter entlang gingen. Eine kleine Gruppe Touristen machte Selfies vor dem Hintergrund der imposanten Bronzestatuen von Goethes Faust und Mephisto. Von Malte noch keine Spur. Die heimelige Atmosphäre verhinderte nicht, dass Anja bebte vor Anspannung. Sie strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und versuchte, zumindest äußerlich ruhig zu bleiben. Faßmann, der ihre Nervosität spürte, drückte ihre Hand und versuchte, sie damit ein wenig zu beruhigen. Da erblickte sie ihn. Er kam die hell erleuchtete Mädlerpassage entlang, sodass sie ihn schon von weitem erkannten. Beide standen da wie angewurzelt. Als er nur noch wenige Schritte entfernt war, traf sein Blick Anjas. Ihr war klar, dass auch er von starken Gefühlen erfasst sein musste. „Anja“, sagte er leise und gab ihr zur Begrüßung die Hand. Beide waren unsicher, wie sie sich verhalten sollten, doch mit der distanzierten Begrüßung machte Malte es ihr etwas einfacher. Dann reichte Faßmann Malte die Hand. Es war ein Händedruck voller ungesagter Worte, voller Spannung und Argwohn. Sie gingen hinein und setzten sich an einen der freien Tische in der Nähe des Eingangs. Die Atmosphäre war angespannt wie vor einem Gewitter, das jederzeit losbrechen konnte. Doch irgendwie musste ja das Gespräch in Gang kommen, das sie hierher geführt hatte, dachte sich Faßmann und dass er ja nun mal der wesentliche Grund für die Anspannung war.
„Also erstmal herzlichen Dank, dass du dir so kurzfristig Zeit genommen hast und unter den gegebenen Umständen überhaupt hergekommen bist. Erlaub’ mir bitte zu sagen, dass ich das sehr zu schätzen weiß.“
„Ich bin wegen Anja hier.“, stellte Malte mit einem bissigen Unterton klar.
„Ja, natürlich.“
„Malte, es ist so viel passiert und ich bin mir sicher, dass du eine Menge sehr berechtigter Fragen hast“, begann Anja vorsichtig. Sie schaute tief in seine Augen, die voller Erwartung waren.
„Ich möchte dir alles erklären, auch warum ich mich nicht früher gemeldet habe.“
Malte erhob leicht seine Hände zu einer fordernden Geste und noch bevor Anja etwas sagen konnte, entgegnete er mit einem wütenden Dröhnen in seiner Stimme: „Nachdem ich Tage nichts von dir gehört habe, dachte ich, dir wäre etwas Schlimmes zugestoßen. Ich habe mir wirklich große Sorgen gemacht. Und dann diese lapidare Nachricht von Felix...“ Seine Augen funkelten vor Zorn.
Anja schluckte sichtlich und ihr wurde schlagartig heiß.
„Es tut mir leid. Das wollte ich nicht. Das letzte, was ich wollte, war, dich zu verletzen oder dir solche Sorgen zu bereiten.“
Ihre Stimme zitterte.
„Die Dinge sind einfach aus dem Ruder gelaufen, und plötzlich steckte ich mitten in einem Strudel aus Gefühlen und Ereignissen, die ich selbst nicht ganz begreifen konnte.“
Faßmann, der bis zu diesem Zeitpunkt schweigend beobachtet hatte, wie das Gespräch zwischen den beiden verlief, fügte hinzu: „In den vergangenen Tagen sind Dinge geschehen, die weder Anja noch ich je ahnen konnten. Dabei sind wir schließlich auch von unseren Gefühlen überrannt worden.“ „Unseren Gefühlen?“, fragte Malte, während seine zu schmalen Schlitzen verengten Augen Faßmann fixierten. Anja legte sanft ihre Hand auf Maltes Unterarm.
„Ja. Unsere. Ulrich und ich haben in dieser kurzen Zeit etwas wiedergefunden, das ich für immer verloren geglaubt hatte. Es war wirklich völlig unerwartet. Es ändert aber nichts daran, dass du ein wichtiger Mensch in meinem Leben bist.“
Malte atmete tief durch, während er Anja fragend ansah. Es schien, als würde er versuchen, in ihren Augen die Wahrheit ihrer Worte zu prüfen. Nach einer gefühlten Ewigkeit platzte es aus Malte plötzlich heraus: „Du hast kein Recht, Anja! Kein Recht, auf meinen Gefühlen so herumzutrampeln!“ Sie zuckte zusammen. Faßmann griff instinktiv nach ihrem Handgelenk, um ihr Unterstützung zu bieten, doch Malte sah ihn nur voller Zorn an. Er zog seine Hand wieder zurück.
„Du tauchst mitten in der Nacht bei uns zu Hause mit ihm auf und erzählst mir diese Horrorgeschichte von dieser ominösen Verfolgungsjagd. Dann verschwindest du spurlos, lässt mich völlig im Ungewissen und glaubst ernsthaft, eine kurze Nachricht von Felix würde das alles wieder gutmachen?“
Anja wurde bleich und ihre Hände waren nass vor Schweiß. Sie erkannte plötzlich, wie sehr sie Malte verletzt hatte.
„Malte, ich...“
„Ich bin noch nicht fertig!“ unterbrach er sie. Seine Stimme zitterte vor Erregung.
„Ich war für dich da und wollte das auch immer sein, wie du weißt. Dann das? Ich dachte, unsere Beziehung bedeutet dir etwas. Du verschwindest einfach und lässt mich halb krank vor Sorge zurück. Dann tauchst du wieder auf – mit ihm – und faselst irgendwas von euren plötzlich wiederentdeckten Gefühlen, mit denen ihr nicht gerechnet habt.“
„Malte,... es...“.
Anja wollte sich erklären, aber die Worte erstickten in den Tränen, die in ihren Augen brannten. Malte schaute kurz zu Faßmann und dann wieder zu Anja.
„Du verstehst es vielleicht wirklich nicht. Es geht nicht nur um dich und deine Gefühle, Anja. Es gibt noch einen anderen Menschen in deinem Leben, der sich Sorgen um dich macht und den du sehr verletzt hast.“
Niemand am Tisch sagte mehr ein Wort. Nur das Klirren von Gläsern, Klimpern von Besteck und Gemurmel der anderen Gäste drangen dumpf zu ihnen durch. Anja spürte, wie Schuldgefühle in ihr Bewusstsein krochen. Sie wusste spätestens jetzt, dass sie Fehler gemacht hatte und verstand, dass Malte sich tief verletzt fühlen musste. Faßmann, der spürte, dass die Situation drohte, weiter zu eskalieren, versuchte das Gespräch wieder in geordnete Bahnen zu lenken.
„Malte, ich denke, Anja versteht deinen Schmerz und deine Wut. Ich übrigens auch. Aber bitte, lass uns in Ruhe über alles reden und versuchen, das Ganze vernünftig zu klären.“
Malte atmete tief aus und fuhr sich mit zittrigen Händen über den Nacken. Er versuchte sich zu sammeln, doch man konnte ihm ansehen, wie schwer ihm dies fiel. Die ganze Anspannung und der Schmerz schienen sich in ihm aufgestaut zu haben und suchten nun ein Ventil. „Wisst ihr“, begann er, seine Stimme brach ein wenig, „ich dachte, wir hätten etwas Besonderes, Anja. Etwas, das Bestand hat. Aber ich erkenne jetzt, dass ich vielleicht nur ein weiteres Kapitel in deinem Leben war, das du einfach umblätterst, wenn es für dich zu Ende ist.“ Anja sah ihn verzweifelt an, die Tränen standen ihr in den Augen. „Malte, das ist nicht wahr. Bitte glaub mir!“ Doch er schüttelte nur den Kopf. Der Schmerz, den er in diesem Moment empfand, war kaum auszuhalten.
„Ich brauche Zeit, um das alles zu verarbeiten. Zeit, um herauszufinden, wie ich damit umgehen kann und will, Anja.“
Er warf einen kurzen, scharfen Blick zu Faßmann, als wolle er ihm noch etwas mit auf den Weg geben, doch er sagte nichts. Dann stand er auf. Seine Bewegungen wirkten ungelenk, als ob jede einzelne Faser seines Körpers sich dagegen sträubte. „Ich hoffe, irgendwann findest du das, was dir in deinem Herzen fehlt, Anja“. Das waren seine letzten Worte, bevor er sich umdrehte und zügig den Gastraum verließ.
Anja und Faßmann blieben allein am Tisch zurück. Sie fühlten sich beide mies. Anjas Augen waren gerötet und feucht. Faßmann sah sie besorgt und ohne dass er es wollte, fragend an. Die Stille zwischen ihnen war quälend. Er wollte etwas sagen, irgendwie Trost spenden, doch er fand keine Worte. Die Vorwürfe, mit denen Malte sie soeben konfrontiert und zurückgelassen hatte, lagen wie Blei in der Luft. Schließlich legte er zögerlich seinen Arm um sie, doch Anja wandte sich zurückweisend ab. Sie schüttelte sanft den Kopf und murmelte: „Bitte, Ulrich.“ Ihre Stimme war brüchig. Sie fühlte sich schuldig und war wütend über sich selbst. Die abweisende Reaktion von Anja war wie ein Stich ins Herz. Gleichwohl war Faßmann bewusst, dass er letztlich der Hauptgrund für das alles war. Er biss sich auf die Unterlippe und beobachtete Anja, die sichtlich mit sich rang. Er verstand, dass sie in diesem Moment für sich sein wollte, zumindest emotional.
Die Kellnerin näherte sich ihrem Tisch und fragte höflich, ob sie bestellen möchten. „Wir brauchen noch einen Moment,“ sagte er mit gedämpfter Stimme. Die Kellnerin bemerkte die angespannte Situation, nickte verständnisvoll und zog sich wortlos zurück. Faßmann nutzte diesen Moment, um Anja direkt in die Augen zu sehen.
„Anja, ich weiß, das ist schwer für dich. Aber wir werden das durchstehen. Gemeinsam!“
Anja schaute ihn mit tränenden Augen an, aber sie schien durch ihn hindurchzusehen. Ihre Gedanken waren in diesem Augenblick offensichtlich ganz woanders, wahrscheinlich bei Malte und den schmerzlichen Worten, die eben gefallen waren. Schließlich stand sie abrupt auf. „Ich muss kurz an die frische Luft,“ murmelte sie und eilte ohne einen weiteren Blick zu Faßmann in Richtung Ausgang.
Die frische, kühle Nachtluft, die Anja plötzlich sanft umwehte, als sie im Eingangsportal zum Auerbachs Keller stand, hatte etwas wohltuend befreiendes. Sie atmete tief durch und versuchte, die bleischweren Gefühle in sich zu ordnen. Faßmann folgte ihr nach einer Weile, hielt jedoch Abstand. Er lehnte sich an die raue Sandsteinmauer des wuchtigen Portals und schaute in den nächtlichen Himmel, als wartete er von dort auf eine erlösende Antwort. Nach einigen stillen Minuten trat er vorsichtig an ihre Seite.
„Anja, ich weiß, das ist alles gerade unglaublich schwer, schwerer als ich es mir vermutlich vorstellen kann. Aber morgen haben wir eine wichtige Verabredung in Berlin, mit dieser Doreen Quitschalle. Wollen wir den Tag nicht beenden und schlafen gehen?“
Anja seufzte tief, und stieß schließlich ein knappes „Okay“ aus. Dann machten sie sich auf den Weg zurück zur Wohnung von Steffi und Felix. Sie gingen schweigend nebeneinander her, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft.
Als sie die Wohnungstür mit dem Zweitschlüssel, den sie bekommen hatten, öffneten, wurden sie von Steffis sanfter Stimme begrüßt, die aus dem Wohnzimmer kam.
„Hey ihr beiden, wie war euer Tag?“
„Oh, ihr seid noch auf“, sagte Anja überrascht und darum bemüht, ihre insgeheime Hoffnung zu verbergen, in ihrem Gemütszustand den beiden Freunden heute nicht mehr zu begegnen. Noch bevor sie auf die eigentliche Frage antworten konnten, legte Felix, der neben Steffi stand, sanft seinen Arm um sie und sagte: „Ich fürchte, heute ist nicht so der richtige Tag für einen Mondscheinplausch.“ Nun erkannte auch Steffi die Anspannung in ihren Gesichtern und sagte.
„Es ist bei euch ja ganz schön spät geworden. Also wir müssen auch morgen leider wieder ziemlich früh raus. Vielleicht ist es das Beste, wenn wir alle zu Bett gehen.“
Anja lächelte schwach und war heilfroh um Steffis einfühlsamen Vorschlag: „Ja, Steffi, lasst uns alle ins Bett gehen. Es war ein sehr langer und aufreibender Tag.“ Faßmann nickte zustimmend und fügte hinzu: „Ja, und wir müssen morgen früh nach Berlin. Wir haben dort ein wichtiges Treffen und werden auch über Nacht in Berlin bleiben.“ Steffi und Felix tauschten einen fragenden Blick aus, doch sie merkten, dass den beiden in diesem Moment nicht danach war, mehr darüber zu erzählen. „Verstehe“, sagte daher Felix knapp. „Wenn ihr irgendetwas braucht... .“ „Danke“, unterbrach ihn Anja, „euch beiden Danke für alles! Es tut gut, euch als Freunde zu haben.“
Die Gedanken an den kommenden Tag und die ungewisse Reise nach Berlin ließen sie noch eine Weile wach liegen. Faßmann hoffte insgeheim, dass die Gedanken über das bevorstehende Treffen mit dieser mysteriösen Doreen Quitschalle Anja ein wenig von der heutigen Begegnung mit Malte ablenken würden. Beide lagen in der Dunkelheit des kleinen Gästezimmers und suchten nach innerem Frieden. Bevor der Schlaf sie schließlich übermannte, bemerkte Faßmann, wie Anjas Hand die seine suchte und festhielt. In diesem Moment spürte Faßmann eine unglaubliche Erleichterung und schlief kurz darauf ein.