Kapitel XXIX
Der Schlussstein

Das Ziel schien nun für alle zum Greifen nah. Nur Eberhardt Steinbach hatte noch nicht erkannt, dass dies vor allem auch für ihn galt. Es war wie ein verborgenes Talent, das schon sein ganzes Leben lang unerkannt in ihm schlummerte und nur die Gelegenheit für seine Entfaltung bisher fehlte. Ließ er sich doch damals mit der ODESSA nur ein, um zu verhindern, dass in ihren Reihen Subjekte die Macht ergreifen, die ohne jeden Skrupel zur Durchsetzung ihrer Interessen Gewalt als ein legitimes Mittel ansehen und eine obskure menschenverachtende Ideologie Ihnen das Recht dazu gibt.

Ein Hauch von Triumph mischte sich unter Lorenzis Zuversicht, obwohl er wusste, dass das Schicksal bis zum letzten Moment Überraschungen bereithalten konnte. Er blickte unauffällig auf seine Armbanduhr. „Der Zeitpunkt könnte nicht besser sein“, dachte er sich, denn jeden Moment sollte der letzte Beteiligte eintreffen. Es war bereits wenige Minuten nach dem vereinbarten Zeitpunkt, es sollte also jeden Augenblick soweit sein. „Wir erwarten jeden Moment noch den Vertreter des Heiligen Stuhls“, sagte Lorenzi und gab sich betont gelassen, während ihm die anderen voller Spannung ansahen.

Als jedoch weitere Minuten verstrichen und niemand auftauchte, stieg in allen Unruhe auf. Vor allem Lorenzi wurde nervös, da der betreffende für seine fast pedantische Pünktlichkeit bekannt war. Mit jeder weiteren Sekunde, die verstrich, spürte Lorenzi seinen Herzschlag heftiger. Könnte sein Plan jetzt doch noch scheitern? An die Folgen wagte er nicht zu denken.

Dann zerriss ein knarrendes Geräusch die mittlerweile erdrückende Stille: eine alte schwere Holztür neben dem Altar wurde mit bedächtiger Langsamkeit geöffnet und es erschien im Halbdunkel eine in ein Mönchsgewand gekleidete Gestalt, die Kapuze tief über den Kopf gezogen. Alle starrten gebannt in ihre Richtung und Lorenzi fragte sich, ob es die Person war, die er erwartet hatte. Er zweifelte wegen des merkwürdigen und an sich völlig unpassenden Gewandes. „Es könnte aber auch nur ein Täuschungsmanöver sein, um die wahre Identität zu verschleiern“, dachte er sich und setzte augenblicklich seine ganze Hoffnung darauf. Doch als die Gestalt langsam näher trat und die Kapuze mit einer theatralischen Geste langsam zurücklegte, verschwand jeder Zweifel. Es war der Mann, den er so eindringlich gebeten hatte, zu kommen. Die anderen brauchten noch einen kurzen Moment um zu erkennen, wer da vor ihnen stand. Auch sie waren von dem äußerst ungewöhnlichen Aufzug in die Irre geleitet. Doch dann erkannten sie das markante Gesicht, das inzwischen fast jeder Mensch auf dieser Welt schon einmal gesehen hatte. Sie blickten in die tiefliegenden, stahlblauen Augen des Papstes und sie beschlich unweigerlich ein Gefühl der Ehrfurcht vor dem Oberhaupt der katholischen Kirche, mit dem sie in diesem Moment zuletzt gerechnet hatten. Die unerwartete Anwesenheit des Papstes erfüllte die Situation sofort mit einer unausweichlichen Erhabenheit und es war, als würde die Zeit für einen Moment stillstehen. In diesem Augenblick dachte sich Lorenzi, dass nun alle Puzzleteile ihren vorbestimmten Platz gefunden hatten und nun die abschließende Phase des Vorhabens beginnen
konnte.

Lorenzi trat behutsam einen Schritt vor, seine Augen fest auf den Papst gerichtet. Er versuchte in seinem Gesichtsausdruck die große Erleichterung zu verbergen, die in ihm schlagartig aufgestiegen war, als er gewiss sein konnte, dass der Papst in dem Mönchsgewand steckte. „Eure Heiligkeit, wir sind zutiefst geehrt durch Ihre Anwesenheit,“ begann er und vollzog den traditionellen Kniefall. Er küsste tief verneigt den päpstlichen Fischerring und erhob sich anschließend bewusst langsam wieder. Lorenzi vollzog das Zeremoniell mit besonderer Sorgfalt und theatralischer Intensität. Jeder im Raum sollte keinerlei Zweifel an der Macht des Papstes haben. Er wollte, dass alle sofort verstanden: Vor ihnen stand nicht nur das Oberhaupt der katholischen Kirche mit über einer Milliarde Gläubigen, sondern auch die Verkörperung einer zweitausendjährigen Autorität. Es sollte kein Raum für Fehlinterpretationen bleiben: Von dem Mann, dessen Ring er eben so ehrfurchtsvoll küsste, hingen nun die kommenden Ereignisse ab.

Papst Linus ließ das Ritual eher widerwillig über sich ergehen und fixierte Lorenzi anschließend mit einem wütenden Blick. „Ich war der Annahme, unser Treffen wäre eine persönliche Angelegenheit, Lorenzi,“ sagte er mit messerscharfer Eindringlichkeit.

„Ich sehe jedoch, dass Sie die Einladung... erweitert haben, Eminenz.“

In der Aussprache des Titels von Lorenzi schwang eine gewisse Verachtung mit und die Luft im Raum schien für einen Moment zu gefrieren. Faßmann, Anja und Steinbach spürten das erhebliche Missfallen des Papstes über ihre Anwesenheit. „In der Tat, Eure Heiligkeit,“ erwiderte Lorenzi. „Die Umstände erforderten die Erweiterung unserer Zusammenkunft um die hier Anwesenden. Ich bitte um Ihre gütige Nachsicht und die Möglichkeit, es zu erklären.“

Der Gesichtsausdruck des Papstes blieb hart, aber in seinen Augen blitzte für einen winzigen Augenblick etwas auf, das Lorenzi nicht sofort einordnen konnte. War es Neugier? Skepsis? Ablehnung? Oder vielleicht doch ein Hauch von Anerkennung? Was auch immer es war, die nächste Phase seines Plans musste nun beginnen, und Lorenzi hoffte inständig, dass er die komplexe Gleichung, die vor ihm lag, richtig gelöst hatte.

„Heiliger Vater“, begann Lorenzi, wobei er kurz innehielt, als suchte er nach den präzisesten, aber gleichzeitig angemessensten Worten für das, was folgen sollte. „Es geht um eine Angelegenheit von höchster Sensibilität. Es geht um die Lateranverträge und, wenn ich es so ausdrücken darf, um die damals vertraulichen Übereinkünfte zwischen dem Vatikan und Benito Mussolini.“

Der Papst neigte den Kopf leicht zur Seite, während sich seine Augen verengten. Trotz seiner jahrzehntelangen Übung in diplomatischer Zurückhaltung konnte er nicht ganz verbergen, dass ihn Lorenzis Worte völlig unerwartet wie ein eiskalter Schauder durchfahren hatten. Dass Lorenzi von den Übereinkünften mit Mussolini wusste, war für ihn schon beunruhigend genug, dass dieses Wissen aber seine drei merkwürdigen Begleiter ganz offensichtlich mit ihm teilten, war noch viel besorgniserregender.

Der Papst verschränkte die Hände vor sich, als wolle er durch diese Geste eine physische Barriere zwischen sich und den anderen errichten. „Kardinal Lorenzi“, zischte er, „Es überrascht mich sehr unangenehm, dass Sie nicht allein gekommen sind und es beunruhigt mich, dass Sie in Anwesenheit Ihrer mir völlig unbekannten Begleiter von einer Angelegenheit sprechen, die ungeachtet ihrer Relevanz nur innerhalb des Vatikans zu erörtern wäre.“ Er machte eine kurze Pause und blickte jeden der Anwesenden einzeln an. Sein Blick war wie ein Skalpell, das die Motive seiner Gegenüber zu sezieren versuchte. Er war es gewohnt, dass er in solchen Gesprächen der unbestrittene Souverän war, der allein die Kontrolle über alles und jeden hatte. Es entsprach seinem Selbstverständnis, dass sein Wort das letztgültige war. Doch in diesem Moment spürte er, dass ihm diese Kontrolle entglitt und das Gefühl war ihm fast unerträglich. Sein Blick wanderte zurück zu Lorenzi, und er konnte nicht verbergen, dass hinter der Maske der päpstlichen Autorität nun auch glühender Zorn brodelte.

„Sie setzen mich einer völlig inakzeptablen Situation aus“, fuhr er fort, wobei er seine Stimme nun leicht erhob. „Dies ist nicht die Art und Weise, wie die Kirche ihre Angelegenheiten klärt, geschweige denn solche. Das sollten Sie eigentlich als Kardinal wissen. Ich erwarte eine Erklärung! Und es sollte in Ihrem Interesse eine gute sein.“

Faßmann konnte sich nun nicht mehr zurückhalten. Die angespannte Stille, die nach den tosenden Worten des Papstes den Raum erfüllte, zerschnitt er mit einem sich entladenden Gefühlsstau aus Empörung und Frustration: „Eure Heiligkeit, mit allem gebührenden Respekt, aber Sie scheinen nicht zu begreifen, um was es hier geht. Es handelt sich nicht nur um eine ‘interne Angelegenheit’ des Vatikan, sondern um das Schicksal unzähliger Menschen, die unter den Taten Ihrer Kirche unsäglich gelitten haben!“ Sein Tonfall war ebenso schneidend und seine Worte verrieten eine kaum zu bändigende, persönliche Wut, die sich über Jahrzehnte aufgestaut hatte.

„Sie reden von einer inakzeptablen Situation? Wissen Sie überhaupt, wie restlos inakzeptabel die tausenden Situationen waren, in denen Ihre Priester und Seelsorger wehrlose 14-jährige und sogar kleine Kinder missbraucht haben? Wissen Sie, wie viele Leben Ihre Kuttenträger dadurch ruiniert und zerstört haben? Und Sie decken diese Perversen und vertuschen Ihre abscheulichen Taten. Und wofür? Damit Ihr Altherrenclub seinen guten Ruf und vor allem seine Macht behalten kann!“ In Faßmanns Augen brannte das Feuer der aufgestauten Wut, die in diesem Moment unkontrollierbar aus ihm herausbrach. Er bebte vor Erregung und sein Herz schlug ihm bis zum Hals.

„Ich habe es selbst erlebt – immer und immer wieder. Ihre Leute haben mich für ihre niedersten Triebe missbraucht. Sie haben mich benutzt, wie ein wehrloses Tier für eine perfide Opferzeremonie. Sie haben ja keinen blassen Schimmer von den Albträumen, die mich bis heute immer wieder heimsuchen. Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, wie es ist, wenn man sich schmutzig und besudelt fühlt und keine Chance hat, diesen abscheulichen Dreck von sich je abzuwaschen.“

Faßmann merkte, wie er sich zunehmend in Rage redete und drohte, vollends die Fassung zu verlieren.

„Wenn Sie nicht bereit sind, wenigstens anzuhören, was Ihnen Kardinal Lorenzi vorzuschlagen hat, dann sind Sie keinen Deut besser als diejenigen, die unschuldige Kinder und Jugendliche zur Befriedigung ihrer Geilheit gequält haben.“ Faßmann spürte, dass die Wogen seiner aufgepeitschten Gefühle drohten, über ihm zusammenzuschlagen. So zwang er sich, innezuhalten. Als der erste klare Gedanke wieder durch seinen aufgewühlten Geist brach, erfasste ihn die Angst, dass er zu weit, möglicherweise viel zu weit gegangen war. Doch es war zu spät, irgendetwas zurückzunehmen.

Nie zuvor hatte jemand es gewagt, dem Papst mit einer derart despektierlichen Vehemenz entgegenzutreten. Selbst in seinen Jahren als Kardinal und Präfekt der Glaubenskongregation hatte er eine solche Verletzung der sakralen Hierarchie nicht erlebt. „Wie konnte dieser Mann es nur wagen, sich derart gegenüber dem Papst zu gebärden?“, dachte der Papst sich. Er war so aufgebracht, dass er außerstande war, den Inhalt von Faßmanns Worten zu erfassen. Es war, als würden die Worte wie scharfe Giftpfeile auf ihn einprasseln, die sein bisheriges Selbstverständnis mit jedem Stich weiter verletzten.

Der Papst schien nach Worten zu suchen, deren Gewicht dazu geeignet war, ihm in diesem Moment die unveräußerliche Autorität seines Amtes wieder zurückzugeben. Plötzlich presste er die Lippen zusammen und seine Augen verengten sich. Sein Gesicht, eben noch gerötet vor Erregung, verfärbte sich aschgrau. Er zog die Luft zwischen den nun vor Schmerzen zusammengepressten Zähnen ein und drückte mit den Fingerspitzen beider Hände auf sein Brustbein. Schlagartig schien jede Bewegung und jedes Geräusch im Raum wie eingefroren. Sein Atem stockte und sein Mund öffnete sich, als wollte er einen Schrei ausstoßen, der jedoch in seiner Kehle stecken blieb. Er spürte, wie sich der Schmerz in seiner Brust, der ihn so plötzlich erfasst hatte, nun rasch zu einem unerträglichen Druck ausweitete. Er fing an, leicht zu taumeln und drohte, das Gleichgewicht zu verlieren. Da lösten sich seine Hände von der Brust und suchten instinktiv nach Halt, doch im nächsten Augenblick sackte er zusammen und fiel. Lorenzi sprang auf ihn zu und wollte ihn halten, doch es war zu spät. Mit einem fürchterlichen dumpfen Geräusch schlug sein Körper auf dem Marmorfußboden der Kapelle auf.

Alle starrten entsetzt auf den am Boden liegenden Papst, dessen Körper nur noch schwach unkontrolliert zuckte. Sie brauchten eine Weile, um vollends zu begreifen, was soeben geschehen war. Faßmann beschlich trotz seines Zorns und seiner Verachtung sofort ein beklemmendes Gefühl. Hatte seine Konfrontation den Papst so weit gebracht? Trifft ihn die Schuld am Zusammenbruch dieses Mannes? Lorenzi war der Erste, der sich aus seiner Schockstarre zu lösen vermochte. Mit einem Ausdruck tiefer Besorgnis auf seinem Gesicht kniete er sich neben den Papst und versuchte, seinen Puls zu fühlen. Dann legte er ihn, so gut es ging, in eine stabile und mutmaßlich erträgliche Position. Danach richtete er sich wieder auf. Er wandte sich an die drei, die immer noch wie versteinert um ihn und den regungslos am Boden liegenden Papst herumstanden: „Verschwindet – sofort!“, zischte er mit einem ultimativ fordernden Blick. Doch er sah nur in völlig regungslose Gesichter und erkannte, dass er präziser werden musste.

„Eberhardt, führen Sie die beiden durch den Tunnel in die Kirche der Barmherzigkeit zurück. Ich melde mich, sobald ich den Papst in medizinische Obhut gebracht habe. Los, jetzt geht schon!“

Nun ergriff Eberhardt die Initiative. „Kommen Sie“, sagte er zu Faßmann und Anja, während er seinen Weekender anpackte und wieder in Richtung der kleinen Tür ging, die kaum zu erkennen in ein riesiges Wandgemälde eingebettet war, das einen großen goldfarbenen Vorhang darstellte. Die Tür schien beinahe in der Wand zu verschwinden. Nur ihre dunklen Konturen deuteten darauf hin, dass sich hier ein Zugang befand und tatsächlich dahinter der Tunnel, über den er vorhin gekommen war. Er tastete die Tür eilig mit seinen Augen ab, da sie keine Türklinke hatte. Dann entdeckte er eine winzige Vertiefung, in die gerade so drei Finger passten, um sie aufzuziehen. Er zögerte keinen Moment und riss die Tür auf. Als er bereits einige Schritte in den Tunnelschacht hineingegangen war, drehte er sich zu Faßmann und Anja um. „Folgen Sie mir!“, rief er ihnen zu. Faßmann und Anja sahen sich für einen Augenblick fragend an. Wortlos beschlossen sie, der Aufforderung zu folgen, auch wenn ihnen alles andere als wohl dabei war.

Nach wenigen Metern umhüllte sie die beklemmende, absolute Dunkelheit des Tunnels. Eberhardt ging voran, seine Handy-Taschenlampe im Anschlag, während Anja und Faßmann ihm dicht folgten. Er spürte ihren schnellen Atem im Genick. Mit jedem Schritt, mit dem sie tiefer in den Tunnel vordrangen, fühlte sich die Situation unwirklicher an. Anja zog ihren Mantel enger, um sich vor der feuchten Kälte zu schützen. Faßmanns Gedanken kreisten um Lorenzi und den Papst, die sie zurückgelassen hatten. Er hoffte, dass Lorenzi in der Lage war, dem Papst noch rechtzeitig medizinische Hilfe zu verschaffen. „Wie lange sind wir denn hier noch unterwegs?“, fragte Faßmann nach einer Weile. „Ich denke, etwas mehr als die Hälfte haben wir hinter uns“, erwiderte Steinbach und ging unbeirrt weiter.

Lorenzi lief so schnell er konnte zu einer großen Flügeltür, die zu einem der prächtigen Vorräume der sixtinischen Kapelle führte. Er riss die Tür auf und rannte in den Raum hinein. In dessen Mitte winkte er ausladend mit beiden Armen, so, wie man sich jemandem aus großer Entfernung bemerkbar macht. Er wusste, dass in diesem Raum durch diskret installierte Bewegungsmelder sofort ein stummer Alarm ausgelöst wird, wie in allen Räumen, die zur Sixtinischen Kapelle führen. Nur in der Kapelle selbst hat man auf die Installation einer derartigen Sicherungsmaßnahme verzichtet, da es durch die Größe und Geometrie des Raums fortlaufend zu einem Fehlalarm gekommen wäre. Der Zugang über den schmalen Tunnel ist zwar ein gut behütetes Geheimnis, dennoch ist die kleine Metalltür in der Kirche der Barmherzigkeit ebenfalls alarmgesichert. Lorenzi hatte die dortige Alarmanlage allerdings in Vorbereitung auf das Zusammentreffen deaktivieren lassen.

Es dauerte tatsächlich kaum eine Minute und mehrere Soldaten der Schweizer Garde stürmten den Raum. Ihr Anführer hätte beinahe Lorenzi zu Boden gerissen, doch im letzten Moment erkannte er den Kardinal. Noch bevor er nach einer Erklärung fragen konnte, ergriff Lorenzi das Wort: „Der heilige Vater ist in der sixtinischen Kapelle zusammengebrochen. Sie müssen sofort einen Notarzt rufen!“ Ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde zu zögern, nahm der Gardist sein Funkgerät.

„Zentrale, hier Ziegler“, sprach er mit fester Stimme in leichtem Schweizer Akzent in das Gerät.

„Wir haben einen Code ‘Petrus’ in der Kapelle. Wiederhole, Code ‘Petrus’ in der Kapelle. Benötige medizinische Unterstützung, sofort!“

„Verstanden, Code ‘Petrus’ bestätigt. Schicke sofort medizinische Hilfe.

„Ich halte Position. Aber beeilt euch!“

Der Gardist steckte eilig sein Funkgerät wieder in den Halfter an seinem Gürtel und ließ sich zum Papst bringen. Auch er fühlte den Puls des Papstes und kontrollierte seine Atemfrequenz. Beides war kaum noch wahrnehmbar. Sein Gesicht legte sich in Sorgenfalten. „Verdammt, wo bleiben die nur“, murmelte er, während er kontrollierte, dass alle Zugänge geöffnet waren.

Dann ertönte in der Ferne endlich das rettende Signal in Gestalt der Sirene des Krankenwagens aus dem nahegelegenen Hospital ‘Ospedale Santo Spirito’. Wenige Sekunden später kamen zwei Sanitäter in signalfarbenen Uniformen im Laufschritt in die Kapelle und hievten den Papst mit wenigen professionellen Handgriffen auf die mitgebrachte Bare. Nach einer ersten Notversorgung und Stabilisierung seines Zustandes, eilten sie ohne ein überflüssiges Wort mit dem in Lebensgefahr schwebenden Mann davon. Kurz darauf ertönte wieder die Sirene, die schnell leiser wurde und in der Ferne verschwand.

Lorenzi machte sich zu Fuß auf zu dem nahegelegenen Hospital, in das der Papst gebracht wurde. Die gut 20 Minuten Fußweg durch das nächtliche und zu dieser Zeit etwas ruhigere Rom taten ihm trotz des schrecklichen Ereignisses gut. Es bot ihm Gelegenheit, seine Gedanken ein wenig zu sortieren und zu überlegen, wie es nun weitergehen könnte. Dort angekommen, erkundigte er sich nach der Station, auf der der Heilige Vater lag. Man machte ihm klar, dass der Papst derzeit keinen Besuch empfangen dürfe, absolut egal, von wem. Dennoch ließ sich Lorenzi nicht gänzlich abweisen. Er wollte im Besucherbereich warten, bis die Ärzte etwas zu seinem Zustand sagen konnten. So ging er auf die Intensivstation und setzte sich auf eine der unbequemen Metallbänke, die in dem von grellen Neonröhren erhellten Flur standen. Nur das Brummen eines gekühlten Snackautomaten war zu vernehmen.

Als einige Zeit vergangen war, hörte er Schritte und Stimmen. Dann sah er aus der Ferne, wie drei Gestalten den Flur entlang auf ihn zukamen. Er hoffte, dass es Ärzte waren, die ihm Auskunft über den Gesundheitszustand des Papstes geben konnten. Doch als er erkannte, wer da auf ihn zukam, gefror ihm das Blut in den Adern. Es war der Propst und Chef des vatikanischen Geheimdienstes. Er wurde begleitet von zwei Ärzten, die mit ihren wehenden weißen Kitteln links und rechts wie Adjutanten neben ihm her liefen. Er wandte sich ab und vergrub sein Gesicht so gut und unauffällig es ging in seinem rechten Arm, mit dem er sich auf die Lehne der Bank stützte und so tat, als würde er ein Nickerchen machen. Die drei Männer gingen eilig und ohne ihn zu bemerken, zielstrebig in eines der Patientenzimmer. Lorenzi war sofort klar, dass es nur das Zimmer sein konnte, in dem der Papst lag.

Endlich kam die kleine Metalltür in Sicht, die zur Krypta der Kirche der Barmherzigkeit führte. „Wir haben es geschafft“, sagte Steinbach. Er blieb für einen Moment vor der Tür stehen und atmete tief durch, als wollte er die Last der jüngsten Ereignisse in dem Tunnel zurücklassen. Er bat Faßmann, die Tür auszuleuchten, damit er die Türklinke finden konnte, um sie zu öffnen. Steinbach drückte den rostigen Griff nieder, schob die Tür langsam auf und ging in die immer noch durch die altersschwachen Wandlampen dämmrig beleuchtete Krypta. Faßmann und Anja folgten ihm vorsichtig. Mit bedächtigen Schritten betraten sie nacheinander die Krypta. Faßmann und Anja waren beeindruckt von den prächtigen Steinsärgen, von denen sie nun umgeben waren.

Steinbach ließ seine Reisetasche zu Boden sinken und drehte sich zu Faßmann und Anja um. „So, und was jetzt?“, fragte er mit leicht unsicherer Stimme, da er Faßmann und Anja noch kaum kannte und nicht einzuschätzen vermochte, wie weit er ihnen vertrauen konnte. „Wir müssen zunächst einen sicheren Ort finden und warten, bis sich Lorenzi meldet“, entgegnete Faßmann entschlossen. Steinbach sagte für einen Moment nichts und man sah ihm an, wie ihm der Vorschlag von Faßmann durch den Kopf ging. „Und ich denke, einen solchen Ort zu kennen“, ergänzte Faßmann sogleich und dachte dabei an Don Emilio, der ihnen sicher trotz der späten Stunde Unterschlupf gewähren würde. Faßmann war sich auch sicher, den Weg dorthin wiederzufinden. „Und was wäre das für ein Ort?“, fragte Steinbach skeptisch nach.

„Es ist bei einem guten alten und vor allem vertrauenswürdigen Freund von Kardinal Lorenzi.“

Wieder sagte Steinbach zunächst nichts und wieder war nicht zu übersehen, wie er diese zusätzliche Information für sich abwog. Dann richtete Steinbach seinen Kopf auf, stieß die Luft aus und sagte: „Also schön, auf zu diesem alten Freund von unserem alten Freund.“ Steinbach huschte ein Lächeln über das Gesicht, nachdem er dieses Wortspiel aussprach.

Steinbach hob seine Tasche wieder auf und ging in Richtung der kleinen Holztür, die zum Altarraum führt. Er drückte die Klinke nieder und zog an der Tür, aber sie ließ sich nicht öffnen. Er vermutete, dass sie klemmte und zog fester, aber sie gab immer noch keinen Millimeter nach. Ein Hitzeschwall durchfuhr ihn. „Das kann doch jetzt nicht wahr sein“, murmelte er. Der Gedanke, dass sie in der Krypta gefangen sein könnten, drängte sich in sein Bewusstsein. Der Raum mit seinem niedrigen Spitzgewölbe wirkte plötzlich noch beklemmender. Er hatte noch nicht ganz von der offensichtlich verschlossenen Tür abgelassen, da hörte er, wie plötzlich die kleine Metalltür zu dem Tunnel krachend ins Schloss fiel. Im allerersten Moment dachte er, dass es – warum auch immer – Faßmann oder Anja waren. Er fuhr herum und sah aber, dass Faßmann und Anja unverändert in seiner Nähe standen und ebenso mit Entsetzen auf die zugeschlagene Tür starrten. Ohne ein Wort und einen Moment zu zögern, rannte er zu der Tür, drückte die Klinke nieder und versuchte, sie wieder aufzustoßen. Nichts! Er wich einen Schritt zurück und rammte sodann sein gesamtes Körpergewicht mit der Schulter so fest er konnte gegen die Tür. Wieder nichts! Irgendjemand hatte die Tür vom Tunnel aus verschlossen. Er drehte sich zu Faßmann und Anja um und blickte in ihre angsterfüllten Gesichter.

Während sie sich schweigend gegenüberstanden, jeder in der Hoffnung, beim anderen den Funken einer Idee zu entdecken, wie man hier herauskommen könnte, durchschnitt plötzlich ein scharfes Zischen die Stille. Es klang, als würde die Luft aus einem kaputten Reifen entweichen. Alle suchten mit ihren Augen die Quelle des merkwürdigen Geräuschs. Da stieg zwischen zwei Steinsärgen weißer Rauch auf. Ein Geruch, der an überreifes Obst erinnert, verbreitete sich. Eberhardt hielt seine Armbeuge vor Mund und Nase und ging zu der Stelle, von der der Rauch aufstieg. Er blickte auf eine Metallbox, die etwa die Ausmaße eines Schuhkartons hatte. In der Mitte befanden sich kreisrund angeordnet mehrere Löcher, was an Aussparungen für einen Lautsprecher erinnerte. Dort strömte mit hohem Druck der übel riechende Rauch aus.

Als Eberhardt näher an die Metallbox herantrat, um sie genauer zu betrachten, spürte er, wie ihm schwindelig wurde. Seine Beine fühlten sich plötzlich schwer und wackelig an, als würde er sich auf einem Schiff in schwerer See befinden. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Die Ränder seines Blickfeldes verschwammen, und er rang nach Luft. Obwohl er nun noch mehr versuchte, nur durch seine Armbeuge zu atmen, konnte er das unangenehme, süßliche Aroma nicht herausfiltern. Im Versuch, wieder mehr Abstand von dem merkwürdigen Gegenstand zu gewinnen, stolperte er und fiel zu Boden. Faßmann rief alarmiert seinen Namen und eilte zu ihm. Doch kaum hatte er die ersten Schritte gemacht, packte auch ihn die Übelkeit. Er versuchte, sich an einer der Säulen festzuhalten, doch seine Hände fanden keinen Halt. Er taumelte, sein Blick wurde trüb, und er sank auf die Knie. Anja, die alles mit ansah, spürte, wie ihr Herz wild hämmerte und Panik in ihr aufstieg. Sie hielt sich einen Teil ihres Mantels vor das Gesicht, um sich vor dem Rauch zu schützen, der inzwischen beinahe den ganzen Raum ausfüllte. Sie wollte Ulrich zur Hilfe eilen, schreien, warnen, doch auch sie wurde schließlich von dem stechenden Rauch überwältigt. Ihre Augen flackerten, ihre Gedanken verschwammen und mit einem letzten verzweifelten Blick auf Faßmann verlor auch sie das Bewusstsein und sank unsanft auf den Steinboden der Krypta.

Bereits nach wenigen Minuten öffnete sich die Tür des Krankenzimmers wieder und der Propst kam in Begleitung einer der beiden Ärzte wieder heraus. Die beiden Männer kamen geradewegs auf Lorenzi zu. Da stand er auf, wandte sich zu dem gekühlten Snackautomaten und tat so, als würde er sich mit der Auswahl beschäftigen. Wieder wurde von ihm keinerlei Notiz genommen. Er schloss kurz die Augen und atmete erleichtert aus. Dann beobachtete er die beiden Männer aus dem Augenwinkel, wie sie den Gang entlang gingen. Als sie am Ende des Flurs um die Ecke bogen, folgte er ihnen. Er beschleunigte seine Schritte, um den Propst nicht zu verlieren. Als er ebenfalls um die Ecke gebogen war, konnte er den Propst allerdings nicht sehen. Er ging den Flur fast im Laufschritt bis zum Treppenhaus, in dessen Mitte nachträglich ein Fahrstuhl eingebaut war. Er hörte, wie der Fahrkorb abwärts fuhr und stürmte augenblicklich die Treppen hinunter, wobei er auf dem letzten Treppenabsatz vor dem Erdgeschoss abrupt stehen blieb, als er sah, dass sich die Fahrstuhltür öffnete. Im Lichtschein aus dem offenen Fahrkorb erkannte er den Propst. Er war nun allein und ging über die beleuchtete Vorfahrt zum Eingangstor, das den Gebäudekomplex von der Straße trennte. Mit größtmöglichem Abstand folgte er ihm. Er schwenkte nach rechts auf den Gehweg ein und ging mit schnellen, festen Schritten die Straße entlang. Lorenzi folgte ihm mit genügend Abstand, um nicht aufzufallen, während er gleichzeitig versuchte, mit dem raschen Tempo Schritt zu halten. Der Propst holte sein Handy hervor und fing an zu telefonieren. Lorenzi fühlte sich durch die offensichtliche Konzentration auf das Telefonat einigermaßen sicher, nicht bemerkt zu werden.

Doch auf einmal warf der Propst einen flüchtigen Blick über seine Schulter. Kurz darauf lief er noch schneller und Lorenzi blieb nichts anderes übrig, als ebenfalls noch schneller zu gehen, wollte er den Propst nicht aus den Augen verlieren. Beide waren nun so gut wie im Laufschritt. Dann blieb der Propst plötzlich stehen und drehte sich um. Lorenzi erschrak und stoppte im gleichen Moment. Ihre Blicke trafen sich. Sie standen sich für einen Moment lauernd gegenüber wie zwei Duellanten. Dann kam der Propst langsam auf Lorenzi zu und blieb etwa zwei Meter vor ihm stehen. Beide atmeten schwer.

„Was soll das, Kardinal Lorenzi? Warum verfolgen Sie mich mitten in der Nacht?“

„Was haben Sie mit dem Heiligen Vater vorhin im Krankenhaus besprochen? Was für einen Auftrag haben Sie bekommen?“, fragte Lorenzi mit eindringlicher Stimme, seine Augen fest auf die des Propstes gerichtet. Der Propst, sichtlich überrascht und etwas verunsichert, wich einen Schritt zurück und versuchte, seine Fassung zu behalten. „Das geht Sie weiß Gott nichts an“, erwiderte er mit betonter Entrüstung, wobei seine Stimme leicht zitterte.

„Sie wissen doch ganz genau, dass ich Ihnen unter keinen Umständen etwas sagen werde.“

Nun trat Lorenzi einen Schritt näher und sah ihm weiter tief in die Augen. „Hören Sie gut zu“, warnte er eindringlich, „wenn Sie, oder irgendjemand aus Ihrem Gefolge, versuchen sollte, Ulrich Faßmann, seine Frau Anja oder Eberhardt Steinbach oder sonst jemanden zu schaden kommen zu lassen, dann, das verspreche ich Ihnen, werden Sie es bereuen.“ Für einen Moment stand der Propst mit weit aufgerissenen Augen wie versteinert vor Lorenzi. Eine derart unverhohlene Drohung durch einen Kardinal seiner Kirche lag außerhalb seiner Vorstellungskraft. Dann brach der Propst den Blickkontakt ab, wandte sich um und setzte seinen Weg mit hastigen Schritten fort, während Lorenzi ihm nachsah. Lorenzi fragte sich, ob er etwas erfahren hätte, wenn er zurückhaltender geblieben wäre. Doch dann kam ihm die Erkenntnis, dass, egal wie er es angestellt hätte, der Propst aufgrund seines Amtseids wohl tatsächlich niemals etwas aus dem Gespräch mit dem Papst preisgegeben hätte. Er musste sich eingestehen, dass es ein sinnloses Unterfangen war, dem Propst nachzustellen.

Nachdem nun unumstößlich klar war, dass diese Nacht zu Ende gehen würde, ohne dass das Ziel erreicht wurde, das so zum Greifen nahe schien, beschloss Lorenzi, sich nun endlich bei Faßmann und Steinbach zu melden. Er holte sein Handy hervor und wählte zuerst Faßmanns Nummer. Nach mehreren Rufzeichen nur die Mailbox-Ansage. Sofort versuchte er es bei Steinbach, doch auch bei ihm nur die emotionslose digitale Ansage der Mailbox. Ein beklemmendes Gefühl beschlich ihn. Wo waren sie nur? Was ist der Grund, dass sie seinen Anruf alle nicht annehmen konnten? Er schickte beiden hastig je eine SMS, in denen er sie bat, sich schnellstmöglich zu melden und ging zurück in Richtung Vatikan. Unterwegs sah er immer wieder auf sein Handy, doch der Bildschirm zeigte keine neue Nachricht. Er atmete tief durch, versuchte die aufkommende Besorgnis zu unterdrücken und sagte sich, dass es ja eine Reihe von harmlosen Gründen geben konnte, warum sie nicht antworteten. Doch je länger jede Antwort ausblieb, desto mehr gewannen düstere Gedanken und die Angst, dass ihnen doch etwas zugestoßen ist, die Oberhand. Vielleicht hatte der Propst seinen mutmaßlichen Auftrag bereits in die Tat umgesetzt oder gar eigenmächtig gehandelt?

Zuerst kehrte Faßmanns Bewusstsein zurück, begleitet von einem dumpfen Kopfschmerz, Schwindel und starker Übelkeit, die seinen Schluckreflex reizte. Er lag auf einer weichen Unterlage, die sich wie eine Matratze anfühlte. Die Luft war salzig und feucht. Er öffnete die Augen und sein erst allmählich klar werdender Blick wanderte suchend durch den Raum, der in ein schwaches warmes Licht getaucht war, das durch einen dichten orangen Vorhang hereinfiel. Er entdeckte Anja, die nur knapp zwei Meter von ihm entfernt regungslos auf einem Sofa lag. Ein Stich der Angst durchfuhr ihn und er kroch, zu mehr noch nicht imstande, auf allen Vieren hastig zu ihr hinüber. Mit zittrigen Händen strich er ihr behutsam über die Stirn und flüsterte: „Anja – Schatz!“. Mit übergroßer Erleichterung stellte er fest, dass sie atmete und offensichtlich unverletzt war. Sie schien aber noch komplett bewusstlos zu sein. Auf einem zu einer Art Liege ausgeklappten Sessel sah er Steinbach. Als er sich ihm genähert hatte, stellte er erleichtert fest, dass auch er ruhig atmete. Auch er wies keine sichtbaren Verletzungen auf.

Der Boden schien leicht zu wanken, was er seiner miserablen Verfassung zuschrieb. Ein vernahm außerdem ein unregelmäßig pulsierendes Rauschen, das er nicht zuordnen konnte und deshalb ebenso für eine Folge der Betäubung hielt. Als er sich auf die Beine zwang und langsam aufrichtete, schwankte der gesamte Raum. Er ging vorsichtig an der Wand entlang in Richtung der Lichtquelle und schob den dicken orangen Vorhang beiseite. Was er durch das nun frei liegende Fenster sah, verschlug ihm den Atem. Schlagartig wurde ihm klar, dass es nicht an seinem benebelten Zustand lag, dass der gesamte Raum schwankte, sondern an dem, auf das er in diesem Moment blickte. Er konnte es kaum fassen. Sein Blick verlor sich im Horizont, darunter nichts als Wasser. „Wir sind auf einem Schiff“, murmelte er, während die Realität immer weiter zu ihm durchdrang. Er rieb sich die Schläfen und ging zur Tür, befürchtend, dass sie verschlossen sein würde. Zu seiner großen Überraschung gab sie jedoch nach, als er die Klinke niederdrückte. Er spähte vorsichtig hinaus und sah einen schmalen holzvertäfelten Gang, der zu einer breiteren Tür führte, durch die das Licht der Morgensonne zu schimmern schien. Möwengeschrei und das tiefe Brummen eines Schiffsmotors waren jetzt deutlich zu hören. Er kehrte zurück und versuchte, Anja und Steinbach wach zu bekommen. „Anja, Schatz, wach auf“, flüsterte er eindringlich, während er sie leicht schüttelte. Anja stöhnte und blinzelte, während Eberhardt mit einem Ruck hochschreckte. Bei ihm schien die Betäubung offensichtlich nahtlos in einen tiefen Schlaf übergegangen zu sein.

„Was ... wo sind wir?“, murmelte Anja verwirrt.

„Auf einem Schiff, einer Yacht oder sowas vermute ich“, antwortete Faßmann. Eberhardt streckte und erhob sich. Dann ging er langsam zur Tür. Er war ebenso überrascht, dass sie nicht verschlossen war. „Ich werde mich mal umsehen und versuchen herausfinden, was das für ein Kahn ist und wie wir hierher gekommen sind.“

Eberhardt ging den holzvertäfelten Gang entlang und zögerte keinen Moment, die Tür an dessen Ende zu öffnen. Er stand plötzlich in einem großzügigen, aufwändig eingerichteten Raum mit einer großflächigen Glasfront zum Heck des Schiffes, das sich nun eindeutig als ausgewachsene Luxusyacht entpuppte. Auf einem der schwülstigen mit Leinen bezogenen Sofas saß ein Mann, der ihn wortlos fixierte. „Guten Tag Herr Steinbach“, sagte der Mann nach einer Weile mit fester Stimme, in der ein Unterton der Überlegenheit mitschwang. Steinbach entgegnete nur ein knappes Nicken.

„Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“, fragte der Mann nach einer längeren Pause. Steinbach negierte die Frage und zischte stattdessen: „Was wird das hier?“

„Glauben Sie mir, Herr Steinbach, ich kann Ihre Verärgerung mehr als gut verstehen.“

„Dann lassen Sie mich erstmal verstehen, weshalb wir hier sind!“

„Aber natürlich! Setzen Sie sich bitte“, sagte der Mann und wies mit einer langsamen Handbewegung auf das Sofa gegenüber. Doch Steinbach blieb stehen und sagte: „Meine beiden Begleiter wird es ebenso brennend interessieren, weshalb wir hier sind. Sie sollten auch hören, was sie sagen wollen.“

„Selbstverständlich. Bringen Sie sie gerne her.“

Steinbach ging zurück durch den Gang in die Kabine, in der Faßmann und Anja warteten.

„Kommen Sie, unser ... Gastgeber will uns erklären, weshalb wir an Bord dieses Schiffes sind.“

Faßmann und Anja sahen sich fragend an, folgten aber Steinbach schließlich wortlos.

„Guten Tag und herzlich willkommen auf der ‘Bella Vita’“, sagte der Mann mit einem aufgesetzten Lächeln.

Die „Bella Vita“ gehörte eigentlich einem einflussreichen italienischen Medienmogul und Politiker, der sich der Kirche gegenüber immer wieder mit Spenden und anderen Dienstbarkeiten großzügig gezeigt hatte, wozu auch die gelegentliche Bereitstellung seiner Yacht zählte.

„Setzen Sie sich“, forderte er nun alle drei auf und wiederholte seine Geste, mit der er auf das ausladende Sofa ihm gegenüber wies. Zögerlich nahmen die drei Platz, während sie sich gegenseitig unsichere Blicke zuwarfen. Der Mann lehnte sich zurück, seine Finger ineinander verschränkt, und betrachtete sie abwechselnd einen Moment, bevor er fortfuhr. „Ich kann mir vorstellen, dass Sie viele Fragen haben. Aber lassen Sie mich kurz vorstellen. Ich bin Propst der katholischen Kirche und Leiter einer Abteilung innerhalb des Vatikans, die, ... sagen wir, sich mit Sicherheitsfragen beschäftigt.“

Faßmann merkte, wie seine Gesichtsfarbe verblasste und Anja schluckte schwer. Beide wussten nun, dass ihnen der Chef der Achrana, des vatikanischen Geheimdienstes gegenüber saßen, die Organisation, in der man keine Skrupel kennt, wenn es um die Wahrung oder Durchsetzung der Interessen der Kirche geht. Auf einmal drängten sich Faßmann die Bilder der Flucht mit dem Jetski von der „Blue Diamond“ zusammen mit von Berg vor sein geistiges Auge. Er sah den Moment, in dem sie den Jetski starteten und dadurch von den Angreifern unweigerlich bemerkt wurden. Auf der Brücke des Piratenboots, das längsseits an der „Blue Diamond“ festgemacht hatte, war ein älterer Mann zurückgeblieben. Für einen winzigen Moment trafen sich ihre Blicke. Damals dachte sich Faßmann nichts weiter dabei, doch offensichtlich hat sich diese flüchtige Begegnung mehr in sein Unterbewusstsein eingebrannt, als er bis soeben geahnt hatte, denn plötzlich erkannte er: Der Mann auf der Brücke des Piratenboots sitzt ihm nun gegenüber! Faßmann traf die Erkenntnis wie ein Schlag, dass der Mann, dessen Blick damals flüchtig den seinen kreuzte, nun vor ihm saß und offensichtlich für den Überfall und letztlich auch für den kaltblütigen Mord nicht nur an dem Skipper verantwortlich war.

Steinbach atmete tief durch und rückte seine Brille zurecht, bemüht, nichts von seinen Emotionen preiszugeben und einen kühlen Kopf zu bewahren. Er fixierte den Propst mit einem durchdringenden Blick, als würde er versuchen, hinter das Geheimnis zu blicken, das dieser Mann verkörperte.

Der Propst ruhte indes in der dicken Polsterung seines Sessels, die Finger immer noch ineinander verschränkt, und ließ Stille den Raum füllen. Er beobachtete, wie Faßmann, Anja und Steinbach gefangen waren in einem Strudel der Gedanken. Sie versuchten, die Gefahr einzuschätzen, der sie sich ausgesetzt sahen. Der Propst war ein Meister darin, Worte wirken zu lassen, indem er sie im Raum stehen und von schwerer Stille tragen ließ.

Dann beugte er sich vor.

„Ich weiß, das klingt jetzt einigermaßen schwer zu glauben, aber ich bin hier, um zu gewährleisten, dass Sie sicher nach Mallorca gelangen. Diesen Auftrag habe ich vom Heiligen Vater persönlich bekommen.“

„Mallorca? Was sollen wir auf Mallorca?“, fragte Faßmann energisch. Der Propst lächelte kühl und geheimnisvoll.

„Alles zu seiner Zeit. Ich habe strikte Anweisungen. Daher kann ich Ihnen diese Frage nicht beantworten. Aber ich versichere Ihnen, dass Ihre Anwesenheit dort von größter Wichtigkeit ist. Sie wurden nicht ohne Grund hierher gebracht.“ Wieder legte sich ein bleiernes Schweigen über den Raum. Alle drei fühlten, dass etwas Bedeutendes bevorstehen musste, konnten aber nicht erahnen, was es sein könnte.

„Bitte, glauben Sie mir“, fügte der Propst hinzu, “Ihnen wird nichts geschehen. Genießen Sie die Überfahrt und wenn wir angekommen sind, werden Sie sehen.“

Dann erhob sich der Propst demonstrativ und ließ sie allein. Faßmann stand ebenfalls auf. Er bemühte sich gelassen zu wirken, obwohl ihn augenblicklich panische Angst erfasst hatte, denn in diesem Augenblick wurde ihm erst bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wo ihre Reisetaschen abgeblieben waren. Er ging mit eiligen Schritten zurück in die Kabine, in der man sie wieder zu Bewusstsein kommen ließ. Er suchte fieberhaft nach seiner Tasche und fand sie in einer Ecke des Raums, verdeckt von einer Sofalehne. Er nahm sie auf, legte sie auf das Sofa und suchte nach den Dokumenten aus dem roten Koffer. Nichts, selbst nachdem er den gesamten Inhalt ausgekippt hatte. Er hatte es geahnt. Voller Zorn richtete er sich auf und stieß die Luft aus. Erst dann bemerkte er, dass ihm Anja und Steinbach gefolgt waren. Er fuhr zu ihnen herum, sah ihnen abwechselnd in die Augen und schüttelte wortlos mit dem Kopf. Beide verstanden sofort: Während sie bewusstlos waren, hatte man sich des Materials bemächtigt. Faßmann griff sich an die Hosentaschen und bemerkte, dass man ihnen offenbar auch sein Smartphone abgenommen hatte.

Faßmann ging zur Tür und stieß sie mit so großem Schwung auf, dass sie mit der Türklinke krachend gegen die Wand schlug. Er stob den Gang entlang, durchquerte den luxuriösen Salon, in dem sie vorhin mit dem Propst gesprochen hatten, und stürmte durch die automatische Schiebetür in der großen Glasfront auf das Hauptdeck. Dort sah er den Propst sitzen, der gerade einen Schluck aus einer edlen Porzellantasse nahm. In diskreter Distanz lehnte ein Wachmann an der Reling, dessen Blick zwar auf das offene Meer gerichtet war, aber dessen Aufmerksamkeit unzweifelhaft den Vorgängen an Bord galt. Damit wurde Faßmann einmal mehr klar, dass die entspannte Atmosphäre ein Trugbild war. Er baute sich vor dem Propst auf, stemmte die Fäuste in die Hüfte und sagte mit fester und leicht erhobener Stimme: „Sie haben uns bestohlen!“ Der Probst schien sofort zu wissen, was Faßmann meinte.

„Oh, verzeihen Sie, das hatte ich vorhin vergessen, zu erwähnen. Wir haben die Dokumentenmappen aus Ihrem Gepäck vorsorglich sichergestellt. Eine reine Vorsichtsmaßnahme.“

Faßmann bebte vor Wut. „Vorsichtsmaßnahme ?“ spie er das Wort aus, als wäre es Gift. „Das nennen Sie eine Vorsichtsmaßnahme? Ich nenne es Diebstahl und nichts anderes ist es auch. Und um mein Handy scheinen Sie ebenfalls besonders besorgt gewesen zu sein. Ich habe es jedenfalls nicht mehr.“

Der Propst gab sich unbeeindruckt, setzte die Tasse bedächtig ab und sah Faßmann mit einem ruhigen, beherrschten Blick an.

„Nun, man könnte die Frage stellen, ob dieser Tatbestand nicht auch auf Sie zutrifft.“

Faßmann fühlte sich durch die Worte des Propstes unerwartet getroffen und etwas verunsichert, doch ihm blieb kaum Zeit sie zu wägen, denn der Propst fuhr bereits fort:

„Ich verstehe Ihre Aufregung, Herr Faßmann. Sie erhalten alles zurück, wenn wir auf Mallorca sind. Sie haben mein Wort. Und nun entspannen Sie sich und genießen die Überfahrt. Ich fürchte, uns allen bleibt im Moment keine andere Wahl.“

Das alles klang in Faßmanns Ohren wie Hohn. Mit einem verächtlichen Blick wandte er sich ab und ging zurück in die Kabine zu Anja und Steinbach. Faßmann sah in Anjas sorgenvolle Augen und sagte: „Aus dem Typen ist nichts rauszukriegen. Der ist aalglatt und so empathisch wie ein Schachcomputer. Uns bleibt nichts anderes übrig, als abzuwarten, bis wir auf Mallorca sind, in der Hoffnung, dass wenigstens das Ziel dieser merkwürdigen Reise stimmt.“ So ergaben sich alle bis auf weiteres ihrem Schicksal und sahen der Ankunft der Yacht, wo auch immer, entgegen.

Alle drei saßen um den Mahagonitisch in der Mitte der Kabine und schwiegen sich an, jeder in seine Gedanken versunken. Das Schlagen der Wellen gegen den Rumpf der Yacht war in diesem Moment die einzige Geräuschkulisse, die unter anderen Umständen etwas angenehm Beruhigendes gehabt hätte. Faßmanns Gedanken kreisten vor allem um die Frage, welchen Hintergrund Steinbachs offensichtlich enge Beziehung zu Lorenzi hatte. Er spürte, dass Anjas Gedanken um die gleiche Frage zu kreisen schienen. Steinbach wiederum war klar, dass diese und ähnliche Fragen unausgesprochen im Raum stehen mussten. Das Gewicht der Vergangenheit und der bisherigen Ereignisse schien es allerdings allen Beteiligten schwer zu machen, den Einstieg in ein Gespräch zu finden. Steinbach räusperte sich und richtete seinen Blick nachdenklich auf Faßmann und Anja. Dann fing er unvermittelt an zu sprechen: „Man möchte meinen, die Geschichtsschreibung sei ein klar abgestecktes Feld von Helden und Schurken, ein übersichtliches Schachbrett von Schwarz gegen Weiß“, sagte er mit ruhiger Stimme. „Aber ich weiß aus eigener Erfahrung nur zu gut, das Leben zeichnet keine geraden Linien.“ Er hielt einen Moment inne. „So ist es auch mit Lorenzi und seinen Absichten – nichts ist so eindeutig, wie es auf den ersten Blick erscheint“, sagte Steinbach, während seine Augen über die Maserung der Tischplatte wanderten. Dann richtete er seinen Blick wieder auf Faßmann und Anja und machte eine weitere kurze Pause.

„Tja, und Lorenzi, ja, ihn kenne ich wirklich schon eine halbe Ewigkeit. Fast schon von Kindesbeinen an. Es war eine Zeit, als die Welt vor den Narben des Krieges die Augen verschloss oder sie durch Verklärung überschminkte. Es war eine Zeit, in der sich die Linien zwischen Siegern und Besiegten verwischten.“

Anja lehnte sich vor, ihre Augen engten sich vor Konzentration.

„Wären Sie in der Lage und, wenn ja, bereit dazu, diese ODESSA aufzulösen?“

Steinbach lächelte schwach. Er sah zwar Anja an, doch es machte den Anschein, als würde er durch sie hindurch in eine andere Zeit blicken.

„Lorenzi will eine Auflösung, ein Ende von uralten Kapiteln, die viel zu lange fortgeschrieben wurden, wie er sagt.“

Faßmann fixierte Steinbach, wobei er den Kopf leicht zur Seite neigte.

„Und wie stehen Sie dazu?“

Steinbachs Augen flackerten kurz auf, bevor sie einen Punkt in der Ferne suchten. „Wahrscheinlich“, sagte er und seine Stimme wurde leiser und klang noch nachdenklicher, „Wahrscheinlich ist es an der Zeit, dass gewisse Dinge nun tatsächlich ein Ende finden, an dem sie wahrscheinlich schon längst angekommen sind.“ Sein Blick traf den von Faßmann wieder und in diesem Augenblick verstanden beide Männer einander, ohne dass weitere Worte nötig waren.

Steinbach lehnte sich zurück und betrachtete Faßmann und Anja mit einem leicht fragenden Lächeln, das irgendwie auch etwas abgekämpft wirkte: „Ihr habt also vor, Eure... Entdeckung als Druckmittel zu benutzen, um die Kirche endlich dazu zu bewegen, sich zu ihren verwerflichen Taten zu bekennen? Und Ihr glaubt, dass Ihr damit durchkommt?“ Sein Tonfall blieb sanft, doch sein Blick hatte etwas Forderndes.

„Ich glaube, die Kirche kann sich den Skandal, den die Veröffentlichung dieses Materials bedeuten würde, nicht leisten. Sie würde wohl auch das überleben, doch sie wäre danach mehr als schwer beschädigt.“ „Ich schätze, Ihr habt gute Gründe für Euren Kampf“, erwiderte Steinbach und dachte an die Worte von Faßmann in der Sixtinischen Kapelle, die er voller Zorn dem Papst entgegen schleuderte, bevor dieser zusammenbrach. Faßmann tat es gut zu erkennen, dass Steinbach ihn und seine Motive verstand, was auch Anja nicht entging. „Nun,“ fügte Steinbach abschließend hinzu, „wir alle haben unsere Kreuzzüge. Die Frage ist nur, wie weit man bereit ist, dafür zu gehen.“ In Faßmanns Gesichtsausdruck erkannte Steinbach, dass er bereit war, sehr weit dafür zu gehen.

Die letzten Stunden an Bord dehnten sich wie in Zeitlupe. Nach den aufgeladenen Gesprächen lag eine drückende Stille über ihnen, die keiner mehr zu durchbrechen vermochte. Inzwischen von Durst und Hunger geplagt, nahmen sie letztlich auch das Angebot des Propstes an, etwas zu trinken und zu essen. Faßmann und Anja standen dann oft an der Reling, blickten auf das weite, endlose Meer hinaus und verloren sich in den Gedanken an das, was ihnen wohl bevorstehen möge. Steinbach hingegen zog sich in die Kabine zurück. Er schien mit Gedanken beschäftigt, die er nicht zu teilen bereit war.

Als die Nacht hereinbrach und die Sterne begannen, sich im dunklen Wasser tänzelnd zu spiegeln, zogen sich Faßmann und Anja in ihre zugewiesenen Kabinen zurück. Faßmann und Anja übermannte trotz all der nervenaufreibenden Geschehnisse schnell vor Erschöpfung der Schlaf. Sie lagen eng umschlungen in dem schmalen Bett und spürten, wie die innige Geborgenheit, die sie sich gegenseitig gaben, ihnen Kraft verlieh. Steinbach hingegen lag noch lange wach, sein Blick starr an die Decke geheftet, während das Schiff rhythmisch schwankte. Jeder Wellenschlag schien eine andere Erinnerung an die Oberfläche zu spülen, die er mit niemandem je teilen wollte.

Als am nächsten Morgen tatsächlich die Silhouette Mallorcas mit der Kathedrale „Santa Maria“ von Palma am Horizont auftauchte, löste sich die Anspannung bei allen ein wenig. Zumindest hatte der Propst in dieser Hinsicht nicht gelogen. Die Yacht glitt geschmeidig in den Hafen von Palma. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages malten goldene Streifen über das Wasser und ließen die alte Hafenstadt in einem sanften warmen Licht erwachen. Es war ein pittoreskes Bild, doch allen war auch in diesem Moment präsent, dass sie nicht zum Vergnügen hier waren. Als die Yacht angelegt hatte und die Gangway mit einem knirschenden Krachen auf den Steg gesetzt wurde, sahen sie sich gegenseitig an. Allen stand die Frage ins Gesicht geschrieben, wie es nun weitergehen würde. Da kam der Propst mit einem erstmals ehrlich wirkenden Lächeln auf sie zu.

„Guten Morgen! Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.“

Eigentlich drängte es jeden, etwas zu erwidern, doch die Worte blieben ihnen allen im Hals stecken. Stattdessen starrten sie den Propst nur fragend an. „Wie ich sehe, haben Sie Ihre Sachen bereits gepackt“, sagte er, während sein Blick auf die Reisetaschen wanderte, die zu ihren Füßen lagen. „Sie werden gleich abgeholt“, sagte er schließlich fast mit dem Ton eines Reiseleiters. Daraufhin verließen sie die Yacht und standen nun auf dem breiten Kai, der von einigen weiteren Yachten, Segelbooten sowie einigen Fischerbooten gesäumt war.

Es verging kaum eine Minute, da näherte sich ein ob seiner Makellosigkeit auffallender schwarzer Mercedes-Van mit getönten Scheiben dem Kai. Als er vorgefahren war, glitt die Seitentür mit einem sanften elektrischen Summen auf und ein junger Mann in ebenso makelloser Soutane trat heraus. Sein Lächeln war milde, aber in seinen Augen spiegelte sich irgendwie auch eine ernsthafte Hingabe. „Guten Morgen. Ich bin Bruder Sebastian, und ich werde Sie auf Ihrem Weg zum Kloster Lluc begleiten“, sagte er mit einer hellen, wohlklingenden Stimme und mit einem spanischen Akzent. Nach einem kurzen Blickwechsel stiegen sie in den Van, unmittelbar gefolgt von dem jungen Geistlichen. Im Inneren des Vans begegnete ihnen ein unerwarteter Luxus. Die Sitze waren mit feinstem Leder bezogen und in der Mitte des Fahrzeugs war ein kleiner Tisch angebracht, auf dem ein paar Flaschen Mineralwasser und einige lokale Gebäckspezialitäten für sie bereitstanden. Die Tür fuhr langsam wieder ins Schloss und der Fahrer setzte den Wagen achtsam in Bewegungen.

Während die mallorquinische Landschaft unter wolkenlosem Himmel an ihnen vorüberzog und bereits fast eine halbe Stunde vergangen war, fing Bruder Sebastian eher aus Verlegenheit an, die Geschichte und Bedeutung des Klosters Lluc, deren Wurzeln bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen, zu erzählen. Der Komfort des Fahrzeugs und die spirituell anmutenden Erzählungen bildeten einen wohltuenden Kontrast zu der Anspannung, in der sie sich seit Beginn ihrer unfreiwilligen Reise befanden. Als sie gut eine Stunde unterwegs waren, kündigte ihr Begleiter an, dass sie gleich ihr Ziel erreicht hätten.

Sie passierten die beeindruckende Toreinfahrt des Klosters und bei der Ankunft in dem gepflegten Innenhof wurden sie vom sanften Plätschern eines alten Springbrunnens begrüßt. Es herrschte eine Atmosphäre von Ruhe und Frieden, die vom Lauf der Zeit gänzlich erhaben zu sein schien. Bruder Sebastian führte sie zu einem weiteren kleineren und etwas zurückversetzten Innenhof, wo sie von einem älteren Mönch empfangen wurden, dessen Aura von großer Weisheit und Autorität geprägt war. „Willkommen im Kloster Lluc“, sagte er mit rauer, fast heiserer Stimme, aber in akzentfreiem Deutsch.

„Folgen Sie mir, ich zeige Ihnen Ihre Zellen.“

Dem Mönch entging nicht, dass alle bei dem Begriff „Zelle“ kurz irritiert aufschreckten. Er lachte leise.

„So nennen wir hier die Zimmer, in denen wir die Nacht verbringen. Sie haben nichts mit dem zu tun, was weltlich damit gemeint ist.“

Sie folgten dem alten Mönch, der sein linkes Bein etwas nachzog, ins Innere des Klosters. Sie gingen einen schmalen Gang entlang, gesäumt von spartanischen Holztüren mit groben schmiedeeisernen Beschlägen. Die Sonne fiel durch kleine Fenster und tauchte den Korridor in ein weiches, bernsteinfarbenes Licht. Dann blieb der Mönch vor drei nebeneinanderliegenden Türen stehen. „Hier sind wir“, sagte er und deutete auf die erste der Türen. „Es ist alles etwas einfach gehalten, aber Sie werden hier all das finden, was Sie für eine Nacht benötigen.“ Er öffnete einen großen Schlüsselbund und nahm drei Schlüssel davon ab. Jedem reichte er einen.

„Seien Sie bitte um 18 Uhr wieder in dem Innenhof, in dem ich Sie vorhin empfangen habe. Dort werden sie dann erwartet.“

Der Mönch erklärte noch, wo sie Wasser und weitere Kerzen finden würden und schlurfte den Korridor wieder zurück. Alle wussten instinktiv, dass es zwecklos war zu fragen, von wem sie um diese Zeit dort erwartet wurden und so schwiegen sie.

Die Zellen waren tatsächlich bescheiden, mit nichts weiter als einem Bett, einem kleinen Schreibtisch und einem Stuhl ausgestattet. Über dem Bett hing ein großes Kruzifix und auf dem Schreibtisch stand ein einfacher Kerzenhalter mit einer dicken Kerze, die sichtlich bereits anderen Bewohnern den Raum erhellt hatte. Das Licht in dem kleinen Raum war angenehm indirekt, gefiltert durch halb aufgestellte Fensterläden. Trotz ihrer Einfachheit strahlte die Zelle eine behagliche Wärme aus. Auf dem Bett lag eine grobe aber dennoch einladende dicke Wolldecke. Hier, in diesen jahrhundertealten Mauern, fühlten sie sich irgendwie sicher und geborgen – ein absoluter Kontrast zu der Unruhe, die sie auf der Yacht noch verspürt hatten. Sie wehrten sich für die nächsten Stunden nicht gegen die spirituelle Ruhe des Klosters, die die Außenwelt verblassen ließ und sie in einen Kokon der Kontemplation hüllte, in dem die Zeit selbst innezuhalten und ihre weltliche Bedeutung zu verlieren schien.

Kurz vor 18 Uhr fanden sie sich alle in dem kleinen Innenhof ein, wie es ihnen der alte Mönch gesagt hatte. Der Himmel über ihnen begann bereits zu dämmern, und die letzten Sonnenstrahlen strichen verglühend über die rauen Steinfassaden, die das Kloster umgaben. Die Luft wurde frisch und trug den Duft von Feigenbäumen. Das sanfte Plätschern des Brunnens, begleitet vom Zirpen der Grillen, war das einzige, das die Stille durchbrach. Sie hatten sich alle auf kleinen steinernen Bänken niedergelassen, die die Wärme des sonnigen Tages abgaben. Ihre Augen waren auf das schmiedeeiserne Tor gerichtet, durch das der Unbekannte, den sie erwarteten, gleich eintreten sollte. Alle spürten eine gewisse Anspannung. In Faßmann regte sich zudem ein unterschwelliges Gefühl des Misstrauens. Trotz der friedvollen Umgebung konnte er die innere Unruhe nicht abschütteln, das Gefühl, dass sie womöglich doch Teil eines diabolischen Spiels waren, dessen Regeln sie nur nicht durchschauten. Glockengeläut verkündete die volle Stunde und ein Vogelschwarm querte über dem Innenhof. Dann näherten sich aus der Ferne feste Schritte, die an den alten Klostermauern widerhallten.