Kapitel XXXI
Schweigende Barmherzigkeit

Die Fahrt führte Faßmann und Anja mit Lorenzi und Steinbach vom Kloster Lluc über schmale, kurvenreiche Straßen, vorbei an Olivenhainen und gelegentlich gab die Landschaft einen Blick frei auf das schimmernde Meer in der Ferne. Je weiter sie fuhren, desto karger und einsamer wurde es. Nach etwas mehr als einer halbstündigen Fahrt bog der Van an einer kleinen verwitterten Mariensäule auf einen unbefestigten Weg ab. Nach einer Weile kam eine kleine Kirche ins Blickfeld, zu der sich der Weg schlängelte. Sie schmiegte sich anmutig in die raue mallorquinische Landschaft. Es war die Kirche Sant Blai, das älteste unter den zahlreichen Gotteshäusern der Insel.

Der Van hielt an und der Fahrer sagte in gebrochenem Deutsch: „Wir sind angekommen“. Er bedeutete ihnen mit einem freundlichen Nicken auszusteigen. Als sie alle auf dem kleinen Vorplatz der Kirche standen, fuhr die Schiebetür des Wagens langsam zurück ins Schloss, während der Fahrer bereits wieder abfuhr und sie in der Stille der kargen Landschaft zurückließ. Das letzte Tageslicht wich langsam der Abenddämmerung und die Kirche zeichnete sich immer deutlicher als dunkle Silhouette ab, während die Umgebung in ein firniges Dämmerlicht getaucht wurde. Unter ihnen herrschte eine gespannte Erwartung, ein Gefühl der Vorahnung, das in der Luft lag und sie alle waren mit brennender Neugier erfüllt, welche Geheimnisse und Antworten nun hinter den alten Mauern von Sant Blai auf sie warten mochten.

Plötzlich ertönte ein metallisches Quietschen. Alle sahen augenblicklich in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Es kam von dem alten Tor zum Garten, den die Kirche umgab. Es öffnete sich langsam und in seinem Schatten erschien die Gestalt eines alten Mannes. Seine Konturen, die sich im spärlichen Licht der untergehenden Sonne abzeichneten, wirkten fast gespenstisch, als ob er selbst ein Teil der Jahrhunderte alten Mauern wäre. Der Mann, gebeugt und in einfache, abgetragene Kleidung gehüllt, hob eine zitternde Hand und machte eine einladende Geste. „Pasa, Pasa!“ rief er mit rauer Stimme. Seine Augen, tief in den Falten seines wettergegärbten Gesichts liegend, funkelten etwas unheimlich in dem schwachen Zwielicht. Sie tauschten unsichere Blicke aus. Trotz des etwas mulmigen Gefühls, das sie erfasste, bewegten sie sich langsam auf das Tor zu, angezogen von der geheimnisvollen Aura, die der alte Mann und die Kirche ausstrahlten.

Das metallische Quietschen des Gartentors wiederholte sich, als der alte Mann es hinter ihnen wieder schloss. Er ging mit langsamen, bedächtigen Schritten voraus. Die Gruppe folgte ihm, während ihre Schritte auf dem sandigen Weg knirschten, der von niedrig geschnittenen Palmen gesäumt war. Er führte sie um die Kirche herum, vorbei an verwitterten Statuen, die Zeugnis von Jahrhunderten der Andacht, aber auch des Verfalls ablegten. Die Luft war erfüllt vom Duft alter Steine und einem Hauch von wilden Kräutern. Der Mann blieb an einem kleinen, unscheinbaren Seiteneingang der Kirche stehen. Er zog einen Schlüsselbund hervor und suchte offensichtlich mit Mühe nach dem passenden. Als er ihn endlich gefunden hatte, schloss er die kleine, niedrige, aber sehr massive Holztür auf. Er stemmte sich gegen den Türflügel und es verlangte ihm einiges von seiner spärlichen Kraft ab, ihn aufzustoßen. Die mühevolle Aktion wurde von einem äußerst unangenehmen kreischenden Schleifgeräusch begleitet, da der Türflügel auf dem Boden der Kirche aufsaß. Dieser Zustand schien bereits seit langer Zeit zu bestehen, da die Fliesen schon halbrunde Furchen von dem aufwiesen, was beim Öffnen und Schließen der Tür bislang zermahlen wurde.

Sie traten achtsam in das kühle Innere der Kirche und begegneten einer Atmosphäre tiefer Stille und Ehrfurcht. Das schwache restliche Tageslicht, das durch die schmalen Fenster fiel, erhellte den Altarraum spärlich und warf blasse Schleier auf den steinernen Boden. Der alte Mann schlurfte langsam zurück in Richtung der schwergängigen Seitentür, über die sie gekommen waren. Auf halbem Wege blieb er stehen, drehte sich um und sagte: „Bitte warten Sie hier.“ Dann zog er sich endgültig in den Schatten zurück und ließ sie allein mit den Rätseln, die die alte Kirche Sant Blai in sich barg.

Nach der geheimnisvollen handgeschriebenen Nachricht, die sie im Kloster Lluc erhalten hatten, war die Anspannung der Vier fast greifbar, als sie in dem zunehmend versiegenden Licht des Altarraums verharrten. Plötzlich bewegte sich etwas in einer kleinen Nische neben dem Altar. Eine Gestalt, zunächst nur eine Silhouette, löste sich aus dem Dunkel und schritt langsam auf sie zu. Mit jedem Schritt wurde das Bild klarer und sie erkannten die ernsten Gesichtszüge. Es war der Propst. Er sah jeden Einzelnen von ihnen mit einem durchdringenden Blick an und sagte: „Ihr steht nun an einer Grenze, hinter der sich etwas offenbart, von dem bislang nur drei Menschen wussten. Zwei davon sind schon längst nicht mehr unter den Lebenden. Die dritte Person ist die, auf die ihr nun gleich treffen werdet. Folgt mir bitte.“ Wieder warfen sich alle einen unsicheren und fragenden Blick zu, folgten aber dem Propst zu der Nische neben dem Altar, von wo er gekommen war. Als sie der Nische näher kamen, erkannten sie einen kleinen, tiefen Hohlraum, der von einer Art Sandboden bedeckt war.

Sie folgten dem Propst weiter in den kleinen Raum, der in dem versiegenden Licht aus dem Kirchenschiff wie ein Tor zu einer verborgenen Welt wirkte. Da streckte der Propst seine Hand aus und fuhr mit einem Finger über eine kaum sichtbare Vertiefung in der Wand, die wie eine zufällige Unebenheit wirkte. Doch als er einen leichten Druck ausübte, ertönte ein tiefes, grollendes Geräusch, begleitet von einem metallischen Schlag, dem wiederum ein Brummen folgte, das sich anhörte wie das Anlaufen eines Elektromotors. Plötzlich begann sich ein Teil des Sandboden langsam zu senken, als wäre er die Plattform eines alten, verschütteten Aufzugs. Der Propst trat ohne Zögern auf die absinkende Ebene. „Folgt mir“, sagte er ruhig, aber bestimmend. Die Gruppe traute ihren Augen nicht und alle starrten wie gebannt auf den Propst und das sich immer weiter absenkende Plateau. „Na los“, rief er ihnen nun auffordernd zu. Dann sprangen alle ohne weiter nachzudenken auf die Plattform, wie im letztmöglichen Moment in den entschwindenden Fahrkorb eines Paternosters. Mit jedem Zentimeter, den sie tiefer sanken, umhüllte sie eine kühle, feuchte Luft und das letzte Licht aus der Kirche verschwand, bis sie in völlige Dunkelheit gehüllt waren. Für einen kurzen atemlosen Moment war alles um sie herum in tiefes Schwarz getaucht, eine Dunkelheit, die fast nach ihnen zu greifen schien. Doch dann erleuchtete ein schwaches, flackerndes Licht den Fahrkorb. Es war das Licht aus den Katakomben weit unter der Kirche, in die sie nun eintauchten. Als die Plattform mit einem heftigen Ruck zum Stehen kam, standen sie vor einem engen Gang, der von staubigen altersschwachen Glühbirnen beleuchtet war. Die Wände erinnerten an einen Bergwerksstollen, grob ins Gestein getrieben, teilweise von kleinen Stalaktiten bedeckt und vor Nässe glänzend. Der Gang schlängelte sich in die Tiefe, als würde er direkt ins Herz der Erde führen. Der Propst ging voran und seine Schritte hallten in dem engen Gang dumpf wider. Mit jeder Biegung, die sie nahmen, wuchs das Gefühl, dass sie in eine Welt vordrangen, die seit Jahrhunderten vor den Augen der Menschheit verborgen war.

Der Gang machte eine letzte leichte Biegung und wurde dann breiter. Er mündete in einen unerwartet großen Raum. Dieser war ebenso schummrig erleuchtet durch ein asymmetrisches Sammelsurium an Glühbirnen, die in unterschiedlicher Höhe von der Decke hingen, eingerahmt von schmucklosen halbrunden Metallschirmen, deren Korrosion nur noch letzte Reste der einstigen Emailleglasur übrig gelassen hatte. Die Wände des Raums hatten ausnahmslos längs verlaufende Vertiefungen. Zudem war der Raum angefüllt von wuchtigen Regalen aus grobem Sandstein, deren Böden die Höhe der Vertiefungen in den Wänden hatten. Was die Wandvertiefungen und Regalböden beherbergten, ließ Faßmann, Anja und Steinbach gleichermaßen erschaudern. Da lagen unzählige Totenschädel, dicht an dicht gereiht. Ihre schwarzen Augenhöhlen schienen sie aus jeder Perspektive anzustarren. Die Schatten, die die ungleichmäßig verteilten Glühbirnen warfen, ließen die Schädel fast bedrohlich wirken.

„Wo sind wir hier?“, fragte Lorenzi fordernd, der von der unheimlichen Atmosphäre des Raumes im Gegensatz zu den anderen deutlich weniger beeindruckt war. „Sie werden es in wenigen Augenblicken erfahren“, erwiderte der Propst und ging weiter in den Raum hinein, vorbei an den steinernen Regalen, die links und rechts aufgereiht standen. Die darin liegenden Schädel wirkten, als würde eine Armee des Todes für sie Spalier stehen. Hinter dem letzten der Regale war eine weitere Lichtquelle auszumachen, die nicht von der Decke zu kommen schien. Es roch leicht nach dem Abbrand von alten Kerzen. Als sie schließlich das letzte Regal passiert hatten, sahen sie dort zwei Männer, die sich in diesem Moment von einem schmalen alten Holztisch erhoben, auf dem eine auffällige längliche Holzkiste lag. Als sich ihre Blicke kreuzten, konnten sie kaum glauben, wer ihnen da gegenüberstand.

Es war Papst Linus und Monsignore Montanari, der Notar des Vatikans. „Seien Sie herzlich begrüßt“, sagte der Papst, ergriff zuerst Lorenzis Hände und drückte sie sanft, den diese Geste nach dem Ausgang ihrer letzten Begegnung sehr überraschte und um so mehr im Herzen berührte. Dann wandte er sich Faßmann, Anja und Steinbach zu und reichte auch ihnen auf die gleiche Weise die Hände. Alle waren ergriffen von dieser Geste und jeder erkannte, dass der Papst damit auch erst gar keinen Raum lassen wollte für den sonst üblichen Kniefall zu seiner Begrüßung. „Ich bedauere, wie unsere letzte Begegnung verlief und dass sie ein so abruptes Ende nahm“, sagte der Papst und machte eine Handbewegung in Richtung des Tisches, vor dem sie standen und setzte sich bedächtig. Alle folgten seinem Beispiel und ließen sich auf den klammen, kühlen Holzbänken, die den Tisch umsäumten, nieder. Nach einem kurzen Moment des Schweigens sagte Anja: „Es ist so schön, Sie wieder wohlauf zu sehen, Heiliger Vater.“ Der Papst lächelte warmherzig und nickte Anja dankbar zu. Dann beugte sich Monsignore Montanari zur Seite, hob eine alte Aktentasche hoch und stellte sie vor Faßmann auf dem Tisch ab. Das dicke braune Leder der Tasche war von unzähligen Gebrauchsspuren gezeichnet. „Bitte sehr“, kommentierte er sein Handeln knapp und sah dabei Faßmann in seine fragenden Augen. Dann deutete Montanari wortlos mit beiden Händen auf die Tasche. Faßmann verstand die Aufforderung und löste die Dornschließe, zog den Lederriemen aus der Schnalle und öffnete die Tasche. Sofort erkannte er die roten Mappen mit dem eingeprägten Reichsadler, der einen Eichenlaubkranz in seinen Krallen hielt, in dessen Mitte ein Hakenkreuz prangte. Der erste Eindruck vermittelte ihm, dass nichts fehlt. Ohne ein Wort zu sagen, schloss er die Tasche wieder und lehnte sie gegen die längliche Holzkiste, die ebenfalls auf dem Tisch lag. Faßmann und Anja sahen sich kurz an und empfanden Erleichterung sowie ein Gefühl von zurückgewonnenem Vertrauen.

Dann richtete sich der Papst auf und stützte sich ausladend mit beiden Händen auf der Tischplatte ab. „Ich habe zwei Entscheidungen getroffen“, sagte er, „eine, die damit zu tun hat, dass wir alle in diesem Moment an diesem Ort sind und eine, die meine Wenigkeit betrifft. Erstere bezieht auch die Ziele ein, die Sie verfolgen, Herr Faßmann. Doch damit Sie alle zunächst nicht weiter im Unklaren darüber sind, was dies für ein Ort ist, wird Ihnen nun zunächst Monsignore Montanari etwas sagen.“ Montanari räusperte sich, beugte sich leicht vor und hob an.

„Das Material aus dem roten Koffer enthielt mehr, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Es enthielt auch einen verschlüsselten Hinweis auf diesen Ort. Diesen Hinweis hat der Urheber des roten Koffers dort hinterlassen. Es war Otto Skorzeny, ein enger vertrauter von Adolf Hitler und der damalige Gründer Ihrer Organisation, Herr Steinbach, der es mit einer beispiellosen Geschicklichkeit verstand, sich den Mächtigsten des sogenannten Dritten Reichs anzudienen, ohne dabei je sich selbst die Finger zu verbrennen. Er wusste, wie man sich stets... nennen wir es eine ‘Lebensversicherung’ verschafft, die ihn schützte.“

Alle hingen an seinen Lippen und lauschten fast atemlos seinen Ausführungen.

„Eine dieser Lebensversicherungen ist in dieser Gruft versteckt. Sie diente einst als letzte Ruhestätte der Mönche, die in einem der Klöster auf dieser Insel lebten. Sie waren Angehörige des Ordens ‘Sanctum Lucis’, auf deutsch ‘Die Wächter des Lichts’. Dieser Orden, gegründet im späten Mittelalter, soll Hüter eines Wissens gewesen sein, das selbst innerhalb der höchsten Kirchenkreise nur wenigen zugänglich war. Es muss sich um Dinge gehandelt haben, die das Verständnis der damaligen Zeit überstiegen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verlor sich jede Spur des Ordens. Es ist bis heute ein Rätsel, weshalb sich der Orden aufgelöst hat. Es gibt ungesicherte Hinweise darauf, dass im später gegründeten Orden der Missionare der Heiligen Herzen einige ‘Wächter des Lichts’ Zuflucht gefunden hatten. Mit dem Verschwinden der ‘Wächter des Lichts’ wurde letztlich auch diese Grabstätte aufgegeben und geriet in Vergessenheit. Allerdings befanden sich im Geheimarchiv des Vatikans Dokumente über diese Gruft. Über die damals enge Verbindung zwischen dem Vatikan und der NS-Führung muss Skorzeny auch von diesem Ort erfahren haben. Wie Sie ja inzwischen wissen, ist im Frühsommer 1945 eine extrem wertvolle Schiffsfracht in die Hände der geflohenen Mitglieder aus der damaligen Staatsführung gelangt und... “

Da schnitt Faßmann Montanari plötzlich das Wort ab, der ihn eher erstaunt als verärgert ansah.

„Reden wir an dieser Stelle bitte Klartext“, sagte Faßmann, „es geht um keine Geringeren als Adolf Hitler und Martin Bormann, denen Ihre Kirche maßgeblich zur Flucht verholfen und die Gründung dieser ODESSA erst ermöglicht hat.“

Montanari machte eine kurze Pause, während er durchatmete und dabei Faßmann mit strengem Blick fixierte.

„Wenn es Ihnen wichtig ist, das so zu benennen.“ Dann fuhr Montanari fort: „Durch diese Schiffsfracht verfügte die von Ihnen erwähnte Organisation über das sehr erhebliche Vermögen von umgerechnet heute zwei Milliarden Euro. Skorzeny ließ einen größeren Teil dieses riesigen Goldschatzes verschwinden und verriet niemandem das Versteck, jedoch ließ er die entscheidenden Leute wissen, dass es einen solchen geheimen Ort gibt. Damit schaffte er sich selbst die nötige Sicherheitsgarantie. Aber Skorzeny wusste um die völlige Skrupellosigkeit der Schergen, deren Flucht er maßgeblich organisiert hatte und wollte absolut auf Nummer sicher gehen, dass ihm nichts geschehen würde. So kam es, dass der damals amtierende Papst Pius XII. fragmentierte Informationen über den Lagerort des Goldes erhielt, die alleine aber nicht ausreichten, um ihn zu finden. Über Jahrzehnte war es nicht möglich, alle Puzzleteile zusammenzufügen, bis Sie auf den Plan traten und sich wie auch immer des roten Koffers bemächtigten. Bis dahin gab es, um es mit dem Spiel der Könige zu sagen, zwischen der Kirche und der ODESSA ein ewiges Schach – keine Seite konnte einen Zug machen, ohne dass die andere sofort pariert hätte, um wieder ein Schach herzustellen.“

Montanari hielt inne, da er in Faßmanns Blick glaubte zu erkennen, dass er offensichtlich über weite Teile nichts sagte, was dieser nicht bereits wusste oder für ihn wirklich von Bedeutung war.

Dann ergriff der Papst das Wort: „Ich nehme an, Sie drängt es danach, nun zu erfahren, wo in dieser Gruft das Gold versteckt ist.“

Fassmann zuckte mit den Schultern und legte den Kopf zur Seite. Dann richtete der Papst den Blick auf den Propst und nickte, der sich sogleich erhob und auf die Wand hinter ihnen zuging. Er umschloss einen der Totenschädel mit seinen beiden Händen, zog ihn vorsichtig aus der Vertiefung und legte ihn achtsam auf den Boden, was bei allen etwas Unbehagen auslöste. Dann nahm er den nächsten Schädel heraus, den er ebenfalls langsam zu Boden sinken ließ. Nachdem er insgesamt sieben Totenschädel herausgenommen hatte, griff er mit beiden Armen erneut in die Vertiefung und zog eine dünne Steinplatte heraus, die er vorsichtig an die Wand lehnte. Dann griff er abermals und noch etwas tiefer hinein und zog eine lange schmale Holzkiste hervor, die der glich, die bereits auf dem Tisch lag. Man sah ihm die Mühe an, die er mit der offensichtlich sehr schweren Kiste hatte. Da sprang der Notar instinktiv auf und half ihm, die Kiste herauszuziehen und mit ihm auf dem Tisch neben der anderen abzulegen. Nun erhoben sich alle und starrten voll gespannter Erwartung auf die geheimnisvollen Artefakte, die vor ihnen lagen.

Der Propst atmete tief durch, bevor er seine Hände auf den Deckel der alten, von der Zeit gezeichneten Holzkiste legte. Trotz ihres Alters und des Gewichts, das sie zu haben schien, öffnete sich der Deckel ohne großen Widerstand. Ein leises Knarren durchbrach die Stille der Gruft, als er ihn anhob und zur Seite legte. Im Inneren kamen mehrere Leinensäckchen zum Vorschein, fein säuberlich nebeneinander angeordnet. Jedes Säckchen war sorgfältig verschlossen, mit Schnüren, die in kunstvollen Knoten gebunden waren. Die schlichte Erscheinung der Säckchen stand in merkwürdigem Kontrast zu dem vermuteten Inhalt – dem lange verborgenen Goldschatz. Die Gruppe beugte sich näher über die Kiste, und die Augen jedes Einzelnen spiegelten die Mischung aus Neugier und Ehrfurcht wider, die der Anblick in ihnen weckte. Dann nahm der Propst vorsichtig das erste Säckchen heraus, um es zu öffnen. Er schnürte es achtsam auf und griff hinein. Als er seine zur Faust geballte Hand wieder herauszog, drehte er sie um und öffnete sie. In seiner Handfläche lagen einige große Goldmünzen. Alle starrten wie gebannt darauf. Dann reichte er jedem Einzelnen, schweigend und mit einer beinahe zeremoniellen Geste, seine geöffnete Hand, als stille Einladung, selbst eine der glänzenden Goldmünzen zu ergreifen und eingehender zu betrachten. Sie waren bemerkenswert gut erhalten, ihre Prägungen klar und deutlich sichtbar.

„Wir konnten bis jetzt noch nicht überblicken, welchen Umfang der hier gelagerte Schatz hat“, sagte der Notar in fast amtlicher Nüchternheit, „aber anhand unserer Kenntnis sollte er noch weit über eine Milliarde Euro repräsentieren.“ Alle hatten Mühe, diese enorme Summe in ihrem Wert zu begreifen. „Das heißt, diese Kiste hat den gleichen Inhalt?“, fragte Faßmann fast ebenso nüchtern, während er seine Hände auf die noch verschlossene Kiste legte, die sich von Anfang an auf dem Tisch befand. „Und hinter den anderen Schädeln liegen noch mehr davon?“, fragte er sofort weiter und richtete den Blick unverändert fest auf Montanari. „So ist es“, erwiderte dieser, „es blieb bisher nur nicht die Zeit, eine Bestandsaufnahme zu machen.“ Ein Moment des Schweigens breitete sich aus. Unzählige Gedanken schossen jedem durch den Kopf, die in diesem Augenblick kaum zu ordnen waren.

Unvermittelt erhob sich der Papst und zog damit sofort die Aufmerksamkeit aller auf sich. Er wandte sich mit seinem Blick zuerst Faßmann zu.

„Was durch die Verirrungen und Verfehlungen Geistlicher der katholischen Kirche angerichtet wurde, ist unverzeihlich. Würde man dies verzeihlich machen, würde es als entschuldbar gelten und die Schwere der Tat würde damit vermindert, doch diese Taten sind nicht zu vermindern und nicht zu entschuldigen. So sehr ich es mir wünschte, lässt sich kein einziger Fall ungeschehen machen. Die Spuren der Vergangenheit sind gezeichnet und für alle Zeit unabänderlich. Die Zukunft jedoch liegt wie eine unberührte Leinwand vor uns. Sie haben nun die Palette in der Hand und eine lange nicht versiegende Quelle an Farben der Barmherzigkeit und Nächstenliebe zur Verfügung. Gehen Sie ans Werk und zeichnen Sie eine Zukunft, in der die Hungernden satt, die Nackten bekleidet, die Kranken geheilt werden, die Unterdrückten Freiheit und die Getriebenen Frieden finden.“

Alle waren tief ergriffen von den Worten des Papstes und ahnten gleichzeitig, welche Botschaft er ihnen damit gab. Dann breitete er plötzlich die Hände aus und sprach: „Geliebte Kinder Gottes, in der Stille dieses heiligen Augenblicks rufe ich den Segen des Allmächtigen auf euch herab. Möge der Herr euch mit seiner unendlichen Weisheit leiten, euren Weg mit Licht und Liebe erhellen und euch in Momenten der Zweifel und der Prüfungen beistehen. Möge der Friede Christi in euren Herzen wohnen und euch zu Werkzeugen seiner Gnade machen. Ihr seid berufen, seine Botschaft der Hoffnung und des Mitgefühls in die Welt zu tragen. Möge der Heilige Geist euch mit Mut und Klarheit erfüllen, damit ihr die Wahrheit aussprecht und Gerechtigkeit übt. Und möge der Segen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, jetzt und immerdar mit euch sein. Amen.“