Ich kann mich genau an den Moment erinnern, als mein Großvater sich verliebte. Er war in meinen Augen ein uralter Mensch – die fünfzig bereits überschritten –, und sein neues, zartes Geheimnis überrollte mich mit einer Welle der Bewunderung, in die sich Schadenfreude mischte. Bis dahin hatte ich mich für das einzige Problem meiner Großeltern gehalten.
Ich ahnte, dass die Großmutter nichts davon mitkriegen sollte. Sie hatte schon bei geringeren Anlässen gedroht, den Großvater umzubringen, zum Beispiel wenn er beim Abendessen das Brot zerkrümelte.
Ich war fast sechs Jahre alt und kannte mich mit der Liebe aus. Schon im russischen Kindergarten war ich in drei Erzieherinnen nacheinander verliebt gewesen, zwischendurch sogar in mehrere gleichzeitig. In dem neunstöckigen Wohnblock, in dem wir vor der Auswanderung gelebt hatten, hatte es kein Mädchen unter achtzehn gegeben, in das ich mich nicht wenigstens für kurze Zeit verguckte. Als der Großmutter die langen Blicke auffielen, mit denen ich das Wippen der Röcke und Pferdeschwänze auf der Straße verfolgte, hielt sie mir die Hand vor die Augen. »Glotz dir nicht die Glubscher aus dem Kopf. Du wirst nie eine abkriegen.«
Aus stummem Protest gegen diese Prophezeiung verliebte ich mich anschließend in eine Frau, die ich noch nie gesehen hatte. Mir gefiel bloß ihr Name auf einem Plakat: Rosa Silberstein. Zu Hause hatte ich die fünf Silben ihres Namens immer wieder vor mich hin gesungen, bis die Großmutter genauer hingehört und mir befohlen hatte, sofort mit dem Unsinn aufzuhören, die Zeiten seien schon düster genug.
Wenig später kamen wir als Kontingentflüchtlinge in Deutschland an, und der Großvater traf seine Liebe.
Im Flüchtlingswohnheim waren wir, wie die Großmutter missmutig feststellte, von Juden umgeben. Sie hatte noch nie ein Geheimnis aus ihrem Antisemitismus gemacht: »Nicht wegen Christus oder so. Ich habe wirkliche, persönliche Gründe.« Es zerriss sie förmlich, sich bei Zusammenstößen mit den Nachbarn bestimmte Schimpfwörter verkneifen zu müssen. Dann wieder jubelte sie, uns unter Vortäuschung falscher Tatsachen Zutritt zu den Privilegien des goldenen Westens verschafft zu haben. »Nicht, dass du denkst, dass wir tatsächlich Juden sind«, schärfte sie mir ein, meine Stirn nebenbei nach Fieber abtastend. »Der Opa hat einen Onkel, der hat einen Schwager. Der hat eine jüdische Frau. Deswegen sind wir hier. So läuft es. Frag nicht!«
Ich nickte eifrig, als würde ich irgendwas davon glauben oder wenigstens verstehen. Ich hatte noch nie einen Onkel meines Großvaters gesehen, geschweige denn die Frau seines Schwagers. Überhaupt versuchte ich, die Großmutter nicht unnötig anzusprechen, da ich vorab nie wusste, welchen wunden Punkt meine Fragen treffen könnten. An den Grenzübertritt erinnerte ich mich kaum, wohl aber daran, dass die Stimmung der Großmutter sofort in Enttäuschung umschlug.
Bei unserem Wohnheim handelte es sich um ein ehemaliges Hotel mit abblätterndem Putz, über dessen Eingang immer noch das Schild »Zur Sonne« prangte. Freitagabends liefen die meisten Bewohner zur Synagoge, wo es nach dem Gottesdienst ein ebenso reichhaltiges wie kostenloses Buffet gab. Die Großmutter bügelte jeden Freitag meine blaue Hose und schnitt mir die Fingernägel, um sich nicht für mich schämen zu müssen. Die echten jüdischen Kinder schüchterten sie ein.
Auf die Idee, den Sabbat zu schwänzen, wäre die Großmutter trotz ihrer Abneigung nie gekommen. Sie ehrte ihn widerwillig, indem sie sich schönmachte: Der rot gefärbte Zopf legte sich wie eine Schlange um ihren Kopf, und das gepunktete Kleid wurde dank einer Stoffblume am Ausschnitt zum Festgewand. Hinter der zur Schau getragenen Selbstsicherheit spürte ich ihre tiefe Angst, als Hochstaplerin entlarvt und zurück in die zerfallende Sowjetunion geschickt zu werden.
Während das Wohnheim die Großmutter in seiner Schäbigkeit enttäuschte, rang ihr die neu gebaute, leuchtende Synagoge das eine oder andere respektvolle Wort ab. Sie begrüßte ausdrücklich, dass die Frauen während des Gottesdienstes von den Männern getrennt saßen: »Bin froh, seine griesgrämige Fresse für eine Weile nicht zu sehen.« Sie suchte Kontakt zu den Nachbarinnen, die sie aus dem Wohnheim kannte, und verwickelte sie am kalten Buffet in lange Gespräche, bevor sie die eine oder andere Speise unauffällig – wie ihr schien – mitgehen ließ.
Am Morgen danach wickelte sie die gerollten Pfannkuchen oder gefüllten Blätterteigtaschen aus den Servietten und tischte sie dem Großvater auf. Ich durfte nur zusehen: Das Essen war von fremden Leuten mit dreckigen Pfoten angefasst worden und für mich daher nicht zu verdauen. Dabei ließ sie die Gespräche vom Vortag Revue passieren. Die meisten der neuen Bekanntschaften sah die Großmutter kritisch: Menschen, die ihre Heimat verließen, waren ihr suspekt, solange es sich nicht um sie selbst handelte.
»Es gibt aber auch anständige Leute«, sagte sie ein einziges Mal, und der Großvater und ich horchten auf. »Ich habe eine reizende Frau kennengelernt. Sie heißt Nina und unterrichtet Fortepiano. Wohnt hier mit ihrer Tochter. Das Mädchen ist in Mäxchens Alter, aber normal. Hat keinen Mann, die Glückliche, bringt ihren Bastard allein durch. Du kennst sie, Tschingis, du hast ihr schon einmal die Tasche mit den Kartoffeln hochgetragen. Wozu braucht die überhaupt so viele Kartoffeln, sie sind doch nur zu zweit? Ich darf mir den Rücken kaputt machen, aber für andere spielst du den Gentleman.«
Die Hand meines Großvaters zuckte kurz, und die Füllung aus Hackfleisch und Schnittlauch rieselte auf den Teller.