Inzwischen war es mir gelungen, die Großmutter komplett aus den schulischen Angelegenheiten herauszuhalten. Ich ließ Zettel mit Einladungen zum Elternabend verschwinden und unterschrieb alles, was eine Unterschrift der Sorgeberechtigten erforderte, krakelig auf Kyrillisch, was den Lehrern jeden Zweifel an der Echtheit nahm.
Zu meiner Überraschung bekam ich eine Gymnasialempfehlung und wurde an der gleichen Schule wie Vera aufgenommen. Fast hätte ich vergessen, meinen Großeltern den Wechsel rechtzeitig mitzuteilen. Die Großmutter ging immer noch davon aus, dass jede deutsche Schule zehn Jahre dauerte und dass die Oberstufenschüler im selben Gebäude wie die Grundschüler unterrichtet würden, nur eben nachmittags.
Der Schulwechsel fühlte sich an, als hätte mich eine Zeitmaschine in das erste Schuljahr zurückkatapultiert. Wir gehörten wieder zu den Kleinsten, ich kannte mich im neuen Schulgebäude nicht aus und musste diesmal eigenständig herausfinden, welcher der neuen Mitschüler auf meinen Skalp aus war.
Vera hinterließ bei mir zwar keine blauen Flecken und Kratzspuren mehr, dafür ließ sie keine Chance aus, mich bloßzustellen, als hätte es die besseren Zeiten zwischen uns nie gegeben. Sie täuschte Lachanfälle vor, sobald ich mich im Unterricht meldete. Wenn ich dran war und nicht sofort die Antwort wusste, sagte sie mir das Falsche vor, worauf ich immer wieder hereinfiel. Sie nannte mich einen Fettklops und Schwachkopf, ahmte meinen Gang und meinen Akzent nach und erzählte allen, dass ich eine verrückte Großmutter hatte und zu hundert Prozent nach ihr kam.
Ich ließ es über mich ergehen, in der festen Annahme, es aus irgendeinem Grund verdient zu haben. Doch nach einigen Wochen passte ich Vera nach dem Unterricht ab und hielt sie am Ärmel fest.
»Lass mich in Ruhe«, sagte sie und riss sich los, als wäre ich derjenige, der ihr das Leben schwer machte.
»Es ist nicht meine Schuld«, sagte ich. »Verstehst du das? Ich kann nichts dafür.«
»Es ist nur deine Schuld«, sagte sie. »Wenn es dich nicht gäbe, wäre alles besser.«
»Es ist nicht meinetwegen!«, schrie ich.
»Egal«, sagte Vera. »Wir ziehen sowieso weg. Dann muss ich dich nie mehr sehen.«
»Wohin?«, fragte ich entsetzt.
»Als ob ich es dir sage.«
Ich begriff, dass sie es selbst nicht wusste.
»Wann denn?«
»Sobald meine Mutter wieder aufstehen kann«, sagte Vera und verpasste mir zum Abschied, wie in guten alten Zeiten, einen Tritt gegen das Schienbein.
Unser Telefon klingelte fast nie. Wenn der Großvater unterwegs war – und er war ständig unterwegs, um umsonst anderer Leute Häuser zu bauen, wie die Großmutter angesichts der Einnahmen missmutig kommentierte –, rief er kein einziges Mal an. An manchen Morgen hielt die Großmutter mitten in einem Satz inne und sagte: »Der Wievielte ist heute? Onkel Fjodor hat Geburtstag«, oder: »Es ist der Feiertag der Sowjetarmee. Man müsste allen Männern der Familie gratulieren.« Wenn ich sie fragte, warum sie nie jemanden anrief, reagierte sie gereizt: »Wer soll das Geschwätz bezahlen? Du?«
Ein- bis zweimal im Jahr erlebte ich es, dass das Telefon klingelte und die Großmutter sofort zum Apparat hastete und »Hallo!« hineinbrüllte, immer wieder, bis sie schließlich zufrieden »Na bitte« sagte und auflegte. Dass die Anrufe immer rund um meinen Geburtstag und zum Neujahr kamen, wenn alle Russen ihren Angehörigen gratulierten, gruselte mich so, dass ich es vorzog, keine Fragen zu stellen.
In jener Nacht, als das Telefon ein Trillern von sich gab, das wir zuletzt nur in Fernsehkrimis gehört hatten, zuckten die Großmutter und ich zusammen. Im Krimi wurde anschließend jedes Mal jemand ermordet. Der Großvater lag bereits auf dem Feldbett hinter der Wand, er war für seine Verhältnisse früh nach Hause gekommen.
Ich erreichte das Telefon zuerst.
»Hallo?«, sagte ich, wie sie es im Fernsehen taten. Die Großmutter rückte näher, ich hob den Blick und sah den Großvater unnatürlich blass im Türrahmen stehen.
»Warum weinst du, Vera?«, fragte ich, und die Großmutter entriss mir den Hörer.
»Jetzt trockne mal schön deine Tränen, Kindchen«, sagte sie. »Ich hab es damals auch überlebt, und deine Mama hat ein breites Becken. Was sagst du? Wie viel Wasser? Blut? Hör auf zu nuscheln, ich verstehe kein Wort. Leg ihr ein Handtuch unter. Ist sie bei Bewusstsein? Na bitte. Dann ist es noch nicht so schlimm. Ich schick hier den Opa los. Er soll sie ins Krankenhaus fahren. Was heulst du schon wieder? Nein, hör mir doch zu, sie stirbt nicht. Wieso meine Schuld? Du bist dehydriert, Kindchen, und deine Mama vermutlich auch, so, wie sie da im Hintergrund brüllt. Trinkt beide was. Die alte Margo kommt mit dem Opa und nimmt dich zu uns nach Hause mit. Nein kannst du zu deiner eigenen Oma sagen, Kindchen, ich kenne dieses Wort nicht.«
Sie warf den Hörer auf die Gabel und wirbelte in sinnloser Umtriebigkeit durch die Wohnung. Der Großvater stand immer noch im Türrahmen und rührte sich nicht. Ich fragte mich, ob man gleichzeitig tot sein und aufrecht stehen konnte.
»Mann ohne Hirn!«, schrie die Großmutter. »Hast du deine Autoschlüssel? Die Frau kommt nieder. Na los!«
Später dachte ich, dass die Großmutter recht hatte und ohne sie wirklich alle gestorben wären. Erstaunlich bald kehrte sie mit Vera zurück. Ich hatte die ganze Zeit am Fenster geklebt. Ich war bis jetzt noch nie so spät allein zu Hause gewesen, eigentlich war ich überhaupt noch nie allein gewesen. Ich dachte daran, dass ich die Gelegenheit nutzen konnte, um die Schränke zu durchsuchen, weil mir die verschwundenen Pakete weiterhin keine Ruhe ließen. Doch meine Gliedmaßen fühlten sich bleischwer an. Als ich mich endlich dazu entschlossen hatte, war es bereits zu spät.
Vera setzte sich mit glasigen Augen auf die Couch neben mich, die Großmutter stellte die Plastiktasche ab, in die sie eilig Veras Sachen gepackt hatte. »Die alte Margo hat noch nie ein Kind im Stich gelassen«, sagte sie zufrieden.
Ich schubste Veras Fuß vorsichtig mit der Pantoffelspitze. »Alles wird gut«, flüsterte ich. Sie reagierte nicht.
»Soll ich dir ein Spiegelei mit Ketchup machen, Kindchen?«, fragte meine Großmutter.
»Wo ist seine Mutter?«, fragte Vera mit monotoner Stimme und deutete auf mich.
»Was sagst du?«
»Wo ist seine Mutter? Stimmt es, dass sie ihn verkauft hat?«
»Nein«, sagte meine Großmutter ruhig. »Guck ihn dir an, würde jemand dafür auch noch Geld verlangen?«
Vera schüttelte den Kopf.
»Na siehst du.«
»Aber wo ist seine Mutter dann?«
Ich trat Vera fester mit der Fußspitze. Dass es ihr dreckig ging, war noch lange kein Grund, andere mit in den Abgrund zu ziehen.
Die Augen meiner Großmutter blitzten bedrohlich.
»Glaubst du an irgendeinen Gott, Kindchen?«
Vera zuckte mit den Schultern. »Wir sind Juden.«
»Macht nichts. Kann passieren. Geh ins Nebenzimmer oder sonst wohin, wo man dich nicht sieht, Kindchen, knie dich hin und bete mal schön zu deinem Gott. Vielleicht hilft er dir und ist zu deiner unglückseligen Mama gnädig. Und hüte in Zukunft deine dreckige Zunge.«
Vera erhob sich und ging nach nebenan. Als ich wenig später nachschaute, fand ich sie tatsächlich auf den Knien. Sie stützte sich an Großvaters Feldbett ab und murmelte etwas in ihre Fäuste.
Der Großvater kam kurz vor Sonnenaufgang nach Hause. Die Großmutter und Vera waren längst eingeschlafen. Vera lag auf einem Nachtlager, das die Großmutter aus Kissen und Decken auf dem Boden bereitet hatte. Ich war wach und lauschte dem Schnarchen der Großmutter, mit Veras unruhigem Atem als zweiter Tonspur. Ich hörte auch die Schritte im Flur, die vor unserer Tür anhielten. Minutenlange Stille folgte, sodass ich schon glaubte, mich verhört zu haben. Dann kratzte der Schlüssel im Türschloss, und der Großvater durchquerte mit leisen Schritten den Raum und löste sich im Dunkel des Nebenzimmers auf. Ich glitt von der Couch und schlich ihm hinterher.
Er saß auf dem Feldbett, das Gesicht in den Händen verborgen. Ich setzte mich zu ihm, fest davon überzeugt, dass entweder Nina oder das Baby gestorben waren. Ich wusste nicht, was man in solchen Fällen sagte. Am meisten bewegte mich die Frage, ob Vera jetzt für immer bei uns bleiben und die Großmutter somit zwei Waisen am Bein haben würde. Aber ich wagte es nicht, damit herauszuplatzen.
Der Großvater nahm die Hände von den Augen. »Geh ins Bett.«
»Wir werden alle sterben,« sagte ich. Ein besserer Trost fiel mir nicht ein.
Er blickte mich verständnislos an. Ich wusste auch nicht, was ich ihm jetzt noch sagen sollte.
»Ein Junge.« Der Großvater hielt die Hände auseinander. »So winzig.«
Und erst Sekunden später wurde mir klar, dass er nicht von mir sprach.